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Kampf um Würde in der Arbeit. Rechtspopulismus als Ausdruck eines moralischen Unrechtsempfindens

  • Walther Müller-Jentsch
Veröffentlicht/Copyright: 16. August 2024
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Arbeit
Aus der Zeitschrift Arbeit Band 33 Heft 1-2

Reviewed Publication:

Schwuchow Torben: Kampf um Würde in der Arbeit. Rechtspopulismus als Ausdruck eines moralischen Unrechtsempfindens. Baden-Baden: Nomos 2023, 193 Seiten. ISBN: 978-3-7560-1392-0 € 44.


Mit der aus einer Promotion hervorgegangenen Arbeit hat Torben Schwuchow ein in der Arbeits- und Industriesoziologie lange vernachlässigtes Thema, die Würde (in) der Arbeit, aufgegriffen und es in einen Zusammenhang mit dem des aufkommenden (Rechts-)Populismus gestellt.

Der Autor eröffnet seine Arbeit mit einer kritischen Diskussion der Autoritarismus- und Kommunitarismusthese, die für die Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien herangezogen wurden.[1] Einerseits würden durch sie ökonomische Aspekte zu wenig beachtet, andererseits mangele es ihnen an „einem Verständnis politischer Klassenkonflikte, die sich in liberalen Demokratien an den uneingelösten Gleichheitsversprechen der Demokratie entzünden“ (38).

Innovativ, wenn auch theorielastig, entwickelt der Autor als Erklärungsmodell stattdessen das Konzept einer „produktionistischen Ethik“ der unteren Klassen, deren Verletzung sich als moralisches Unrechtsempfinden äußert. Aus aktuellen Untersuchungen über den US-amerikanischen Populismus und der Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung gewinnt Schwuchow die Erkenntnis, dass der Produktionismus sich sowohl aus kulturellen wie sozialen Motiven speist und sich einerseits gegen das Establishment, andererseits gegen leistungsunwillige und staatlich alimentierte Gruppen (Sozialhilfeempfänger, Migranten, Arbeitslose, „Lumpenproletariat“ usw.) richtet.

Schwuchow listet eine ganze Bandbreite von Bedrohungen der Würde in der Arbeit auf, aus denen sich das Unrechtsempfinden speist, und präzisiert seine Forschungshypothese daraufhin wie folgt: „[I]m Rechtspopulismus der AfD [kommt] das Unrechtsempfinden der arbeitenden Klassen zum Ausdruck […]. Entscheidend für dieses Unrechtsempfinden ist ein produktionistisches Ideal, welches sich vor allem durch moralische Betonung einer respekt- und würdevollen Arbeit zeigt“ (55 f.).

Neuere industriesoziologische Untersuchungen in deutschen Betrieben kommen zu ähnlichen Ergebnissen.[2] So diagnostizieren beispielsweise Dieter Sauer und Richard Detje eine „Zuspitzung arbeitsweltlicher Problemlagen“ als „Nährboden des Rechtspopulismus“:

„Sicherlich gehört zur Zuspitzung die fortgeschrittene Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, aber ebenso das, was in scheinbar gesicherten Stammbelegschaften als Anerkenungsverluste und Würdeverletzungen erfahren wird. […] Unsere Zuspitzungsthese thematisiert also nicht einfach Schlechterstellung in Richtung der Zonen der Prekarität. Es geht weit darüber hinaus um Erfahrungen der ‚Außerwertsetzung‘ von Arbeit in einer renditegesteuerten Unternehmenspolitik, die arbeitsbezogene Perspektivverluste generiert.“[3]

Im Anschluss an Ausführungen des israelischen Philosophen Avishai Margalit (Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung, Berlin 2012) unterscheidet Schwuchow drei Formen institutioneller Demütigungen:

1 Ausschluss aus der Menschengemeinschaft,

2 Behandlung als Bürger zweiter Klasse,

3 Kontrollverlust.

Er überträgt diese auf die Arbeitswelt: „Arbeit [gewährleistet] die Selbstachtung des Menschen, wenn sie nicht demütigend ist.“ Dies bedeutet …

„erstens, dass in der Arbeit die Behandlung als Mensch (und nicht etwa als Instrument oder Gegenstand) sichergestellt sein muss, etwa indem die individuellen Kompetenzen und Eigenschaften der Person gesehen und anerkannt werden. Zweitens, dass es keine ZweiKlassen-Gesellschaft bei den Beschäftigten […] geben darf, d.h. ein Mindestmaß an Mitbestimmung und Gleichbehandlung gewährleistet sein muss. Drittens, dass die Arbeit die Kontrolle über das eigene Leben nicht gefährden darf. Dies lässt sich etwa auf die Regulierung der Arbeitszeit, die Lohnhöhe, die Arbeitsplatzsicherung oder die (Angst vor) Arbeitslosigkeit übertragen“ (103).

Der arbeitsethnografischen Publikation des amerikanischen Soziologen Randy Hodson (Dignity at Work, New York 2001) entnimmt der Autor vier Strategien, um sich gegen diese Demütigungsformen zur Wehr zu setzen: „Widerstand, Produktionsstolz und berufliche Würde, Etablierung eines eigenen, unabhängigen Kontrollsystems, Solidarität“ (106 ff.).

Die Durchführung der methodisch anspruchsvollen empirischen Untersuchung (telefonische Befragung, Cluster-Analyse, logistische Regressionsanalyse) erfolgt in zwei Teilen. Zum ersten wird anhand der entwickelten Konzepte geprüft, ob „niedrig Qualifizierte in low- und (semi-)skilled Tätigkeiten tatsächlich stärker von institutionellen Demütigungen betroffen sind und sich dagegen zur Wehr setzen“ (111). Zum zweiten wird geprüft, „ob die um Würde in der Arbeit kämpfenden Beschäftigten eine höhere Wahrscheinlichkeit zeigen, rechtspopulistisch zu wählen“ (ebd.). Die Konzepte werden mit einfachen Aussagesätzen, sog. „Items“ (z.B. „Mein Arbeitsplatz ist sicher.“ – „Ich identifiziere mich mit meiner Tätigkeit.“) operationalisiert (114 f.).

Das Fazit lautet, dass der Kampf um Würde in der Arbeit „ein Ringen um den Erhalt des kulturellen und wirtschaftlichen Status“ darstellt und dass das Wählen der AfD „sowohl als eine Verteidigungsstrategie nach unten/außen als auch als eine Widerstandsstrategie nach oben gedeutet werden [kann]“ (164).

Die ambitionierte Arbeit, deren Lektüre hohe Konzentration erfordert, ergänzt auf innovative Weise die bisherigen Forschungen über die Gründe für AfD-Wahlentscheidungen.

Published Online: 2024-08-16
Published in Print: 2024-06-25

© 2024 Walther Müller-Jentsch, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 19.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/arbeit-2024-0006/html
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