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Das wissenschaftliche Unternehmen

Zur chemisch-pharmazeutischen Forschung bei E. Merck, Darmstadt, ca. 1900 bis 1930
  • Michael C. Schneider EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 4. September 2017

Abstract:

The scientific enterprise. Chemical-pharmaceutical research at E. Merck, Darmstadt, ca. 1900 to 1930

This article deals with the development of academic research within the pharmaceutical firm E. Merck, Darmstadt, between 1900 and 1930. One main purpose is to clarify to what extent the widespread notion is justified that external research gave way for internal research in order to maintain a leading position in innovativeness. Therefore the article analyses the way of co-operation between Merck and Richard Willstätter in the case of cocaine-synthesis around 1900, and the co-operation with Adolf Windaus with regard to vitamin D during the 1920s. The article concludes that internal research was indeed intensified during the interwar period, on the one hand. But this development is, on the other hand, better understood as a necessary precondition if the firm wanted prospectively be able to participate at novel developments in vitamin chemistry. The co-operation between the chemical laboratory of the university of Goettingen, the Merck research laboratory, and the pharmaceutical laboratory of I.G. Farbenindustrie AG are more aptly interpreted as an interconnected research network in which each part contributed original insights and, occasionally, breakthroughs.

1. Einleitung

Der langjährige Leiter des wissenschaftlichen Hauptlaboratoriums des chemisch-pharmazeutischen Unternehmens E. Merck in Darmstadt, Otto Zima, zeichnete 1958, am Ende seiner beruflichen Laufbahn, ein bestürzendes Bild von der Leistungsfähigkeit der Forschungsorganisation des Darmstädter Pharma-Herstellers insbesondere in der Zwischenkriegszeit.[1] In dieser von später Verbitterung durchzogenen beruflichen Bilanz identifizierte Zima verschiedene Defizite der Forschung bei Merck auf verschiedenen Ebenen und zu unterschiedlichen Phasen seiner Tätigkeit: Bei seinem Eintritt in das Unternehmen im Jahr 1920 habe es so etwas wie «Forschung im heutigen Sinne» nicht gegeben. Im Wesentlichen seien die fünf Chemiker des «Wissenschaftliche[n] Versuchslabor[s]» mit der Arbeit an «Literaturpräparaten» oder der «Verbesserung von Betriebsverfahren» beschäftigt gewesen.[2] Nur ein einziger dieser Chemiker habe überhaupt an Neuentwicklungen gearbeitet, zu denen die Anregungen allerdings von auswärtigen Kooperationspartnern kamen. Wirtschaftliche Relevanz maß Zima dessen Arbeiten indes nicht bei, denn diese externen Vorschläge – beispielsweise von den Universitätsprofessoren Richard Wolffenstein,[3] Richard Willstätter[4] oder Johannes Gadamer[5] – führten bei Merck nicht zu Ergebnissen, die für das Unternehmensinteresse relevant gewesen wären.[6] Die einzige Ausnahme war Zima zufolge die Zusammenarbeit mit dem Nobelpreisträger Adolf Windaus:[7] Von dieser Kooperation auf dem Gebiet der Vitaminforschung profitierte Merck in der Tat erheblich, nachdem sich das Vitamin D, gemeinsam mit Bayer vermarktet unter «Vigantol», als erfolgreiches Medikament erwies.[8]

Mit dieser Kritik an der Kooperation zwischen E. Merck und auswärtigen Hochschullehrern stellte Zima ein in der chemischen und der chemisch-pharmazeutischen Industrie lange Zeit erfolgreiches Modell der Produktion und Nutzung wissenschaftlichen Wissens grundsätzlich in Frage. Auf der Grundlage dieses Modells waren nicht nur E. Merck vor 1914 wichtige Geschäftserfolge gelungen,[9] sondern auch den konkurrierenden Farbenherstellern Hoechst[10] und Casella.[11] Bei der pharmazeutischen Abteilung der Farbenfabriken Bayer hingegen war die Zahl der externen Erfindungen schon zur Jahrhundertwende hin deutlich zurückgegangen.[12] Bei Hoechst waren nach 1918 Probleme mit auswärtigen Kooperationspartnern immer deutlicher geworden, die Wimmer auf die mangelnde Lösbarkeit von Konflikten innerhalb der akademischen «Wertsphäre» (etwa reputationsbezogene Streitigkeiten) durch ökonomische Kategorien zurückführt.[13] Jeffrey Johnson schließt sich dieser Bewertung an; zudem habe sich nach Gründung der I.G. Farbenindustrie AG 1925 die Forschungsorganisation des aus den Farbenfabriken Bayer stammenden Unternehmensteils nochmals verstärkt, der eher auf Forschungskompetenz innerhalb des Unternehmens setzte und die Kooperation mit auswärtigen Partnern reduzierte.[14] Den Grund für diese und andere pharmazeutische Firmen – darunter nicht zuletzt E. Merck – eine ähnliche Strategie zu verfolgen, sieht Johnson in der zunehmenden Komplexität der biochemischen Forschung, die eine Verlagerung der Forschung in das jeweils eigene Unternehmen daher nachgerade erzwang.[15]

Demgegenüber wecken die in der Zwischenkriegszeit fortgeführten intensiven Kooperationsbeziehungen zu Chemikern wie Adolf Windaus Zweifel an der These, wonach das Modell der externen Forschungsimpulse an seine Grenzen gestoßen war und die Forschungserfolge der Zwischenkriegszeit tatsächlich vorwiegend auf einen Ausbau der unternehmensinternen Forschungsabteilungen zurückzuführen waren. Ob man tatsächlich von einem grundlegenden Wandel der Strategie zur Innovationserzeugung in der Zwischenkriegszeit sprechen kann, ist daher m. E. eine noch offene Frage.[16] Um diese Frage zu beantworten, muss der Charakter der unternehmensinternen Forschung und ihr Verhältnis zu Impulsen von außen von der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bis in die Zwischenkriegszeit genauer als bisher untersucht werden.[17] Dazu ist es auch unabdingbar, den Charakter der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb des Unternehmens und seines wissenschaftlichen Laboratoriums zu erfassen; jedenfalls soweit dies in einem unternehmenshistorischen Kontext möglich und vertretbar ist. Denn möglicherweise war der Ausbau der unternehmensinternen Forschungskapazitäten auch nur eine von mehreren Voraussetzungen dafür, dass die Qualität der Forschung insgesamt wuchs; die gestärkte unternehmensinterne Forschung wäre demnach eher als ein unentbehrlicher Teil eines institutionen- und personenübergreifenden Netzwerkes chemisch-pharmazeutischer Forschung zu verstehen, als dass die Dichotomie zwischen unternehmensinterner und unternehmensexterner Forschung zu sehr betont werden sollte.[18]

Diese Frage nach dem Charakter der wissenschaftlichen Forschung in einem Unternehmen berührt grundsätzliche Aspekte des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Ökonomie, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten für eine Reihe von Unternehmen und unter verschiedenen Blickwinkeln untersucht worden sind.[19] Wissenschaftliche Forschung auf der einen Seite und die ökonomische Verwertung ihrer Ergebnisse auf der anderen Seite sind spätestens seit der Industrialisierung[20] in spannungsvoller Weise aufeinander bezogen. Dies gilt auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, wenn die politische Sphäre von den von ihr unterhaltenen wissenschaftlichen Institutionen Nützlichkeit im ökonomischen Sinne erwartet,[21] und dies gilt ebenso auf der Ebene des wissenschaftlichen Forschungslaboratoriums in einem wissensbasierten Unternehmen.[22] Intensiviert hatte sich diese Wechselbeziehung von Wissenschaft und Ökonomie vollends und unstrittig spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und hier besonders deutlich in der elektrotechnischen Industrie[23] sowie in der Teerfarbenindustrie, die zunehmend auf die Chemie als akademische Wissenschaft zurückgriff.[24] Der spezifische Erfolg eines Unternehmens wie der Farbenfabriken Bayer AG beruhte zentral darauf, den kreativen Prozess der wissenschaftsbasierten Erfindungstätigkeit zu rationalisieren, ihn seinerseits zu «industrialisieren» und damit in kalkulierbare Bahnen zu lenken.[25] Die so gewonnenen wissenschaftlichen und für das Unternehmen nützlichen Erkenntnisse wurden oft durch das Patentrecht abgesichert[26] und nach Möglichkeit in Innovationen überführt.[27] Während der Zusammenhang von unternehmenseigener «Forschung und Entwicklung», Patentierung und Innovationserzeugung schon mehrfach untersucht wurde – zuletzt für das Deutsche Kaiserreich auf der Grundlage einer umfassenden Patentdatenbank –,[28] verfolgt dieser Aufsatz einer der Patentierung von Erfindungen vorgelagerte Frage: Um den Charakter des Innovationsregimes[29] bei Merck besser zu verstehen, will der Beitrag klären, wie die wissenschaftliche Forschung in einem Unternehmenslaboratorium wie jenem von Merck funktionierte, insbesondere mit Blick auf die von Zima so kritisch bewerteten externen Kooperationspartner.[30] Die Frage, welche der Forschungsanstrengungen dann in Patentgesuche und Patenterteilungen mündeten, wird für diesen Beitrag nicht systematisch verfolgt, da es hier primär darauf ankommt, die Forschungsanstrengungen selbst aufzufinden und einzuordnen, darunter auch solche, die nicht zu Patentierungen führten, gleichwohl aber von der Forschungsleitung bzw. der Unternehmensleitung als relevant eingeschätzt wurden.[31] Um angesichts der Vielzahl der Forschungsgebiete nicht ganz willkürlich eines herauszugreifen, habe ich mit der Cocainforschung und der damit verbundenen Zusammenarbeit mit Richard Willstätter eines gewählt, das in den Augen Zimas für den Misserfolg des Merckschen Innovationsregimes stand, und mit der Vitamin-D-Forschung der späten 20er und frühen 30er Jahre eines, das – ebenfalls laut Zima – aufgrund der Zusammenarbeit mit Adolf Windaus erfolgreich war.[32]

In welchem Verhältnis stand – so ist für diese Beispiele zu fragen – jeweils das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse im Unternehmenslabor (ohne das auch ökonomisch sinnvolle Forschung nicht denkbar ist) zum ökonomischen Verwertungsinteresse? Bildete sich bei Merck so etwas wie eine Vorstellung von der Linearität wissenschaftlicher Forschung heraus, die von der Grundlagenforschung über die anwendungsbezogene Forschung hin zum innovativen Produkt führte?[33] Und wie verhielt sich das Unternehmen zu den wissenschaftlichen Interessen der kooperierenden Hochschulforscher, insbesondere wenn es um deren Publikationsinteresse ging?

