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Entkoppelte Arbeitswelten. Betriebliche Arbeitsorganisationen und neue Intermediäre im Strukturwandel postindustrieller und virtueller Arbeitsgesellschaften

  • Sabine Pfeiffer
Published/Copyright: August 16, 2024
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Krause Ina: Entkoppelte Arbeitswelten. Betriebliche Arbeitsorganisationen und neue Intermediäre im Strukturwandel postindustrieller und virtueller Arbeitsgesellschaften. Bielefeld: transcript 2023, (Open Access) 333 Seiten. ISBN: 978-3-8376-5942-9, https://doi.org/10.14361/9783839459423 € 39.


Es geht der Autorin um den „Strukturwandel von Arbeitstätigkeiten, Arbeitsorganisations- und Beschäftigungssystemen sowie des deutschen Institutionensystems, das die Ausgestaltung von Erwerbsarbeits- und Beschäftigungsarrangements im deutschen Kontext rahmt“ (11), und dies mit einem dezidiert längerfristigen Blick: Weder die Pandemie noch die Digitalisierung reichten als Ursachenerklärung struktureller Wandlungsdynamiken (12). Ausgangsbezug wie Gegenstand der Betrachtung ist die in ihren „Grundfesten industriell geprägte[.] deutsche[.] Arbeitsgesellschaft“ und das für sie charakteristische Beschäftigungsmodell (12). Erklärtes Ziel des Buches ist eine „detaillierte[.] Untersuchung der Dynamiken des Strukturwandels von Arbeits- und Beschäftigungssystemen in Deutschland“ (12), dabei spannt sich der zeitliche Bogen der Betrachtung von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart.

Das – inklusive Literaturverzeichnis – mit 330 Seiten im wahrsten Sinne des Wortes gewichtige Buch gliedert sich nach einer rund zwanzigseitigen Einführung in drei Teile und schließt mit einer Schlussbetrachtung. Der erste Teil (21– 86) der Studie ist überschrieben mit dem Titel Dynamiken des gesellschaftlichen Wandels: Flexibilisierung, Digitalisierung und Virtualisierung und startet die Analyse auf der Makroebene beginnend in den 1970er Jahren.

Konzeptionell widmet sich die Autorin in diesem Teil den Analysen von Daniel Bell, Michael J. Piore und Charles F. Sabel, um von dieser Basis ausgehend ein eigenes Phasenmodell der Veränderungen auf der Makroebene des deutschen Wirtschafts-, Produktions- und Gesellschaftssystems im Zeitraum der 1970er bis 2020er Jahre zu entwickeln. Leitende Begriffe der Analyse sind Flexibilisierung (mit dem Normalarbeitsverhältnis als Referenzrahmen), Digitalisierung und Virtualisierung einerseits (23–36), Innovationsschübe und Globalisierung andererseits (37–80).

Eine die vorangegangene historische Beschreibung und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzepten zusammenfassende Verdichtung findet sich in einer höchst informativen und sinnvoll diesen jahrzehntelangen Zeitraum und die verschiedenen Dimensionen der Betrachtung abbildenden Tabelle (81–82). Gegenübergestellt werden die drei Perioden einer industriellen, einer informatisierten und einer virtuellen Moderne entlang der zwei Dimensionen „Wandel des Produktionsmodells“ und „Wandel des Unternehmens- und Arbeitsorganisationsmodells“ mit jeweils zwei Unterdimensionen.

Zwar bezieht sich die Autorin im Kern und explizit auf die deutsche Arbeitsgesellschaft, sie geht jedoch davon aus, dass die Aussagen im Wesentlichen auch Geltung haben für „andere industrialisierte Länder der westlich-marktwirtschaftlich-demokratisch geprägten Sp[hä]re“ (12).

