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Michael Röhrig / Thomas Kron / Yvonne Nehl / Felix Naglik (Hrsg.), Individualisierung und Schule. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022, 204 S., kt., 26,00 €

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Published/Copyright: October 20, 2023
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Rezensierte Publikation:

Michael Röhrig / Thomas Kron / Yvonne Nehl / Felix Naglik (Hrsg.), Individualisierung und Schule. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2022, 204 S., kt., 26,00 €


Nachdem es in der Soziologie um den Begriff der Individualisierung ruhiger geworden ist, ist er unterdessen zu einem wichtigen Schlagwort der Bildungspolitik und der Schulentwicklung geworden. Vor dem Hintergrund einer zunehmend heterogenen Schüler:innenschaft und weiterhin bestehender Bildungsungleichheiten meint man in der Individualisierung von Bildungsangeboten eine gangbare Lösung gefunden zu haben. Nach der lange vorherrschenden „Homogenitätsfiktion“ (Breidenstein/Rademacher, 2017, S. 2) eines Schul- und Unterrichtssystems, das auf die Beschulung und Unterrichtung großer altershomogener Kollektive in Jahrgangsklassen im Modus des lehrerzentrierten „Frontalunterrichts“ setzte, gilt es nun, für einzelne Schüler:innen zugeschnittene Inhalte, Formate und Aufgaben zusammenzustellen, die diese zu ihrem individuellen Lernziel führen sollen.

Der hier rezensierte Band widmet sich diesem Thema und betrachtet es aus zwei Blickwinkeln: einerseits aus einer sozialwissenschaftlich kontextualisierenden Perspektive, andererseits aus Sicht der Bildungspraxis, vornehmlich der Lehrer:innenbildung. Diese parallele Perspektivierung des Themas spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Herausgeber:innen: Drei von ihnen (Felix Naglik, Yvonne Nehl, Michael Röhrig) sind am Studienseminar in Marburg in der Lehrer:innenbildung tätig, einzig Thomas Kron ist Soziologe. In einem vorangestellten Begleitwort skizzieren sie die Ausgangslage des Bandes vor dem Hintergrund der hessischen Lehrkräfteausbildung, bei der Individualisierung in der schulischen Bildung verpflichtender Bestandteil ist. Im Rahmen eines darauf aufbauenden Projekts konnte das Marburger Studienseminar eine Tagung zum Begriff der Individualisierung aus verschiedenen Perspektiven durchführen. Die Autor:innen des Bandes setzen sich aus den Referent:innen sowie aus weiteren ausgewählten Personen zusammen.

In einem ersten Teil („Individualisierung der Schule und die gesellschaftlichen und schulorganisatorischen Einflussfaktoren“) ordnen vier Beiträge das Thema Individualisierung gesellschaftlich bzw. organisatorisch ein. Den Anfang macht Thomas Kron mit einer soziologischen Verortung des Individualisierungsbegriffs. Kron zeichnet drei unterschiedliche historische Phasen der Individualisierung nach. Nach Phasen der „westlichen“ (S. 20–21) sowie der „globalen Individualisierung“ (S. 21–24), befinden wir uns derzeit in einer Phase der „neoliberalen Individualisierung“ (S. 24–29), bei der Individuen sich an Wettbewerbsstrukturen orientieren und beständig selbstoptimieren. Dementsprechend meint Individualisierung in der Bildung heute vor allem eine „Neoliberalisierung der Schule“ (S. 30), bei der die „individuelle Anerkennung von Leistung“ (S. 33; H.i.O.) im Vordergrund steht, nicht aber die „Wertschätzung einer Person im Sinne von Bildung“ (S. 33). Kron plädiert dementsprechend für ein Verständnis von Individualisierung, dass eine solche „Kultur der Wertschätzung“ (S. 37) verwirklicht. Mit Krons Beitrag gerät so in den Blick, dass Individualisierung auch deshalb bildungspolitisch so beliebt ist, weil der Begriff genau dies verspricht, oft aber in der Verkürzung von Bildung auf Leistung endet. Die Schwierigkeiten, bildungspolitische Rufe nach mehr Individualisierung umzusetzen, zeigt Thomas Brüsemeister in seinem Beitrag auf. Es fehlt der Schulaufsicht einerseits schlicht an Möglichkeiten, um die Umsetzung von Vorgaben zu überprüfen, andererseits konzentriert sich Bildungspolitik darauf, „dass überhaupt Unterricht durchgeführt wird“ (S. 51; H.i.O.). Damit hat auch Schulentwicklung die Klasse als Aggregat im Blick, nicht aber einzelne Schüler:innen. So sind auch Lehrkräfte „nicht am individuellen Wohlergehen des einzelnen Lernenden ausgerichtet, sondern an der Durchführbarkeit von Unterricht in einem Kollektivgeschehen“ (S. 48). Insgesamt sieht Brüsemeister trotz aller „progressiven Fähigkeitsunterstellungen“ (S. 52) also einen Strukturkonservatismus am Werk, der „den Einzelnen wenig zutraut“ (S. 52). Damit Schule und Unterricht sich auf einzelne Schüler:innen einlassen können, braucht es Freiräume, die dann lokal genutzt werden können. Lisa Gromala macht sich ebenfalls dafür stark, den Individualisierungsdiskurs in der schulischen Bildung sozialwissenschaftlich zu hinterfragen. Individualisierung bedeutet mit Ulrich Beck eben auch die Zurechnung von Scheitern und Misserfolg auf Individuen, womit in der schulischen Bildung bisweilen soziale Ungleichheiten aus dem Blick geraten können. Um mit diesem Spannungsverhältnis umgehen zu können, muss man Schule auf der Mesoebene als Organisation begreifen, die sich auf Schüler:innen als soziale Gruppe einstellt und beispielsweise ihr Herkunftsmilieu berücksichtigt. Gefragt ist in diesem Sinne also weniger eine Orientierung an Individuen, sondern an der sozialen Zusammensetzung von Schüler:innen.