Bei alldem ist der Begriff der «Wissenschaft» im Unternehmenskontext natürlich problematisch insofern, als ein zentrales Konstitutionsmerkmal wissenschaftlicher Arbeit – der Austausch von nach wissenschaftlichen Maßstäben gewonnenem neuen Wissen über institutionelle Grenzen hinweg[34] – in einem Unternehmen nicht ohne weiteres gegeben ist.[35] Allerdings wird sich bei beiden ausgewählten Forschungsgebieten zeigen, dass Merck durchaus in verschiedener Hinsicht an wissenschaftlicher Außenwirkung gelegen war. Darüber hinaus lässt sich argumentieren, dass sich «Wissenschaftlichkeit» nicht über den Ort definiert, an dem sie stattfindet, sondern über die Methoden, mit denen sie betrieben wird. Es ist hier nicht der Ort, diese Grundsatzfrage ausführlicher zu thematisieren; für diesen Beitrag wird die Arbeitshypothese zugrunde gelegt, dass sich die Arbeit im unternehmenseigenen wissenschaftlichen Laboratorium in der Tat als «wissenschaftlich» klassifizieren lässt: Zum einen unterschied sich die konkrete Arbeit nicht prinzipiell von Forschungsarbeit, die im universitären Kontext stattfand; allenfalls besaß die unternehmenseigene Forschung einen Vorsprung hinsichtlich der finanziellen und apparativen Ausstattung. Gerade weil dies so war, erwiesen sich die beiden Sphären «Wissenschaft im Unternehmen» und «Universitätswissenschaft» überhaupt als miteinander kommunikationsfähig, wie im Einzelnen zu zeigen sein wird. Ob die wissenschaftliche Arbeit im unternehmenseigenen Laboratorium nicht nur «Normalwissenschaft» war, sondern auch das Potential besaß, «Paradigmenwechsel» herbeizuführen, ist eine weiterführende Frage, die ebenfalls über diesen Beitrag hinausgeht.[36]

Im Falle E. Mercks ist das Selbstverständnis als eines wissenschaftsbasierten Unternehmens im Übrigen in der Unternehmensgeschichte verankert: In der Person des eigentlichen Firmengründers, Heinrich Emanuel Merck, waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sowohl die Unternehmerfunktion als auch seine international anerkannte wissenschaftliche Tätigkeit zusammengeflossen,[37] und auch später haben im Unternehmen tätige Familienmitglieder auf verschiedenen Gebieten wichtige Beiträge zur chemisch-pharmazeutischen Forschung geleistet.[38] Mehr noch als bei anderen Unternehmen lag es für Merck daher nahe, die wissenschaftliche Tätigkeit im eigenen Unternehmen fortzuführen – die häufig formulierte Alternative hinsichtlich der Nutzung wissenschaftlicher Expertise «make or buy» stellte sich für das Darmstädter Unternehmen daher in anderer Weise als etwa für die Farbenfabriken Bayer, die den Nutzen interner wissenschaftlicher Forschung erst zu erkennen hatten.[39]

2. Externe Forschungskooperation vor und nach dem Ersten Weltkrieg: Merck, Richard Willstätter und die Cocainsynthese

Das Unternehmen E. Merck war im 19. Jahrhundert aus einer alteingesessenen, 1668 von Friedrich Jacob Merck übernommenen Darmstädter Apotheke hervorgegangen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich das Unternehmen als Produzent einer großen Bandbreite von Alkaloiden etabliert, also zumeist in Pflanzen vorkommenden basischen Verbindungen, die häufig ausgeprägte pharmakologische Eigenschaften haben.[40] Zu diesem Alkaloiden zählte auch Cocain, das die Firma schon seit 1862 herstellte.[41] Hinzu kamen anorganische Chemikalien, die bald weit über den Eigenbedarf hinaus produziert wurden.[42] Unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich das Unternehmen zum (gemessen am Umsatz) weltweit zweitgrößten Hersteller von pharmazeutischen Produkten entwickelt.[43] Und vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Unternehmen Merck ein in der scientific community fraglos als relevant, vielleicht auch als maßgeblich eingeschätzter Akteur: Viele Alkaloide wurden bei Merck erstmals isoliert, ihre Konstitution aufgeklärt und in etlichen Fällen auch – wie beim Cocain in Kooperation mit Hochschullehrern – ihre Synthese versucht.[44] Die Synthesen hatten zunächst den innerwissenschaftlichen Zweck, die Richtigkeit einer Hypothese zum Aufbau einer Verbindung nachzuweisen; darüber hinaus aber boten sie immer auch die theoretische Perspektive, eine solche Verbindung nicht mehr aus Pflanzenextrakten, sondern aus (billigeren) Ausgangsstoffen und damit insgesamt günstiger herstellen zu können. Dabei war die Synthese von natürlichen Alkaloiden immer ambivalent, denn bei einer erfolgreichen Synthese und einer dadurch möglichen preiswerteren Herstellung eines Endprodukts sank meist auch der Preis des natürlichen Alkaloids, was dann wiederum die Wettbewerbsfähigkeit des synthetischen Produkts gefährden konnte.[45]

Hinzu kam, dass sich zum Ende des 19. Jahrhunderts die Wettbewerbssituation in der deutschen pharmazeutischen Industrie grundlegend gewandelt hatte, insbesondere weil eine Reihe von Teerfarbenfabriken wie die Farbenfabriken Bayer AG oder die Farbwerke vorm. Meister Lucius und Brüning AG («Hoechst») die Möglichkeit entdeckt hatte, ihre Forschungskapazitäten auch auf Arzneimittel auszudehnen und damit in die angestammten Märkte von aus Apotheken hervorgegangenen Arzneimittelfirmen vorzudringen.[46] Hinzu kamen seit den 1890er Jahren wichtige Fortschritte in der bakteriologischen Forschung, die ein neues Feld biologischer Arzneimittel eröffneten. Dieses Feld bedurfte wegen der ganz eigenen Probleme biologischer Medikamente wie z. B. Schwankungen in der Wirkungskraft auch eines eigenen umfassenden regulatorischen Rahmens, der die verbindliche Standardisierung der Wirkung sicherstellen konnte. Sowohl einige der pharmazeutisch tätigen Farbenfabriken wie Hoechst als auch Merck bemühten sich auch um dieses neue Gebiet.[47] Um beiden Herausforderungen begegnen zu können, systematisierte Merck seine Forschungskapazitäten und baute diese aus; zunächst durch die Einrichtung einer bakteriologischen Abteilung schon 1895.[48] Im Januar 1898 bildete das Unternehmen zudem ein «Wissenschaftliches Laboratorium», konnte dabei allerdings auf schon länger bestehende organisatorische Vorläufer zurückgreifen.[49] In diesem Laboratorium waren vor 1914 durchgängig etwa acht Chemiker beschäftigt und damit ähnlich viele wie etwa im pharmazeutischen Laboratorium bei Hoechst.[50] Klar wird bereits aus dem ersten Bericht des zusammengefassten Laboratoriums, dass in erster Linie von außen kommende Vorschläge bearbeitet wurden, beispielsweise «eine grosse Anzahl von Morphinderivaten» auf «Veranlassung Prof. v. Merings», von denen eines als «Dionin» auf den Markt gebracht wurde.[51] Das Paradebeispiel für die Erfolgsträchtigkeit der Zusammenarbeit mit externen Erfindern ist zweifellos der große Erfolg des Schlafmittels «Veronal»: Dieses Produkt war 1903 von den Professoren Emil Fischer sowie Joseph von Mering erfunden und patentiert sowie im weiteren Verlauf an Bayer und Merck lizensiert worden.[52] Merck investierte in den folgenden Jahren beträchtliche Summen in die Produktion dieser Erfindung; im Ergebnis erwies sich Veronal als eines der wichtigsten Pharmazeutika des Unternehmens. 1917 lief das Hauptpatent für Veronal indes aus, so «dass alle übrigen noch giltigen [sic!] Veronal-Patente von diesem Zeitpunkt an wertlos waren und fallen gelassen werden konnten». In der Folge verminderte «sich die Arbeit auf diesem Gebiete sehr»[53] und es wurden potentiell wieder Ressourcen für andere Forschungen frei.[54]

In vielen Fällen erbrachte die Kooperation mit auswärtigen Forschern jedoch keine greifbaren Ergebnisse: 1914 bot der Privatdozent Jean D'Ans, der sich an der TH Darmstadt 1909 habilitiert hatte, Merck ein «Verfahren zur Herstellung complexer Antimonylverbindungen» und damit zusammenhängender Verbindungen an, beschränkte sich aber, wie «so viele Erfinder», «auf mündliche Anweisungen, wonach die Darstellung ohne Schwierigkeit […] sei».[55] Die aufwendigen Versuche im Merckschen Forschungslaboratorium ergaben, dass die Darstellung der angebotenen Produkte offenkundig deutlich schwieriger war als von D'Ans skizziert; Merck gelangte dann zu stark giftigen Produkten, wie pharmakologische Prüfungen ergaben. In der Konsequenz verlor das Mercksche Laboratorium das Interesse an diesen Arbeiten, «zumal auch wichtigere Sachen zu erledigen waren».[56] Ungeachtet solcher häufig dokumentierten Misserfolge hielt Merck am Modell des Erfindungszuflusses von außen weiter fest.