Der Analyse der Makroebene im ersten Teil folgt ein Blick auf die Veränderungsdynamiken auf der Mesoebene im zweiten Teil (87–218). Unter der Überschrift Strukturwandel von Arbeit und Beschäftigung: Organisationale und zeitlichräumliche Entkopplung konstruiert die Autorin ein „Referenzmodell[.] der industriell geprägten betriebszentrierten Organisation von Arbeit und Beschäftigung“ (12); die theoretischen Ausgangspunkte sind dabei u.a. Anthony Giddens, Paul DiMaggio und Walter Powell, David F. Marsden oder Ulrich Dolata. Im Zentrum der Betrachtung stehen in diesem Teil die Veränderungen der Organisationsstrukturen im Sinne der betrieblichen Arbeitsorganisations- und Beschäftigungssysteme. Einen besonders inspirierenden Beitrag zur aktuellen Debatte um die digitale Transformation stellt dabei Kapitel 7 (173–218) dar, das die „Rekombinationskraft von Vernetzungstechnologien“ seit 2007 (173–193) in den Mittelpunkt stellt und damit eine so eigenständige wie anschlussfähige Deutung der jüngeren Digitalisierungsschübe leistet.

Wie im ersten Teil mündet die ausführliche Darstellung am Ende des zweiten Teils in eine zusammenfassende Tabelle (208–209). Die Perioden der industriellen, informatisierten und virtuellen Moderne bilden wie in der Tabelle aus Teil 1 die eine Achse, organisationaler Wandel einerseits und Wandel des betrieblichen Arbeitsorganisations- und Beschäftigungssystems mit jeweils zwei bzw. sieben Unterkategorien die andere.

Insbesondere die textlich luzide entwickelten und nachvollziehbar verdichteten Tabellen, die Teil 1 (81–82) und Teil 2 (208–209) abschließen, bilden ein insgesamt tragfähiges Gerüst zum Verständnis der Wandlungsdynamiken von und in Unternehmen der letzten Jahrzehnte. Zwar ließe sich einwenden, dass viele der beschriebenen Entwicklungen schon immer Gegenstand periodisierender Betrachtungen in der Arbeits- und/oder Organisations- bzw. Techniksoziologie waren und sind. Das mag auch stimmen. Die Autorin aber arbeitet sich erstens an den zentralen Konzepten dieser und angrenzender Disziplinen ab und es gelingt ihr zweitens eine tabellarische Verdichtung über disziplinäre Pfadabhängigkeiten hinweg. Dass sie zudem den langen zeitlichen Blick mit dem viel zu selten geübten Brückenschlag zwischen Makro- und Mesoebene verbindet, ist ebenso hervorzuheben. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, davon auszugehen, dass sich die nächsten Generationen der genannten Disziplinen an dieser – wie ich die „Referenzmodelle“ der Autorin nennen würde – Heuristik abarbeiten dürften. Dabei werden Missverständnisse nicht ausbleiben, wählt die Autorin doch manchmal Begrifflichkeiten, die üblicherweise anders zugeordnet werden: So mag es auf den ersten Blick verwundern, dass sich die Themen Leitbilder, Intermediäre und Beschäftigungssystem in Tabelle 2 und damit auf der Mesoebene finden, die Arbeitsorganisation hingegen in Tabelle 1 und damit auf der Makroebene. Die Autorin allerdings (er)klärt all das; einführend zum Buch und den zentralen Begrifflichkeiten (15 ff.) sowie ausführlich in den Teilen 1 und 2. Um also mit beiden Tabellen inhaltlich korrekt umzugehen, ist ein vertieftes Lesen statt eines nur oberflächlichen Querlesens mehr als anzuraten. Und es lohnt sich! Denn durchgängig überzeugt die Lektüre mit Klarheit der Argumentation und Fundierung der konzeptionellen wie empirischen Ausführungen. Merken muss man sich mindestens, wie die Autorin zwischen den Begriffen des betrieblichen Arbeitsorganisationssystems (innerbetriebliche Organisation von Wertschöpfungs-, Distributionsprozessen und damit verbunden von Arbeitsaufgaben,-plätzen, -instrumenten und -prozessen) und des Beschäftigungssystems differenziert (inner- und überbetriebliche Organisation von Vertragsverhältnissen mit Arbeitskräften und mit arbeitsvermittelnden Institutionen sowie die Nutzung anderer Beschäftigungsformen) (15).