Bei der Forderung nach individualisierten Bildungsangeboten kommt Lernmaterialien eine besondere Bedeutung zu. Sie sollen es Lernenden erlauben, selbsttätig zu arbeiten und sich mit auf sie zugeschnittenen Inhalten auseinanderzusetzen. Heike Deckert-Peaceman und Gerold Scholz analysieren deshalb eine Lernapp, die im Distanzunterricht zum Einsatz kommt. Sie arbeiten heraus, dass derartige Materialien und Tools Individualisierung vornehmlich als Vereinzelung fassen. Schüler:innen folgen vorgegebenen Lernpfaden und sind nur bedingt selbstbestimmt und selbsttätig am Lernen beteiligt.

Im zweiten Teil („Individualisierung in der unterrichtlichen Praxis“) finden sich Beiträge, die anhand von Praxisbeispielen aufzeigen, wie Schulen Individualisierung konkret umsetzen. Die Autor:innen dieses Teils stammen aus der Schulpraxis und sind in der Lehrer:innenbildung tätig. Dementsprechend praxisnah sind die Beiträge, die sich vornehmlich an ein ebensolches Publikum richten. Bezeichnend ist, dass Individualisierung oft im Zusammenhang mit der Heterogenität der Lernenden genannt wird, insbesondere wenn es um inklusive Bildungsangebote geht (Mahnke; Makowski). Gleichwohl benennen die Autor:innen dieser Beiträge auch die Schwierigkeiten der schulischen Individualisierung: Den Lehrer:innen mangelt es oftmals an Zeit bei der Umsetzung und schwächere Schüler:innen scheinen weniger von individualisierten Formaten zu profitieren (Schütz & Möller); ferner besteht die Gefahr der Vereinzelung, weswegen Lernen weiterhin in einem Sozialverbund eingebettet stattfinden müsse (Makowski); und auch stark individualisierte und selbsttätige Formen des Lernen sind in strukturierte Phasen des klassischen Schulunterrichts eingebettet (Wüller).

Auch der dritte Teil des Bandes („Individualisierung der Schule und Konsequenzen für die Lehrkräfteausbildung“) bleibt praxisnah. Die dort versammelten Beiträge fragen nach den Konsequenzen für die Ausbildung von Lehrkräften. Auch deren Ausbildung soll individualisiert erfolgen. Einerseits rekrutieren sie sich aus zunehmend heterogenen Bevölkerungsgruppen, andererseits sollen sie so lernen, wie sie lehren sollen (Kunze; Nehl et al.). Lehrer:innen müssen in Zeiten individualisierter Bildungsangebote über Beratungs- und Kooperationskompetenz verfügen, da sie zunehmend zur Lernbegleitung werden (Nehl et al.). Insgesamt steht die Stärkung der pädagogischen Professionalität bei der Lehrkräftebildung im Vordergrund. Sie zielt auf „professionell handelnde unverwechselbare Lehrerpersönlichkeiten“ (Kunze, S. 155). Auch in diesem Teil zeigen sich Brüche zwischen Anspruch und Realität schulischer Individualisierung. So sind etwa die im Vorbereitungsdienst üblichen Prüfungslehrproben kaum geeignet, eine entsprechend individualisierte Unterrichtspraxis durchzusetzen, wie Andrea Gergen in ihrer qualitativ-rekonstruktiven Interviewstudie mit Mentor:innen im Vorbereitungsdienst zeigt. Die angehenden Lehrkräfte müssen letztlich ihre Schüler:innen auf standardisierte Abschlussprüfungen vorbereiten, die dem Ideal einer individualisierten Bildung zuwiderlaufen. Ähnlich sieht Ingrid Kunze in ihrem Beitrag zur professionellen Entwicklung von Lehrkräften ein ganz grundsätzliches Spannungsverhältnis von Standardisierung und Individualisierung am Werk.