Allerdings wurde immer deutlicher, dass die Forschungsorganisation auf den zunehmend dynamischen Wettbewerb reagieren musste: Schon 1910 hatte der damalige Leiter des Wissenschaftlichen Laboratoriums, Walter Beckh, gegen die Zögerlichkeit der Fabrikleitung argumentiert, neue Produkte auf den Markt zu bringen: Dieser Haltung hielt er entgegen, «dass Versuche zur Gewinnung neuer synthetischer Arzneimittel nicht vollständig aus dem Arbeitsprogramm des wissenschaftl. Laboratoriums ausgeschaltet werden dürfen». Allein durch Verfahrensverbesserungen sei «Fortschritt» nicht erreichbar, allenfalls die Sicherung des Bestehenden. Zudem wies er auf die immer stärkere Konkurrenz der großen Unternehmen der chemischen Industrie hin, die allein schon wegen der Skaleneffekte für Merck immer gefährlicher werde. Er forderte hier eine «Aufnahme neuer Fabrikationszweige», die allerdings «dauernde Rentabilität» garantieren können sollten. Eines der zentralen Hindernisse für solche künftigen Erfolge sah Beckh in einer noch zu geringen Vernetzung mit der «medicinischen Welt», die unbedingt verstärkt werden müsse, wie auch eine schnellere «physiologische Prüfung» neuer Arzneimittel organisiert werden müsse.[57] Möglicherweise wurden diese Appelle schon bald aufgegriffen, denn die Berichte der Wissenschaftlichen Abteilung dokumentieren unmittelbar vor 1914 durchaus breite Aktivitäten; die Unternehmensleitung scheint verstärkt darauf hingewirkt zu haben, den Arbeitsumfang des Wissenschaftlichen Laboratoriums und der Betriebsabteilung «durch umfassende Neueinführungen bezw. Selbstdarstellung früher von auswärts gekaufter Präparate stark zu erweitern».[58]

Ein weiterer jener Privatdozenten, mit denen Merck lange vor 1914 die Zusammenarbeit aufgenommen hatte, war Richard Willstätter. Für die Einschätzung des Charakters der Innovationsgewinnung bei Merck ist die intensive Zusammenarbeit mit dem späteren Nobelpreisträger auch deshalb wichtig, weil es gerade Willstätters Beiträge waren, die in der pessimistischen Sicht Zimas kaum mehr als «Konzeptionen und Gerede» boten.[59] Eines der Projekte, das Willstätter schon lange verfolgte und bei dem er mit Merck zusammenarbeitete, war die Cocain-Synthese. Cocain ist ein Alkaloid, das erstmals um 1860 aus den Blättern des Cocastrauches isoliert werden konnte. Die etwa gleichzeitig festgestellte lokal betäubende Wirkung öffnete auch den Weg für seine Anwendung als Arzneimittel.[60] Nach der Aufstellung einer Summenformel unternahm der Wöhler-Schüler Wilhelm Lossen Mitte der 1860er Jahre auch erste, vorläufig vergebliche, Versuche einer Teilsynthese. Eine Teilsynthese gelang dann erst 1885, auch unter Mitwirkung von Willy Merck. Weitere Verfahrensverbesserungen dieser Teilsynthese Ende der 80er Jahre führten dazu, dass Cocain als Lokalanästhetikum weite Verbreitung fand.[61]

Die Jahresproduktion von Cocain bei Merck war nach kleinen Anfängen seit den 1860er Jahren und raschem Wachstum in den 80er Jahren auf mehrere Tonnen Cocain-HCl[62] angestiegen, umso mehr, als das Unternehmen von der Rohstoffgrundlage der Coca-Blätter aus Peru seit 1906 zusätzlich und in rasch steigendem Umfang zu Rohcocain aus Java überging. Nach Gründung der «Pharmazeutischen Interessengemeinschaft» mit Boehringer und Knoll 1906/07[63] erkannte Merck, dass die Produktion bei Boehringer zwar ebenfalls auf einer Kombination von Extraktion und Synthese beruhte, aber die dortigen Syntheseschritte überlegen waren, so dass Merck das Verfahren Boehringers übernahm.[64] 1913 wurden über sieben Tonnen Cocain-HCl aus Java-Rohcocain in Darmstadt hergestellt.[65] Nach Kriegsbeginn stürzte die Produktion ab, 1915 auf 265 und 1916 auf 44 Kilogramm (1917 und 1918 stieg sie wieder auf 1.246 bzw. 1.738 Kilogramm leicht an, erreichte aber noch nicht die Vorkriegsdimensionen).[66]

Ungeachtet der eingespielten Produktionswege ist schon früh ein Interesse des Merckschen Laboratoriums erkennbar, eine Totalsynthese des Cocain zu erreichen. Dieses Interesse ist schon vor dem Beginn der Kooperation mit Willstätter festzustellen und führte bereits 1892 zur Synthese von Tropacocain – einem Medikament, das als Lokalanästhetikum ebenso wie Cocain verwendet wurde und seit 1896 hergestellt wurde.[67] Wahrscheinlich lag der zentrale Grund für dieses Interesse darin, Cocainpräparate mit konstantem Alkaloidgehalt produzieren zu müssen: Auch nach den ausgereiften Extraktionsverfahren zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier noch größere Schwankungen.[68] Zudem war die Gewinnung von Cocain aus den Coca-Blättern sehr aufwändig, auch aufgrund ihres niedrigen Gehalts an natürlichem Cocain (er lag bei unter einem Prozent). All dies begründete das Interesse zunächst an der «Synthese des Tropins», aus dem dann Alkaloide wie Cocain in weiteren Schritten gewonnen werden konnten.[69] Nachdem die Gefährlichkeit des Cocain erkannt war, konnte Merck wohl zudem hoffen, mit einem Syntheseprodukt diese Wirkungen nicht mehr mit in Kauf nehmen zu müssen.

Allerdings war Merck auch nicht das einzige Unternehmen, das sich für die Cocainsynthese interessierte: Hoechst hatte 1891 ein «Verfahren zur Darstellung von Tropin» (als Ausgangsstoff für die weitere Synthetisierung von Cocain) patentieren lassen, das auf noch ungesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhte und durch die Forschungen Willstätters, die zu einer wesentlich besser abgesicherten Tropinformel geführt hatten, obsolet wurde.[70] Später war es der Doktorvater Richard Willstätters, Alfred Einhorn, der mit Novocain für Hoechst ein weitaus weniger gefährliches Lokalanästhetikum erfand.[71] Und auch Schering hatte sich ein Verfahren zur Darstellung von Tropin patentieren lassen, das Merck zu umgehen versuchte.[72] Bereits Ende der 80er Jahre war ein Verfahren zur Teilsynthese möglich geworden, das von C.F. Boehringer und Söhne patentiert worden war. Allerdings wurde es wahrscheinlich wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit nur kurz aufrechterhalten.[73]

Nach der Gründung der «Pharmazeutischen Interessengemeinschaft» vereinbarten Boehringer und Merck 1910 einen «Meinungsaustausch über die bis jetzt angestellten Versuche».[74] Die Besprechung ergab insbesondere, dass Merck, anders als Boehringer, ohnehin nur das racemische Cocain[75] auf der Grundlage von Tropinon synthetisierbar schien, auf der Basis der Arbeiten von Willstätter und Bode vom Beginn des Jahrhunderts[76] – wenngleich der «Weg […] allerdings auch hier mühsam» war und die «Ausbeuten […] miserabel». Heroisch bekundete der Leiter des Laboratoriums Beckh gleichwohl, dass «diese Ueberlegungen nicht ins Gewicht» fielen, «wenn es sich um die Klärung einer wichtigen Frage» handele. Aus der Perspektive von Merck kam es jetzt zunächst darauf an, dieses Syntheseprodukt physiologisch darauf hin zu prüfen, ob es dem natürlichen Cocain entspreche.[77] Anfangs verliefen die Versuche «wenig ermutigend», nahmen aber danach an Fahrt auf und gaben Beckh zu größeren Hoffnungen Anlass.[78]

Alle diese Versuche fanden vor dem Hintergrund parallel verlaufender Anstrengungen in der akademischen Welt statt, ebenfalls die Cocainsynthese zu erreichen.[79] Diese Anstrengungen verbinden sich vor allem mit dem Namen Richard Willstätters, der sich schon seit seiner Promotionszeit mit diesem Thema beschäftigte.[80] Allerdings waren seine Forschungen eingebettet in die Bemühungen einer ganzen Reihe von Chemikern, verschiedene Alkaloide aus dieser Gruppe aufzuklären, denen mit Tropan ein gemeinsames Grundgerüst zugrunde zu liegen schien.[81] An diese Untersuchungen schlossen sich die Bemühungen Richard Willstätters an, die Struktur der Tropanalkaloide aufzuklären.[82] In den letzten Jahren vor der Jahrhundertwende gelangen Willstätter wichtige Nachweise des Zusammenhangs zwischen verschiedenen Alkaloiden (insbesondere Tropan) und ihren Derivaten, die zu einer Aufklärung der Konstitution des Cocains führten.[83] Ein Weg zur Totalsynthese des Cocains war seit 1901/02 zwar bekannt, aber noch so aufwändig, dass hier auch das Interesse Willstätters zu verorten ist, eine ökonomisch sinnvollere Synthese zu suchen.[84]

Dieses komplementäre Interesse Willstätters und Mercks führte schon 1896 zum Abschluss eines Vertrages, der die Darstellung von Tropinon betraf, wozu Willstätter ein Verfahren gefunden hatte;[85] Merck übernahm die «pharmacologische und therapeutische Untersuchung», während Willstätter mit 50 Prozent am Reingewinn beteiligt wurde.[86] Auch Verfahren, die «mit dem Tropinon in unmittelbaren Zusammenhang» standen, also z. B. Tropacocain, waren Gegenstand der Vereinbarung.[87] Einen weiteren Vertrag schloss Willstätter am 1. März 1901 mit Merck ab,[88] der indes in gegenseitigem Einvernehmen 1906 auslief.[89] Wahrscheinlich im Rahmen dieses Vertrags berichtete Willstätter intensiv über verschiedene Versuche, die er in Bezug auf das Cocain und damit verwandte Alkaloide betrieb; er kündigte auch geplante Publikationen an und bat um Einverständnis des Unternehmens.[90]

Mit der wechselseitigen vertraglichen Bindung sicherte sich das Unternehmen zwar den Zugriff auf neue Erkenntnisse Willstätters; bis zu einem gewissen Grade unterwarf es sich jedoch auch den unausgesprochenen innerwissenschaftlichen Grenzziehungen: Für Willstätter waren beispielsweise Arbeitsgebiete anderer Professoren nicht mehr frei, selbst wenn noch gar keine Ergebnisse bekannt waren.[91] Merck konnte daher, wenn das Unternehmen auf diesen Gebieten forschen oder forschen lassen wollte, sich nicht der Verbindung zu Willstätter bedienen. In seiner Arbeit nahm auch Willstätter keineswegs eine rein wissenschaftliche Perspektive ein, sondern berücksichtigte in bemerkenswertem Ausmaß auch ökonomische Implikationen seiner Arbeit: Als ein wichtiges Ziel auf dem Weg der Cocainsynthese schätzte Willstätter die Synthese von Ecgonin ein.[92] Als Ausgangsmaterial für die Ecgoninsynthese fasste er Cycloheptatriencarbonsäure ins Auge und bat Merck darum, zu prüfen, ob dieser Stoff «ein technisch brauchbares, billiges Ausgangsmaterial ist bezw. werden kann».[93] Erst nach Klärung dieser Frage, die nur bei Merck erfolgen könne, ließe sich abschätzen, ob die Versuche in dieser Richtung lohnend sein würden.[94]