Teil 3 (219–292) illustriert die konzeptionellen Teile 1 und 2 mit empirischen Beobachtungen aus der Phase, die bei Krause die virtuelle Arbeitsgesellschaft darstellt. Die beiden Fallstudien skizzieren zentrale Facetten der Reorganisation von Arbeit und Beschäftigung am Beispiel von Coworking Spaces und Coworker/innen als vermeintliche „Workforce“ der virtuellen Arbeitsgesellschaft (223 ff.) einerseits und der Entkopplung von Zeit und Ort in der Distanzarbeit am Beispiel von Verwaltungsarbeit in der Pandemie (259 ff.) andererseits. Die empirische Grundlage der explorativen Coworking-Studie sind 18 inhaltsanalytisch ausgewertete Interview mit Betreibenden (225 ff.), Basis der Studie der Verwaltungsarbeit sind 20 problemzentrierte Interviews mit Beschäftigten einer kommunalen Verwaltungseinheit (262 ff.).

Auch wenn kritisch gefragt werden könnte, ob möglicherweise abschließende Thesen wie die einer „zunehmend realisierbare[n] zeitlich-räumliche[n] Flexibilität“ (293) sowie der „Entkopplung vertrauter Strukturen und der neuen Rolle von Intermediären“ (299 ff.) etwas zu stark von der Pandemiesituation und den ausgewählten empirischen Beispielen geprägt sind: Beide Empiriekapitel sind auch für sich hochspannend zu lesende, methodisch überzeugende und auch für sich stehende qualitative Einblicke in ohne Frage stark veränderte und verändernde Facetten der Arbeitswelt. Sie sind vielleicht nicht eins zu eins die Empirie, mit der sich die Bewegungsdynamiken beider Tabellen in Teil 1 und Teil 2 zur Beschreibung der virtuellen Moderne (oder wenigstens der virtuellen Arbeitsgesellschaft) komplett füllen ließen. Das aber ist keine substanzielle Kritik am Buch oder am Stellenwert der in Teil 3 vorgelegten Empirie: Sie illustriert exemplarisch und in diesem Sinne mehr als überzeugend, was in den Teilen vorher konzeptionell angelegt und entwickelt wurde. Mehr kann die vorgelegte Arbeit allein auch nicht leisten. Die beiden von der Autorin vorgelegten Referenzmodelle bzw. Heuristiken aber legen einen Grundstein für weitere Empirie zur virtuellen Arbeitswelt, die Auftrag ist und sein wird für viele andere, das vorgelegte Gerüst der Beschreibung empirisch weiter auszumalen.

Die Schlussbetrachtung (293–304) des dieses Buch auszeichnenden und weit gespannten historisch-konzeptionellen Bogens aus Teil 1 und 2 und den empirischen Beispielen aus Teil 3 konzentriert sich ganz auf die aktuelle und in der Lesart der Studie virtuelle Arbeitsgesellschaft. Zunächst erfolgt eine längere und resümierende Einordnung der Ergebnisse der empirischen Studien (die sich logisch besser ans Ende des dritten Teils geschmiegt hätte). Die abschließenden Thesen zur „Entkopplung vertrauter Strukturen und der neuen Rolle von Intermediären“ (299 ff.) und zu einer „sozial nachhaltigen Gestaltung des auf Dauer gestellten Strukturwandels“ (302 ff.) bilden einen würdigen und über die Betrachtung des Buches hinausweisenden Abschluss.

Alles in allem: Die von Ina Krause vorgelegte Studie ist mehr als lesenswert – sie wagt sich an zeitdiagnostische Beschreibungen, ohne großen wie groben Thesen zu verfallen. Sie geht in die Tiefe, sie wägt ernsthaft ab, sie diskutiert detailliert und vollzieht damit selbst, was sie so treffend beschreibt: Bei ihr bleiben Konzept und Empirie, These und Beleg verkoppelt; sie füllt ihren virtuellen Gegenstand handfest, valide und nachvollziehbar. Sie widersteht der Versuchung, den Begriff des Virtuellen zur alles erklärenden Metapher zu machen. Sie leistet damit, wenn man so will, sehr erstmodern geprägtes wissenschaftliches Handwerk im allerbesten Sinne. Und löst die eingangs genannte Motivation ihrer Studie mehr als ein: „[…] ein genaues Verständnis der historischen und zeitgenössischen Wandlungsprozesse zu entwickeln“ und damit u.a. einen Beitrag zu der Debatte „um neue sozial nachhaltige Gestaltungskonzepte von Arbeit und Beschäftigung“ (13) zu leisten.

Published Online: 2024-08-16
Published in Print: 2024-06-25

© 2024 Sabine Pfeiffer, publiziert von De Gruyter

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Downloaded on 18.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/arbeit-2024-0005/html
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