In einer abschließenden „Nachbetrachtung“ halten die Herausgeber:innen Rückschau und klären das Verhältnis von sozialwissenschaftlichen und praxisnahen Beiträgen. Der Soziologie ist hier die Rolle angedacht, der „praxisorientierte[n] Schulentwicklung“ (S. 197) ein kritisch-distanziertes Korrektiv (im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung) zur Seite zu stellen. Was der Band aus Sicht von Kron, Naglik, Nehl und Röhrig nicht zu leisten vermag und Aufgabe für die Zukunft bleibt, ist eine „Kontrolle der Rückwirkung der Theorie (Beobachtung zweiter Ordnung) auf die Praxis (Beobachtung erster Ordnung)“ (S. 200).

Insgesamt stehen sich soziologische Kontextualisierung und Beschreibungen der konkreten Umsetzung in der Bildungspraxis tatsächlich relativ unverbunden gegenüber. Für die bildungssoziologisch interessierte Leser:in ist vornehmlich der erste Teil relevant, für Leser:innen aus Bildungspraxis und Lehrer:innenbildung hingegen die Teile zwei und drei. Eine stärkere Verbindung hätte beispielsweise über weitere Beiträge aus der qualitativen Schul- und Unterrichtsforschung erfolgen können. Dort nimmt man die Auswirkungen eines individualisierten Bildungsprogramms auf die schulische Unterrichtspraxis mit all seinen Brüchen und Widersprüchlichkeiten sozialwissenschaftlich-empirisch genau in den Blick (Ricken et al., 2016; sowie Breidenstein & Rademacher, 2017, hieraus zitiert Kron in seinem Beitrag sogar ausführlich). Im Band selbst erfolgt dies nur vereinzelt, etwa bei den Beiträgen von Gromala und Gergen. Etwas zu kurz kommt im Band auch die Wechselwirkung zwischen Individualisierung und Digitalisierung. Lediglich der Beitrag von Deckert-Peaceman & Scholz analysiert eingehend, wie digitale Medien auch unter dem Vorzeichen einer geforderten Individualisierung entwickelt und angeschafft werden.

Diese Kritik am Band in seiner Gesamtstruktur spricht aber keinesfalls gegen die Güte einzelner Beiträge. Insbesondere die Beiträge des ersten Teils sind gewinnbringende Lektüre für bildungssoziologisch interessierte Leser:innen. Sie zeigen differenziert auf, wie Anspruch und Realität bildungspolitischer Forderungen in Widerspruch zueinander geraten können. Der Band als Ganzes ist vor allem Fachleuten aus Bildungspraxis und -politik sowie Dozierenden in der Lehrer:innenbildung zu empfehlen. Sie erhalten dort Anregungen zur klugen Umsetzung einer bildungspolitischen Forderung nach Individualisierung und erfahren etwas zu möglichen Fallstricken und Kehrseiten. Für das soziologische Publikum bietet der Band vor allem im ersten Teil wertvolle Anregungen, die anderen Beiträge sind zum großen Teil eher empirisches Anschauungsmaterial ­– aber auch dies kann ja seinen Wert haben.

Literatur

Breidenstein, G., & Rademacher, S. (2017). Individualisierung und Kontrolle: Empirische Studien zum geöffneten Unterricht in der Grundschule. Springer. 10.1007/978-3-658-13805-9Search in Google Scholar

Ricken, N., Thompson, C. & Casale, R. (Hrsg.), Die Sozialität der Individualisierung. Brill Schöningh.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-10-20
Erschienen im Druck: 2023-10-31

© 2023 Tobias Röhl, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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