Dieses wie auch andere Beispiele zeigen, dass es eine verfehlte Vorstellung wäre, das Interesse an ökonomischer Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse nur auf der Unternehmensseite zu verorten. Und auch umgekehrt verlief der Strom wissenschaftlicher Erkenntnis keineswegs nur in der Weise, dass Willstätter seine Ideen und Versuchsergebnisse dem Laboratorium übermittelte, während letzteres diese Ideen nur umgesetzt und in einen größeren Maßstab überführt hätte: Auch das Mercksche Laboratorium schlug Willstätter Synthesewege (hier: von Tropinon aus Chiccinaldehyd) vor, die von Willstätter intensiv diskutiert wurden.[95] Aus dieser engen Zusammenarbeit resultierten aber auch Konflikte, die deutlich erkennen lassen, dass auch das Mercksche Laboratorium seine Aufgabe keineswegs nur darin erblickte, die Ideen Willstätters umzusetzen und in marktfähige Produkte umzuwandeln: Anlass für eine solche Auseinandersetzung war der Umstand, dass das Wissenschaftliche Laboratorium aufgrund gestiegener Nachfrage nach Produkten aus diesem Arbeitsgebiet (hier: Tropacocain) dazu kam, größere Mengen produzieren zu müssen als für die eigentliche wissenschaftliche Arbeit nötig waren. In diesem Zusammenhang entdeckte das Laboratorium Unstimmigkeiten, da die Ausbeuten «ganz wesentlich hinter den Erwartungen zurückblieben».[96] Das Laboratorium vermutete, dass ein Nebenprodukt der chemischen Reaktion hierfür verantwortlich sein könnte, das Willstätter aufgrund der geringen Mengen, die er verwendet hatte, entgangen sein könnte. Die Konsequenz für das Laboratorium bestand darin, den Prozess in größerem Maßstab «wissenschaftlich durchzuarbeiten», und dies aus zwei Gründen: Zum einen sollte natürlich nach wie vor der ökonomisch sinnvollste Reaktionsweg gefunden werden, und zum anderen musste Willstätter auch deshalb widerlegt werden, weil dieser zunächst von seiner Auffassung nicht abrückte, im Merckschen Laboratorium sei schlampig gearbeitet worden.[97] Diese häufig dokumentierten Klagen über unzureichende oder unzutreffende Angaben auswärtiger Hochschulforscher sind daher nicht nur als Hinweis auf die Grenzen dieses Innovationsmodells zu interpretieren, sondern auch und vielleicht sogar in erster Linie als Niederschlag eines zu den Hochschulprofessoren gleichrangigen Kompetenzanspruchs des Merckschen Laboratoriums. Insbesondere zeigt dieser Vorgang, dass die Merckschen Laboratoriumschemiker sich als genuine Wissenschaftler verstanden, die sich mit den Vertretern der universitären Wissenschaft auf Augenhöhe austauschten, und dies schon lange vor dem von Johnson vermuteten Paradigmenwechsel in der unternehmenseigenen Forschungsausrichtung.

Auch nach seinem Ruf an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich 1905 beriet Willstätter Merck weiterhin bei Problemen mit der «Cocainfabrikation»[98] und etlichen weiteren Fachproblemen. Bisweilen führte das auch zu Missverständnissen, wenn Willstätter etwa in einem Fall in einer Publikation auf ihm mitgeteilte Ergebnisse des Merckschen Laboratoriums zurückgriff, ohne zu berücksichtigen, dass es sich hier um ein Geschäftsgeheimnis gehandelt hatte.[99]

Nachdem Alfred Einhorn 1905 für Hoechst das Novocain mit ähnlichen betäubenden Wirkungen wie Cocain entwickelt hatte,[100] konnte es scheinen, dass eine wirtschaftlich tragfähige Totalsynthese des Cocain weniger dringlich gewesen wäre.[101] Gleichwohl arbeitete das Laboratorium Mercks weiter an diesem Thema[102] und informierte Willstätter auch weiterhin von den Fortschritten, da das Unternehmen davon ausging, «dass das Ergebnis der ersten grösseren Durcharbeitung Ihrer wissenschaftlichen Forschungen immer noch von Interesse für Sie ist».[103] Das so gewonnene Cocain war mit dem natürlichen noch nicht identisch; es war erst «durch eingehende pharmakologische und klinische Versuche festzustellen, ob dasselbe in seinen Wirkungen mit dem [hs.: natürlichen] L.-Cocain identisch ist, und für dasselbe substituiert werden kann».[104] In der Tat zeigte sich Willstätter an den Ergebnissen stark interessiert und diskutierte die Gründe für leicht voneinander abweichende Resultate bei seinen und Mercks Versuchen.[105] Der Austausch zwischen Merck und Willstätter hatte sich somit wieder intensiviert, verbunden mit interessierter Beobachtung auch von Forschungen von dritter Seite, insofern sie auf eine «Totalsynthese des Cocains» hindeuteten.[106] Unmittelbar vor Kriegsbeginn unterstrich Merck erneut das Interesse des Unternehmens an einer intensiven künftigen Zusammenarbeit mit Willstätter auf dem Gebiet der Cocainsynthese und sagte zu, Ergebnisse pharmakologischer Prüfungen Willstätter zu Publikationszwecken «zur Verfügung zu stellen».[107]

Worauf ist bei Merck das unverkennbar wieder stärker gewordene Interesse an einer synthetischen Variante des Cocains zurückzuführen? Ein möglicher Grund lag in den parallelen internationalen, v. a. US-amerikanischen Bestrebungen, die Produktion und Verbreitung von Betäubungsmitteln (neben dem Opium betraf dies auch das Cocain) stärker zu regulieren, Bestrebungen, in die auch das Deutsche Reich eingebunden war und die 1912 in der Opium-Konvention von Den Haag mündeten.[108] Vor diesem Hintergrund konnte ein synthetisches Cocain, das von Nebenwirkungen frei war, neue Attraktivität beanspruchen.

Anfang 1917 informierte Willstätter, der im April 1916 als Lehrstuhlinhaber für Chemie an die Universität München zurückgekehrt war,[109] Merck mit Blick auf die jetzt über 20 Jahre dauernden Beziehungen zwischen ihm und der Firma über zwei Reaktionen (eine «vollständige Synthese von Tropinoncarbonsäure, also von r-Cocain und von Tropinon»), die er zum Patent angemeldet hatte, zuerst aber Merck anbieten wollte.[110] Merck zeigte sich daran sehr interessiert.[111] Dieses gegenseitige Interesse führte im April 1917 zum Abschluss eines neuen Vertrages, in dem Willstätter seine von ihm zur Patentierung beantragten «zwei Hauptphasen» einer Synthese, die «zur Herstellung von Alkaloiden der Tropin- und Ecgoninreihe – also beispielsweise von Atropin und einem r.-Cocain» führten, an E. Merck übertrug. Im Übrigen regelte dieser Vertrag die Modalitäten der Gewinnbeteiligung Willstätters.[112] Allerdings wurden die Versuche im Zusammenhang mit der Cocainsynthese wegen des immer spürbarer werdenden Rohstoffmangels nur noch im «kleinsten Masstab» [sic!] weitergeführt.[113] 1920 und 1921 wurde dieser Vertrag durch Zusatzverträge erweitert, die seinen Geltungsbereich auf alle Cocain- und Tropinsynthesen erweiterte.[114] Diese langjährige Zusammenarbeit mündete nicht nur in Verträgen und Patenten, sondern 1923 auch in einem gemeinsam mit Merck-Forschern verfassten Aufsatz für Liebigs Annalen der Chemie, was nochmals den wissenschaftlichen Anspruch des Merckschen Laboratoriums unterstreicht.[115] Wirtschaftlich lohnte sich die Synthese allerdings nicht, und auch ein Nebenprodukt, das Psicain, welches Merck ab 1924 herstellte, «um einen wirtschaftlichen Nutzen aus der Cocainsynthese […] zu ziehen»,[116] wurde in den folgenden Jahren noch auf natürlicher Grundlage produziert.[117]

Dass Merck die Zusammenarbeit mit Willstätter dennoch vergleichsweise lange aufrechterhielt, hatte möglicherweise noch einen anderen Grund: Mit den Versuchen im Zusammenhang mit der Cocain-Synthese sammelte das Laboratorium eine Vielzahl von Erfahrungen auf dem Gebiet der katalytischen Hydrierung, also der Anlagerung von Wasserstoffatomen an ein bestehendes Molekül mit Hilfe eines Katalysators. Auf diesem Gebiet besaß Merck bislang nur wenige Erfahrungen, und die Laboratoriumsleitung erblickte schon 1919 hier eine Zukunftsperspektive für eine Vielzahl der von Merck hergestellten Alkaloide: «Der analytischen Chemie eröffnet sich hier ein neues Arbeitsfeld, welches meines Wissens noch nicht beschritten ist.»[118] Erst nachdem 1925 mit Otto Dalmer ein neuer Chemiker die Laboratoriumsleitung übernommen hatte,[119] verabschiedete sich Merck dann tatsächlich von dem Projekt einer Totalsynthese des Cocains.

3. Wandel nach dem Ersten Weltkrieg: Bestandsaufnahmen und Neuorientierungen

Nach Kriegsende hatte die Laboratoriumsleitung zunächst in erster Linie damit zu kämpfen, die Ausfälle durch im Krieg gefallene Chemiker zu kompensieren, sowie die apparative Ausstattung, die während des Krieges zum Teil aus dem Laboratorium entfernt worden war, wieder zu erneuern.[120] In einer Art Bestandsaufnahme kündigte der neue Leiter des Laboratoriums, Otto Wolfes, zwar an: Die «Kosten des Laboratoriums werden hoch sein», führte dies aber nicht auf eine grundsätzliche Neuausrichtung der Forschungsarbeiten zurück, sondern ganz allgemein auf die gestiegenen Löhne und Preise sowie auf die «Neuherrichtung der Laboratorien und Apparate, die während des Krieges arg Not gelitten hatten».[121] 1919 setzte sich das wissenschaftliche Laboratorium aus einer «Betriebs-Abteilung» (ein Chemiker), einer «Versuchsabteilung, organ.» (sechs Chemiker), einer Elektrochemischen Abteilung (ein Chemiker) sowie einer Patentabteilung zusammen.[122] Auch 1920 konnte die organische Versuchsabteilung im Durchschnitt mit fünf Chemikern aufwarten.[123] 1921 forderte Wolfes ungeachtet des für die Exportprodukte Mercks vorteilhaften Rückgangs des Außenwertes der deutschen Währung,[124] dass es nun darauf ankomme, die Verfahren und Produkte zu «vervollkommnen», um sich auf jene Zeiten vorbereiten zu können, in denen diese für Merck günstige Situation vorbei sei.[125]

Auch wenn die Arbeit des Laboratoriums nicht gefährdet zu sein schien, so sah sich Wolfes Anfang 1921 doch veranlasst, den Sinn unternehmensinterner Forschung noch einmal grundsätzlich in Erinnerung zu rufen: Der wirtschaftliche Wiederaufbau sei in der Zukunft nur durch «Veredelung der Fabrikate» möglich, was wiederum Fachleute erfordere, im Falle Mercks Chemiker. «Deren Arbeitsfreudigkeit zu fördern, ist daher ein Gebot der Klugheit».[126] Fortschritte seien nur auf der Basis wissenschaftlicher Forschung zu erwarten; nachdem die Erkenntnisse der universitären und außeruniversitären Forschung «Allgemeingut» seien, sei es die spezifische Aufgabe der «wissenschaftlichen Fabriklaboratorien», die Ergebnisse dieser staatlichen Forschung «für die besonderen Bedürfnisse der einzelnen Zweige chemischer Industrie zurechtzuschmieden und auszubauen».[127] Anders als es die faktisch enge Kooperation mit Willstätter gezeigt hatte, interpretierte Wolfes diese Zusammenarbeit somit noch entlang der Vorstellung einer klaren Arbeitsteilung zwischen universitärer und unternehmensinterner Forschung.

Anfang der 20er Jahre war es dann die Neueinstellung der beiden Chemiker Otto Zima und insbesondere Otto Dalmer, die der Forschung bei Merck neue Schubkraft verlieh. In erster Linie methodische Implikationen hatte die Einstellung von Zima im April 1920: Er brachte die Mikroanalyse in das Unternehmen, d. h. eine Analysemethode, die die Größenordnungen der Substanzmengen deutlich verringerte, welche zu ihrer Analyse erforderlich waren.[128] Die zweite Neueinstellung war im Februar 1922 jene von Otto Dalmer. Er war zuvor Assistent von Adolf Windaus in Göttingen und Assistent von Carl Neuberg am Kaiser-Wilhelm-Institut für Experimentelle Therapie (das 1925 in Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie umbenannt wurde) in Berlin-Dahlem in dessen chemischer Abteilung gewesen[129] und bewarb sich bei Merck um eine zu besetzende Stelle eines Chemikers.[130] Nachdem er in die engere Wahl gezogen worden war, lobte ihn auch Windaus gegenüber Merck hinsichtlich seiner Kenntnisse und seines Charakters.[131] Die Verhandlungen währten offenkundig einige Zeit, in der Dalmer durchaus selbstbewusst seine Gehaltsvorstellungen vorbrachte.[132] Zunächst arbeitete Dalmer bei Merck in der Serumabteilung.[133] Im Verlauf einer raschen Karriere, schon zum Januar 1925, übernahm er die Leitung des Wissenschaftlichen Versuchslaboratoriums und fungierte ab dem 1. April 1928 als Direktor (mit Einzelprokura) der Wissenschaftlichen Abteilung.[134]

Zwei Jahre nach seiner Leitungsübernahme hielt Dalmer Anfang 1927 ausführlicher die grundlegenden Aufgaben des wissenschaftlichen Versuchslaboratoriums fest: Zum einen «die Verfahren für bereits bekannte Produkte zu verbessern bzw. für diese Produkte neue Verfahren zu finden» sowie zum anderen «die Auffindung und Einführung neuer Produkte und Präparate, insbesondere auf pharmako-therapeutischem Gebiete».[135] Den ersten Aufgabenkreis, die Verfahrensverbesserungen, sah er als Grundlage an, «von der aus man jederzeit die Existenzberechtigung und Notwendigkeit der Abteilung beweisen kann»[136] – offenbar war diese Existenzberechtigung noch nicht ganz unumstritten. Daher war es in den Augen Dalmers auch wichtig, dass das Wissenschaftliche Laboratorium auch zu Aufgaben herangezogen würde, die direkt mit der Produktion zu tun hatten: «Wenn ein Wissenschaftliches Versuchs-Laboratorium von der Art des unsrigen nicht unmittelbar zu den betriebswichtigen Aufgaben herangezogen wird, wird es materiell und geistig starke Einbusse erleiden. Es gerät in Gefahr, zeitweise für überflüssig gehalten zu werden, sodass es als Opfer von rationell-kaufmännisch eingestellten Ersparnis-Massnahmen seinen Personal- und Sachetat verringern muss.»[137]

Der traditionelle Weg, zu Innovationen zu kommen, war in seinen Augen an Grenzen gelangt: Das «Verstehen und geschickte Aufgreifen zufällig auftauchender neuer Möglichkeiten» sowie die darauf folgende intensive Bearbeitung sei der «Weg gewesen, auf dem wir zu schönen neuen Zielen gelangt sind».[138] Ohne dass dieser Weg aufgegeben werden sollte, verdeutlichte Dalmer aber auch, für wie unzureichend er dieses Vorgehen hielt: Er wies auf die Notwendigkeit hin, «systematische jahrelang fortgesetzte Versuchsreihen gleichzeitig für mehrere Probleme der Chemo-Therapie, Schädlingsbekämpfung und ähnliche Gebiete» durchzuführen «mit der Aussicht, dass von vielen grossen Zielen vielleicht einmal eines erreicht wird».[139] Ungeachtet der hohen Kosten sah Dalmer nur in einem solch umfassenden Ansatz den einzigen letztlich erfolgversprechenden Weg. Als Referenz für diese Argumentation diente auch die I.G. Farbenindustrie AG, deren 1927 auf den Markt gebrachtes Malaria-Medikament «Plasmochin» exakt auf dieser Vorgehensweise beruhte.[140] Die Vorbedingungen bei Merck für eine solche Forschungsstrategie sah Dalmer erst seit der Einrichtung der «biologisch-experimentellen Abteilungen»[141] gegeben; für das Laboratorium sicherte Dalmer zu, sich leicht auf eine derart ausgeweitete Forschungsstrategie einstellen zu können. Notwendig hierfür war aber darüber hinaus, und das war ein entscheidender Punkt, dass an das Laboratorium keine kurzfristigen Rentabilitätserwartungen gerichtet würden: «Die kaufmännische Einstellung, dass das aufgewendete Kapital in einer relativ kurzen Zeit unbedingt verzinst und amortisiert sein muss, würde stets zur Ablehnung der modernen grosszügigen Forschungsmethode führen.»[142] Dass Merck ab 1929 ein neues und großräumiges Laboratorium errichtete, zeigt, dass die Firmenleitung sich dieser Ansicht mindestens teilweise anschloss.[143]

Zwar ist das Ziel des Ausbaus der unternehmensinternen Forschung somit unverkennbar, deren Erfolge Bayer bzw. die I.G. Farbenindustrie AG vorexerziert hatten, aber bei einer solchen Strategie bestand immer auch die Gefahr, den Kontakt zur akademischen Welt zu verlieren.[144] Dass Dalmer sich dieser Gefahr bewusst war, zeigen seine gleichzeitig mit dieser Forderung vorgetragenen Berichte über seine Teilnahme an verschiedenen Chemikerkongressen: Sein Ziel war es hier, neue Kontakte zu knüpfen und neue Forschungsimpulse zu erhalten.[145] Die traditionelle Orientierung an intensiven Kontakten mit der universitären Wissenschaft sollte also keinesfalls aufgegeben werden. Organisatorisch wurde diese Orientierung zusätzlich durch zweimal in der Woche stattfindende Besprechungen sichergestellt, «bei denen alle aktuellen Fragen, mögen sie die eigenen Präparate und Arbeitsgebiete oder bemerkenswerte pharmakotherapeutische Ergebnisse der Literatur sowie auch Neueinführungen anderer Fabriken betreffen, behandelt werden».[146]

An diesen Besprechungen nahmen Carl Löw,[147] Karl Merck, Dalmer und weitere Mitarbeiter aus dem Forschungslaboratorium teil. Zwar sah Löw, dass die Ausstattung des Jahres 1928 den Anforderungen wissenschaftlicher Forschung nicht mehr genügte, und zeigte sich zuversichtlich, dass die neue Forschungsinfrastruktur unter Dalmers Leitung auch neue Forschungsgebiete schneller erschließen lassen würde.[148] Die Intensivierung der unternehmenseigenen Forschung würde dabei primär eigene Entwicklungen stärken. Löw versprach sich von dem Ausbau der unternehmenseigenen Forschung und dem Bestehen «eines vorbildlich eingerichteten und eindrucksvollen wissenschaftlichen Laboratoriums» zugleich aber auch eine beträchtliche «Propagandawirkung» in die wissenschaftliche Welt hinein: Denn dass ungebundene Wissenschaftler ihre Erfindungen eher bei der I.G. Farbenindustrie AG und ihren imponierenden Forschungseinrichtungen gut aufgehoben sahen, war in den Augen Löws ein Missstand, den E. Merck durch den Ausbau der eigenen Forschungsabteilungen zu mildern hoffte.[149] Wenn Löw kalkulierte, für auswärtige Forscher wieder attraktiver zu werden, zeigt dies zugleich, dass vom Ausbau unternehmenseigener Forschungsabteilungen nicht von vornherein auf eine Abkehr von Kooperationsbeziehungen mit der akademischen Welt geschlossen werden darf: Diese Beziehungen waren nach wie vor sehr wichtig für das Unternehmen,[150] wie auch die jetzt zu schildernde Kooperation mit Adolf Windaus verdeutlichen kann.

Schon bald nach Dalmers Leitungsübernahme 1925 sind Arbeiten des Laboratoriums dokumentiert, die unverkennbar auf die Verbindung zu Windaus hindeuten: insbesondere die Erwähnung der «Isolierung der wirksamen Bestandteile des Leberthrans (Bestrahlungsversuche stehen noch aus)»,[151] nachdem die antirachitische Wirkung des Lebertrans schon lange bekannt war.[152] Etwa gleichzeitig zur Erschließung des neuen Forschungsfeldes der Vitamine verabschiedete sich die Geschäftsleitung jetzt tatsächlich von der Psicain-Synthese, eine Entscheidung, die wesentlich von Dalmer forciert worden war – ungeachtet der «optimistischen Auffassung» Willstätters. Für dieses Plädoyer des wissenschaftlichen Leiters des Labors spielte wohl in erster Linie die wirtschaftliche Aussichtslosigkeit des Verfahrens eine Rolle, nachdem sich die Extraktion aus Coca-Blättern wesentlich wirtschaftlicher gestaltete und eine Verbilligung des Verfahrens durch eine Synthese nicht abzusehen war.[153]

4. Suche nach Neuerungen: Merck, Adolf Windaus, «Wirkstoffe» und Vitamin D

Wenn Otto Zima in seinem eingangs zitierten Rückblick die Kooperation mit dem Nobelpreisträger Adolf Windaus (Göttingen) als die einzige erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem Professor bezeichnete, da er «etwas Konkretes zu bieten [hatte] und nicht nur Konzeptionen und Gerede»,[154] so erscheint diese Bewertung zu sehr auf die Zäsur Mitte der 20er Jahre fokussiert zu sein. Denn schon für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind erste Versuche bei Merck dokumentiert, in den allmählich in den Blick der Forschung geratenen Bereich der noch nicht näher identifizierten «Wirkstoffe» (also Vitamine, Enzyme und Hormone) vorzudringen.[155] 1913 verfolgte Merck mit großem Aufwand die Herstellung eines Schilddrüsen-Extrakts, offenbar um ein Präparat zur Behandlung von Jodmangel-Krankheiten zu gewinnen, sowie die Gewinnung eines Hypophysen-Extrakts: Anlass für die aufwändigen Versuchsreihen[156] waren offenbar erfolgreiche entsprechende Präparate u. a. von Parke, Davis & Co. (Pituitrin) – aber vor dem Hintergrund, dass die Farbwerke Hoechst den «Weg zur Reindarstellung des Hypophysenalkaloids» patentiert hatten und zudem die Gabe des Präparats nicht ohne Risiken für den Patienten waren, schienen Wolfes selbst die Ergebnisse dieser Versuchsreihen von nur zweifelhaftem Nutzen.[157] Die Herangehensweise des wissenschaftlichen Laboratoriums basierte zudem noch auf der traditionell leitenden Forschungsmaxime, als deren Ziel Wolfes ebenfalls noch vor dem Krieg definiert hatte, «stets die wirksamen Stoffe aus den rohen Produkten zu isolieren und in reinster Form in den Handel zu bringen».[158] Und auch im Fall der jodhaltigen Präparate wurde ein Erfolg erst sichtbar als ein Laboratoriumsmitarbeiter die Unterstützung zweier Hochschulprofessoren erlangt hatte – auch hier kann man somit eine Bestätigung des bisherigen Forschungsmodells erblicken.[159]

Möglicherweise war es auch diese neue, noch tastende Forschungsrichtung auf dem Gebiet der «Wirkstoffe», die den Eindruck des Rückganges der Forschungsaktivität vor 1914[160] erklären kann – denn angesichts der Neuheit und Komplexität dieses Gebietes waren schnelle Patentierungen nicht zu erwarten. Für eine als grundlegend gedachte Neuausrichtung spricht auch, dass Merck schon 1915 eine vertragliche Beziehung mit Emil Abderhalden eingegangen war, der damals Direktor des Physiologischen Institutes der Universität Halle an der Saale war.[161] Dieser Vertrag bezog sich bereits auf Versuche, «Präparate […] aus Drüsen mit innerer Sekretion» herzustellen und nach Möglichkeit zu patentieren – hier zeichnete sich das noch ganz unscharfe Forschungsgebiet der Wirkstoffe ebenfalls bereits konkreter ab. Im Falle einer erfolgreichen Verwertung durch E. Merck würde Abderhalden mit 20 Prozent bzw. 25 Prozent (bei Patentierung) am Reingewinn beteiligt werden.[162] Nach dem Krieg, 1920, und damit noch vor der Einstellung Dalmers, wurden Versuche aufgenommen, um aus Placenten wirksame Stoffe zu gewinnen;[163] dies deutet ebenfalls darauf hin, dass sich das Laboratorium nun verstärkt der Erforschung von Hormonen und Vitaminen zuwandte. Die Laboratoriumsleitung hatte offenkundig erkannt, dass sich hier ein Forschungsgebiet mit hoher Dynamik entwickelte, bei dem Mitte der 20er Jahre noch nicht immer absehbar war, wo die Möglichkeiten der Verwertung tatsächlich liegen könnten.[164]

Seit dem Beginn der 20er Jahre kristallisierte sich als Ergebnis internationaler Forschungsanstrengungen heraus, dass im Lebertran, der traditionell zur Behandlung von Rachitis verwendet wurde, eine Vitamin D genannte Substanz wirksam sein könnte, so dass sich die Anstrengungen der chemisch-pharmazeutischen Forschung in den USA und Europa darauf konzentrierten, dieses Vitamin zu isolieren und dann darauf, Wege zur Synthese zu entwickeln.[165] Nachdem der Göttinger Chemiker Adolf Windaus einer der führenden Experten auf diesem Gebiet war und für seine Forschungen 1928 den Nobelpreis erhalten sollte,[166] und nachdem der neu zu Merck gekommene Otto Dalmer sein Schüler war, verwundert es nicht, dass sich jetzt auch die Forschungsabteilung von Merck diesem Forschungsfeld zuwandte. Im Folgenden ist daher zu fragen, ob sich der Charakter der Merckschen Forschung fundamental änderte und gleichsam auf eine neue Umlaufbahn geriet, indem nun der Anschluss an die auch international vorderste Forschungsfront gewonnen wurde. Zugleich soll die in der wissenschaftshistorischen Literatur zu findende These, wonach ein «Großteil der chemischen Vitaminforschung in Deutschland» der 20er und 30er Jahre am chemischen Institut in Göttingen stattgefunden habe, insofern überprüft werden, wie das Mercksche Laboratorium zu diesen Forschungen beigetragen hat.[167]

Adolf Windaus, der 1915 an die Georg-August-Universität Göttingen berufen und dort zum Leiter des Allgemeinen Chemischen Laboratoriums ernannt worden war,[168] hatte sich schon geraume Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit der Aufklärung des Cholesterin befasst, dessen Bedeutung noch lange ganz unbekannt war.[169] Wichtige Schritte der Aufklärung waren schon in der Vorkriegszeit gelungen, und nicht nur Windaus, sondern auch Emil Abderhalden und Otto Diels.[170] Weitere Fortschritte gelangen dann Windaus Ende des Ersten Weltkriegs, auch solche in Zusammenarbeit mit seinem Schüler Otto Dalmer.[171] Anfang der 20er Jahre kristallisierte sich in verschiedenen Forschungsgruppen in den USA, Großbritannien und auch in Göttingen die Vermutung heraus, dass es zwischen dem Cholesterin und jenem noch unbekannten Vitamin, welches eine wirksame Behandlung der Rachitis erlauben könnte, einen Zusammenhang geben könnte; auch die Einwirkung von Licht (UV-Strahlen) wurde in ihrer Bedeutung allmählich erkennbar: Das zunächst unwirksame Provitamin wurde durch Bestrahlung in das wirksame Vitamin umgewandelt. Erst allmählich, um 1926, erhellten nicht zuletzt die Forschungen von Windaus in Göttingen, dass nicht das Cholesterin die entscheidende Substanz war, sondern ein ähnliches Sterin, das Ergosterin. Die Forschungen von Windaus konzentrierten sich nunmehr auf die «photochemische Umsetzung des Ergosterins» und die dabei «gebildeten Produkte».[172]

Parallel zu diesen akademischen Forschungen und Durchbrüchen ist auch der Beginn der Zusammenarbeit mit Merck dokumentiert: Etwa ein Jahr nach dem Eintritt seines Schülers Dalmer in das Unternehmen E. Merck ist die erste Anfrage von Windaus an Merck dokumentiert, wobei es hier noch darum ging, ihm Substanzen für Experimente zur Verfügung zu stellen.[173] Der weitere briefliche Austausch des Jahres 1923 behandelte dann schon das Gebiet der Sterine, hier aus der Perspektive zur «chemische[n] Verwandtschaft der Herzgifte».[174] Die Korrespondenz dieses und der folgenden Jahre ließ ein gegenseitiges wissenschaftliches Interesse ebenso erkennen (so hörte Wolfes einen Vortrag Windaus') wie das Interesse Windaus an Material zur weiteren Aufklärung von tierischen Giften.[175] Der wissenschaftliche Austausch erstreckte sich auch auf die Bereitschaft Windaus – noch ohne dass er hierzu vertraglich verpflichtet gewesen wäre –, Merck in bevorstehende Publikationen noch vor ihrer Veröffentlichung Einsicht zu gewähren.[176] Auch ist für 1924 schon eine gemeinsame Patentanmeldung dokumentiert.[177] Und natürlich erfüllte Merck weiterhin eine wichtige Funktion der Industrie für die universitäre Forschung, wenn das Unternehmen Windaus für dessen «Forschung auf dem Steringebiet» 200 Gramm Sitosterin zur Verfügung stellte.[178]

Nach der Übernahme der Leitung des Wissenschaftlichen Versuchslaboratoriums bei Merck durch Dalmer intensivierte sich die Zusammenarbeit mit Windaus erkennbar. Schon 1925 wurden Versuche unternommen, den «wirksamen Bestandteil des Lebertrans» zu identifizieren. Offenkundig unter Rückgriff auf neue Erkenntnisse wurden diese Versuche im Laufe des Jahres 1926 «entsprechend den wichtigen neuen Literaturangaben umgestellt auf die Untersuchung bestrahlter Sterine».[179] Der Laboratoriumsbericht Zimas schilderte die verschiedenen Versuche, Cholesterin aus unterschiedlichen Quellen zu gewinnen, darunter Eierfett, was sich allerdings als unbefriedigend erwies – ein klares Suchkriterium war hier die Verbilligung der Verfahren. Die zunächst nur geringen gewonnenen Mengen wurden dann Bestrahlungsversuchen unterworfen; verschiedene Sorten ergaben «bei der Bestrahlung mit Quarzlicht […] antirachitisch wirksame Präparate».[180] Dalmer war skeptischer: «Die ziemlich ausgedehnten Versuche, das Cholesterin aus Eieröl zu gewinnen, führte zwar zu einer praktisch gut brauchbaren Methode», die aber eine Spezialapparatur erforderte – eine solche lehnte Dalmer ab, da die damit zu gewinnenden Mengen an Cholesterin zu gering waren.[181]

Nachdem 1927 das Ergosterin als die entscheidende Substanz durch Windaus identifiziert worden war,[182] bot sich somit die Chance, mit UV-Licht bestrahltes Ergosterin, das offenkundig dem Vitamin D entsprach und Rachitis heilen konnte, kommerziell zu verwerten.[183] Zentrales Ziel bei Merck war es jetzt, aus Presshefe mit möglichst wenig Aufwand möglichst reines Ergosterin in möglichst großen Mengen zu gewinnen. Zugleich lag ein Augenmerk dieser Art Forschung auch immer darauf, für die anfallenden Nebenprodukte (in diesem Fall Nebensterine) «praktische Verwendung» zu finden – auch wenn dies in diesem Fall noch nicht gelungen war.[184] In Otto Zimas Verantwortung schließlich lagen 1927 in erster Linie die Bestrahlungsversuche des Ergosterins: Ohne hier auf die technischen Details einzugehen, wird aus seinem Bericht deutlich, dass die auftretenden Probleme ihrerseits wieder zur Klärung theoretischer Fragen beitrugen, an deren Beantwortung sowohl das Laboratorium Mercks als auch Windaus beteiligt waren.[185]

Zur Vermarktung schlossen Adolf Windaus, die I.G. Farbenindustrie AG und E. Merck einen Vertrag mit dem Zweck, dieses Produkt unter der Bezeichnung «Vigantol» ab dem 1. Januar 1927 zu vermarkten.[186] Zunächst war vereinbart, Windaus die Summe von 50.000 Reichsmark auszuzahlen und ihn sodann am Reingewinn des Vigantol-Verkaufs mit 25 Prozent zu beteiligen; der Vertrag erstreckte sich auch auf alle Verbesserungen bei der Herstellung, die in Zukunft gefunden würden. Schließlich verpflichtete sich Windaus im Gegenzug, alle «geplanten Publikationen und das Manuskript etwa zu haltender Vorträge» beiden Unternehmen vorzulegen, damit diese Gelegenheit hatten, «die erforderlichen Konsequenzen in patentrechtlicher Hinsicht zu ziehen», also z. B. für mögliche einschlägige Verfahrensverbesserungen ein Patent zu beantragen.[187] Ein weiterer Vertrag zwischen Merck und der I.G. Farbenindustrie regelte die Vertriebsmodalitäten, enthielt aber auch die Vereinbarung, sich über wissenschaftliche Fortschritte wechselseitig auszutauschen.[188]

Schon bald darauf, spätestens im Frühsommer 1928, wurde jedoch erkennbar, dass sich die Internationalität der Forschungsanstrengungen, in die auch Windaus eingebunden war, auf die ökonomische Umsetzbarkeit auswirkte: Denn bereits 1923 hatte der an der University of Wisconsin tätige amerikanische Biochemiker Harry Steenbock entdeckt, dass mit UV-Licht bestrahlte Lebensmittel antirachitische Wirksamkeit erhielten; das entsprechende US-Patent verwaltete die Wisconsin Alumni Research Foundation.[189] In Deutschland war das Verfahren durch die Inanspruchnahme der Priorität der amerikanischen Erstanmeldung (30. Juni 1924) vor späteren neuheitsschädlichen Veröffentlichungen geschützt; erteilt wurde das deutsche Patent dann am 1. November 1934.[190] Es war klar, dass damit die Verwertung von Windaus' Erfindung nur im Einvernehmen mit der Foundation möglich gewesen wäre. Im Juni 1928, während die Verhandlungen zwischen der I.G. Farbenindustrie AG und der Foundation noch liefen, die erheblichen Lizenzgebühren aber schon absehbar waren, schlugen die beiden Unternehmen Windaus vor, ihn von diesen Verpflichtungen zu entlasten, im Gegenzug seine Gewinnbeteiligung aber von 25 Prozent auf zehn Prozent vom Reingewinn zu reduzieren.[191]

In den folgenden Jahren arbeiteten Windaus und Merck weiter intensiv auch mit der I.G. Farbenindustrie zusammen, um sowohl Verfahrensverbesserungen zu erreichen als auch, um eine Vielzahl offener Fragen zu klären, etwa hinsichtlich unterschiedlich wirksamer Präparate, ihrer Haltbarkeit und anderer Fragen.[192] Eine drängende Frage war dabei die der möglichen Toxizität des Vigantol: 1930 stand in der wissenschaftlichen Welt die Vermutung im Raum, «dass die bisher benutzten Präparate von bestrahltem Ergosterin neben einem antirachitisch wirksamen Stoff einen anderen Stoff enthalten haben, der toxisch wirkt» und für beobachtete Nebenwirkungen verantwortlich war.[193] Das war an sich nicht neu; die Möglichkeit einer Hypervitaminose (also einer Überdosierung des Vitamins) hatte die Pharmakologische Abteilung bei Merck schon 1928 geprüft und auch Kalkablagerungen «nach Überdosierung mit bestrahltem Ergosterin» nachgewiesen; diese Forschungsergebnisse wurden auch veröffentlicht und erregten «in der ganzen Fachwelt grösstes Aufsehen […], da es sich um die erste mit Sicherheit nachgewiesene Hypervitaminosekrankheit» handelte.[194] Zu klären war, ob als Resultat einer Hypervitaminose eine Verkalkung von Arterien auftreten könnte – eine solche Verbindung könnte, wie Merck klar gesehen hat, eine Vermarktung des «Vigantol» erheblich beeinträchtigen.[195]

Beim intensiven brieflichen und persönlichen Austausch zwischen Dalmer, Windaus und Löw ist keine Arbeitsteilung etwa in der Richtung erkennbar, dass das Mercksche Laboratorium nur Ideen von Windaus überprüfte; vielmehr bemühten sich beide Seiten in gleichrangiger Aufgabenverteilung, diese Probleme zu klären.[196] Der briefliche Austausch lässt erkennen, dass hier zwei wissenschaftliche Knotenpunkte eines übergreifenden Netzwerkes an für alle Seiten wichtigen und auch grundsätzlichen Problemen arbeiteten: Als Windaus bei Merck fragte, welche «Probleme auf dem Vitamin D – Gebiet» noch «besonders der Bearbeitung wert» erschienen, verwiesen Wolfes und Dalmer auf ihre Überzeugung, «dass es unter den Umwandlungsprodukten des Ergosterins ausser Vitamin D1 und D2 noch weitere Stoffe mit antirachitischer Wirkung gibt».[197] Windaus war hier skeptisch; aber auch seine detaillierte Antwort lässt erkennen, dass er die Argumente der Merck-Forscher ernst nahm.[198] Die Forschungsabteilung Mercks jedenfalls schätzte offenkundig die Zusammenarbeit mit Windaus und bot ihm Ende 1931 bereits mit dem «Hypophysenvorderlappenhormon» ein neues Forschungsfeld an, deutete aber zugleich Verständnis dafür an, wenn sich Windaus angesichts der Forschungsaktivitäten seines Schülers Adolf Butenandt, der mit der Schering AG zusammenarbeitete, hier zurückhalten sollte.[199] In der Tat erklärte Windaus, sich vom «Gebiet der Sexualhormone fern» halten zu wollen.[200]

Für die Beurteilung des Verhältnisses von Industrie und akademischer Welt wird häufig die Einflussnahme von Unternehmen auf wissenschaftliche Veröffentlichungen herangezogen.[201] Wie gestaltete sich dieses Problem im Falle des Verhältnisses zwischen Windaus und den beiden kooperierenden Unternehmen? Seine vertraglich eingegangene Verpflichtung, relevante Manuskripte vor der Publikation Merck und der I.G. Farbenindustrie vorzulegen, erfüllte Windaus, meist ohne dass diese Publikationsvorhaben von Seiten Mercks auf Einwände stießen.[202] Und als es darum ging, gegenüber Vigantol kritischen Publikationen in der «Deutschen medizinischen Wochenschrift» und der «Strahlentherapie» entgegenzutreten, stimmten sich Merck und Windaus bis in die Details der Formulierungen ab, wobei Wolfes und Dalmer ihre Formulierungsvorschläge in aller diplomatischer Vorsicht unterbreiteten.[203] Auch die I.G. Farbenindustrie AG, der die Veröffentlichung des Wochenschrift-Artikels bereits im Vorfeld bekannt geworden war,[204] schlug Windaus manche Änderungen vor.[205] Es gab aber auch kritischere Punkte: So reagierte Dalmer bei einer von Windaus geplanten Veröffentlichung durchaus alarmiert und teilte ihm im persönlichen Gespräch mit, dass er «in einigen in der Arbeit aufgestellten Thesen eine schwere Gefahr für das Vigantol» sehe.[206] Letztlich erklärten sich aber beide Firmen mit Verwendung des Begriffs «toxisch», der den Stein des Anstoßes geboten hatte, «in entsprechend vorsichtiger Form» einverstanden.[207]

In gewisser Weise unterwarfen sich auch die Unternehmen den Reputationsprinzipien der Wissenschaft, wenn etwa Merck seinen Beitrag für weitere Entwicklungen gewürdigt wissen wollte: Bei einer anstehenden Veröffentlichung Windaus‘ bemühte sich Dalmer darum, dass auch «Darmstadt» neben Elberfeld, Göttingen und London als Ort der Forschung zum Thema «Vitamin D2» genannt würde;[208] ein Ansinnen, das von Heinrich Hörlein jedoch abgelehnt wurde.[209] Bezeichnend ist es, dass die Abstimmungsprozesse sich hier um prestigebegründete Empfindlichkeiten drehten, nicht um substantielle Bewertungen der Forschungsergebnisse.[210] Andererseits erhoben die beiden Unternehmen durchaus Einspruch, wenn Formulierungen Windaus‘ eine Apparatur «zur Herstellung von Vitamin D1» allzu genau beschrieben[211] oder andere Formulierungen die Anfechtung zukünftiger konkurrierender Patentanmeldungen erschweren könnten.[212] Zwar lassen diese Vorgänge die unterschiedlichen Interessen der drei beteiligten Seiten erkennen; andererseits wird auch deutlich, dass die Abfassung wissenschaftlicher Aufsätze hier – nicht anders als im innerakademischen Kontext auch – Gegenstand von mitunter komplexen Aushandlungsprozessen war.[213]

In diesem Zusammenhang nahmen die I.G. Farbenindustrie AG und Merck auch sehr aufmerksam Arbeiten von Martha Schmidtmann wahr. Dieser Fall kann abschließend zeigen, wie die Unternehmen konkret mit den Autoren kritischer Publikationen umgingen und auch, wie sie unterschiedliche Auffassungen zu lösen versuchten. Schmidtmann war Ärztin und zwischen 1930 und 1932 «nichtplanmäßige außerordentliche Professorin für Allgemeine Pathologie und Pathologische Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig».[214] Schon seit dem Sommer 1929 hatte sie zu Spätschäden der Vigantolbehandlung gearbeitet[215] und stand in diesem Zusammenhang auch mit beiden Unternehmen in Kontakt, die sie um Proben des Vigantol für weitere Prüfungen bat. Die I.G. Farbenindustrie AG stellte Schmidtmann darauf hin zwar Vigantol für weitere Versuche zur Verfügung, jedoch nicht in der von ihr gewünschten Darreichungsform (sie hatte um höherprozentige Dosierungen in alkoholischer Lösung gebeten). Sie wiederum interpretierte dies als «gleichbedeutend mit einer Ablehnung in liebenswürdiger Form» und versuchte Windaus zu bewegen, seinerseits auf die I.G. Farbenindustrie AG einzuwirken, ihr das gewünschte Produkt zur Verfügung zu stellen.[216] Zunächst wollte die I.G. Farbenindustrie AG in vergleichsweise scharfer Form antworten und Frau Schmidtmann auch zur «Richtigstellung» ihrer früheren «Behauptung, dass das Vitamin D eine Fernwirkung besitze» anhalten[217] – erst nach einer mäßigenden Intervention Mercks, die um das Bild der Unternehmen in der Öffentlichkeit fürchtete,[218] versicherte die I.G. Farbenindustrie AG Schmidtmann, dass hinter der Nichtzurverfügungstellung des Materials keine böse Absicht stünde, stellte die Lieferung in Aussicht und bat um eine persönliche Unterredung.[219]

Diese Unterredung zwischen Merck, der I.G. Farbenindustrie AG und Schmidtmann, die am 3. März 1933 in Stuttgart stattfand und an der von Seiten der I.G. Farbenindustrie AG u. a. Gerhard Domagk[220] teilnahm, entwickelte sich denkbar desaströs: Domagk beklagte sich darüber, dass Schmidtmann die im «Warteraum für Angehörige vor dem Leichenaufbewahrungsraum» versammelten Herren mehrere Stunden warten ließ, in einem Raum, «in dem schliesslich auch noch das Licht ausging». Schmidtmann ihrerseits zeigte sich überrascht, mit einer «ganze[n] Abordnung» konfrontiert zu sein. Relevante Präparate, insbesondere jene, die «Spätschädigungen beim Kaninchen» und «Aortenveränderungen nach Vigantol beim Menschen» hätten belegen können, hatte Schmidtmann nicht dabei, da sie verlorengegangen seien. Deprimiert schloss der Berichterstatter Domagk, er «halte jeden weiteren Versuch, von unserer Seite sich mit Frau Prof. Schmidtmann wissenschaftlich auseinanderzusetzen, für zwecklos».[221] Gleichwohl nahmen beide Unternehmen die Befunde Schmidtmanns so ernst, dass die I.G. Farbenindustrie AG in Elberfeld unter Leitung von Domagk Tierversuche mit Kaninchen unternahm, die ebenfalls Aortenverkalkungen erbrachten sowie eine Reihe von Totgeburten bei Jungtieren, so dass Domagk zumindest bei Schwangeren «eine äusserst vorsichtige Dosierung» empfahl.[222] Auch bei Merck wurden ähnliche Tierversuche durchgeführt, deren Ergebnisse zwar denen Domagks ähnelten; Mercks Mitarbeiter war allerdings deutlich vorsichtiger in seinen Schlussfolgerungen.[223]

In den folgenden Jahren wurde die Zusammenarbeit zwischen Merck, der I.G. Farbenindustrie AG und Adolf Windaus fortgesetzt; allerdings schlug die Vitaminforschung im Kontext des Nationalsozialismus zunehmend andere Richtungen ein, die den Untersuchungsbereich dieses Beitrags überschreiten würden und daher hier nicht mehr behandelt werden.[224]

5. Fazit

Vergleicht man abschließend den Charakter der industriellen Forschung bei Merck in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit jener in den späten 1920er und frühen 30er Jahren, wie er sich am Beispiel der Kooperationen mit Willstätter und Windaus manifestiert, so überwiegen die Kontinuitäten und Ähnlichkeiten gegenüber Diskontinuitäten und Unterschieden. Durchgängig verfolgte das Unternehmen mit seinem wissenschaftlichen Laboratorium das Ziel, außerhalb der Unternehmensgrenzen erlangte Forschungsergebnisse mit Hilfe der internen Forschungskapazitäten in Innovationen und gewinnträchtige Produkte zu transferieren. Ein Ausbau der Forschungsabteilung zum Ende der 20er Jahre ist zwar festzustellen (auch wenn sich die Zahl der Chemiker nicht nennenswert erhöhte), insbesondere seit dem Amtsantritt von Otto Dalmer als dem Leiter des Wissenschaftlichen Laboratoriums 1925. Aber das grundlegende Innovationsregime, nämlich die Gewinnung von wissenschaftlichen Erkenntnissen sowohl im unternehmenseigenen Labor als auch auf der Grundlage der Kooperation mit auswärtigen Partnern, hatte sich nicht geändert. Vielmehr war der Ausbau der internen Forschungskapazitäten nötig, um sich überhaupt an neue universitäre und industrielle Entwicklungen wie die Wirkstoffforschung anschließen zu können – dies legen zumindest die Ergebnisse zur Vitaminforschung nahe. Ob dieser Befund auch für die übrigen Forschungsfelder zutrifft, ist derzeit noch eine offene Frage. Allerdings hat es nicht den Anschein, als sei es vorrangiges Ziel des Unternehmens gewesen, sich von den Impulsen der Hochschulforschung zu lösen. Vielmehr ist die Forschungsleistung des Merckschen Laboratoriums nicht isoliert zu betrachten, sondern als komplementärer Teil eines weitverzweigten Forschungsnetzwerks zu interpretieren. In diesem Netzwerk spielten sowohl andere deutsche unternehmerische Akteure eine Rolle (wie im Falle des Cocains Boehringer, im Falle des Vitamin D die I.G. Farbenindustrie AG) als auch unternehmerische Akteure auf der internationalen Ebene, ferner Hochschulprofessoren wie Willstätter und Windaus – und nicht zuletzt deren Schüler, die, wie im Falle Dalmers, das Bindeglied zwischen Universitätsforschung und unternehmensinterner Forschung bildeten. Natürlich ging es bei dieser Kooperation letztlich immer darum, zu marktfähigen und gewinnträchtigen Produkten zu gelangen. Aber auf dem Weg dorthin ist keine klare Aufgabenteilung mehr zwischen Wissenschaft und Unternehmen zu erkennen; beide Seiten ließen sich in hohem Maße auf die Existenzlogiken der jeweils anderen Seite ein, und beide Seiten mussten dies auch tun, um zu neuen Ergebnissen zu gelangen.


Danksagung: Der Aufsatz ist im Rahmen eines Dilthey-Fellowships der VolkswagenStiftung entstanden, der ich für Unterstützung und Geduld ausdrücklich danken möchte. Danken möchte ich ferner den studentischen Hilfskräften sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die Literatur beschafft haben und mit denen ich eine frühere Fassung diskutiert habe. Zu danken habe ich zudem der Leiterin des Merck Archivs Darmstadt, Frau Dr. Bernschneider-Reif, sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die tatkräftige Unterstützung bei den Recherchen. Herrn Prof. Dr. Louis Pahlow danke ich für patenthistorischen Rat, Herrn Prof. Dr. Martin Grininger für Rat in chemischen Fragen. Schließlich danke ich den beiden anonymen Gutachtern, die wertvolle Hinweise gaben. Verbliebene Fehler liegen natürlich in meiner Verantwortung.


Online erschienen: 2017-9-4

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Titelseiten
  3. Artikel
  4. Das wissenschaftliche Unternehmen
  5. Private club or public marketplace?
  6. Konventionen der Arbeitsintegration
  7. Bourgeois Aspirations: A biographical sketch of Hector Ledru, manufacturer and inventor (1798 to 1876)
  8. Aus aktuellem Anlass
  9. On Academic debate: A comment on the discussions between Leonhardt, Roelevink and Berghahn
  10. Quo vadis Kartelldiskurs?
  11. Rezensionen
  12. Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung 2016.
  13. Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911–1961 2016.
  14. Robert Fitzgerald, The Rise of the Global Company. Multinationals and the Making of the Modern World 2015.
  15. Jörn Brinkhus (Hg.),Kaiser Wilhelm II., Bremen und der Norddeutsche Lloyd. Die «Lebenserinnerungen» des NDL-Direktors Heinrich Wiegand (Schriften des Staatsarchivs Bremen, Bd. 54) 2017.
  16. Felix de Taillez, Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza 2017.
  17. Klaus Tenfelde/Toni Pierenkemper (Hrsg.), Geschichte des deutschen Bergbaus. Motor der Industrialisierung (Deutsche Bergbaugeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Bd. 3) 2016.
  18. Marcel Boldorf/Rainer Haus (Hrsg.), Die deutsche Kriegswirtschaft im Bereich der Heeresverwaltung 1914–1918 2016.
  19. Zur Rezension in der Geschäftsstelle eingegangene Bücher
  20. Mitteilungen
  21. Preis für Unternehmensgeschichte Ausschreibung 2018
  22. Business History Review
  23. Erratum zu: Erlebniswelt im Zeichen des Elches. Zur «Fabrikation der Sichtbarkeit» in der Geschichte von Abercrombie & Fitch
Heruntergeladen am 18.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zug-2017-1003/html
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