Home Jörn Brinkhus (Hg.),Kaiser Wilhelm II., Bremen und der Norddeutsche Lloyd. Die «Lebenserinnerungen» des NDL-Direktors Heinrich Wiegand (Schriften des Staatsarchivs Bremen, Bd. 54) 2017.
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Jörn Brinkhus (Hg.),Kaiser Wilhelm II., Bremen und der Norddeutsche Lloyd. Die «Lebenserinnerungen» des NDL-Direktors Heinrich Wiegand (Schriften des Staatsarchivs Bremen, Bd. 54) 2017.

  • Harald Wixforth
Published/Copyright: September 4, 2017

Industrie, Handel und Gewerbe in den deutschen Küstenländern sind geprägt von Schifffahrt, Schiffbau und der dazugehörigen Infrastruktur. Im Verlauf der Industrialisierung bildete sich hier eine spezifische maritime Wirtschaft heraus. Die wichtigsten Unternehmen der Branche waren bis heute jedoch nur selten Gegenstand einer intensiven, theoriegeleiteten unternehmenshistorischen Forschung. Dies gilt zum einen mit Blick auf die Leitungsstrukturen und die betriebliche Organisation, zum anderen für die Kapitalmobilisierung und die daraus resultierenden Finanzierungsmethoden. Zudem blieben viele Aspekte unberücksichtigt, welche die Entwicklung der maritimen Wirtschaft bestimmten. Dies gilt vor allem für das vielfach komplexe Verhältnis zur Politik. Ein wesentlicher Grund, der eine intensive Erforschung behinderte, war und ist die häufig unzureichende Quellenbasis. Ein großer Teil der archivalischen Quellen zu wichtigen Reedereien und Werften ist ebenso verloren gegangen wie der zu bestimmten verbandspolitischen Aktivitäten.

Daher ist es begrüßenswert, dass Jörn Brinkhus vom Staatsarchiv Bremen eine Quellenedition zu einem der wichtigsten Generaldirektoren des Norddeutschen Lloyds vorlegt, vor dem Ersten Weltkrieg einer der größten Reedereien weltweit. Lange Zeit vorhandenes Quellenmaterial zu diesem Unternehmen ist verloren gegangen, was die Quellenedition zu Wiegand umso wichtiger macht. Brinkhus betont in seiner Einleitung zu Recht, dass es dem langjährigen Generaldirektor des Norddeutschen Lloyds in seinen «Lebenserinnerungen» keineswegs darum geht, eine möglichst vollständige Autobiographie vorzulegen. Stattdessen versucht Wiegand in den kurz vor seinem Tode begonnenen Ausführungen, ausschnitthaft seine berufliche Tätigkeit in für ihn zentralen Feldern zu schildern. Überraschend ist dabei, dass er seinem Verhältnis zu Kaiser Wilhelm II. einen dominanten Platz einräumt, galt doch gerade Wiegand als ein Repräsentant der maritimen Wirtschaft, der – etwa im Gegensatz zu Albert Ballin von der HAPAG – eher distanzierte Beziehungen mit Wilhelm II. pflegte und dessen politisches Credo mehrfach kritisch beurteilte. Zu den großen Ideengebern und Vertrauten des Kaisers aus der Wirtschaft gehörte er keineswegs, sodass sich aus seinen Kontakten mit Wilhelm II. keine unmittelbaren Vorteile weder für ihn selbst noch für die von ihm geleitete Bremer Reederei gewinnen ließen. Dennoch unterlässt es Wiegand in seinen Lebenserinnerungen nicht, in zum Teil wilhelminisch-schwülstigem Pathos die Person des Kaisers zu heroisieren. In einer bunten Kompilation von Anekdoten versucht er, seine engen Kontakte mit dem deutschen Herrscherhaus zu unterstreichen. Die Zusammenkünfte mit dem Kaiser sind in der Regel jedoch ohne größere Folgen, wobei der gesellschaftliche Kontakt von Wiegand weder als Instrument für die Lancierung bestimmter eigener Interessen noch für die Positionierung der maritimen Wirtschaft bei anstehenden außen- und rüstungspolitischen Diskussionen genutzt wird. Nur bei der zur Diskussion stehenden Erweiterung der Hafenanlagen in Bremerhaven versuchte Wiegand, beim Kaiser intensiv für diesen Plan zu werben, offenbar mit Erfolg. In einem anderen Fall, der beabsichtigten Gründung eines großen «Schifffahrtstrusts», widersprach Wiegand dagegen heftig den von Wilhelm II. favorisierten Plänen und nahm damit eine andere Position als sein Kollege Ballin von der HAPAG ein, der damit endgültig zu einem der engen Vertrauten des Kaisers wurde. Der Dissens mit dem Herrscher beeinträchtigte das Verhältnis zwischen Wilhelm II. und Wiegand kurzfristig, rief für diesen jedoch langfristig keine negativen Folgen am Berliner Hof hervor.

Im zweiten, wesentlich kürzeren Abschnitt seiner Lebenserinnerungen behandelt Wiegand sein Verhältnis zur Reichsregierung in Berlin bzw. zu verschiedenen Ministerien und Dienststellen des Reiches. Hier verlässt er den vorherigen anekdoten- und elogenhaften Duktus und widmet sich nüchtern der Schilderung von Sachproblemen, welche die performance des Norddeutschen Lloyds im Speziellen und die der maritimen Wirtschaft im Allgemeinen belasteten. Hierzu zählten neben der Frage, wie der überseeische Postdienst am effizientesten zu gestalten sei, vor allem die steigende Flut von technischen Vorschriften, die von verschiedenen Reichsinstitutionen für den Bau von Schiffen erlassen wurden, sowie vor allem die unzureichende Infrastruktur im Transport- und Verkehrswesen, mit denen sich der Norddeutsche Lloyd an seinen Standorten Bremen und Bremerhaven konfrontiert sah. Dabei unterstreicht Wiegand wohl zurecht, wie hoch sein Verdienst bei der Lösung der anstehenden Probleme zu veranschlagen ist, versäumt jedoch nicht, seine Verhandlungspartner in den Berliner Ministerien zum Teil ausführlich zu charakterisieren.

Im dritten Teil seiner Lebenserinnerungen schildert Wiegand seine Tätigkeit in und für seine Heimatstadt Bremen, sowohl in seiner Funktion des Generaldirektors des Norddeutschen Lloyds als auch in seiner Rolle als Förderer von Kunst und Kultur. Dabei stilisiert er sich als weitsichtiger, ja geradezu visionärer Unternehmer und Verfechter einer gezielten Industrieansiedlungspolitik in Bremen und seinem Umland, dessen Pläne und Initiativen mehrfach an der «Kleinmütigkeit» von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik der Hansestadt scheiterten. Dennoch versäumt Wiegand es nicht, eine lange Liste von Projekten bei der Ansiedlung von Industrieunternehmen zu benennen, die auf seine Initiative zurück zu führen sind. In seiner Selbstsicht geriert er sich damit als einer der entscheidenden Protagonisten für den Ausbau Bremens als Industriestandort, allen Vorbehalten im Bremer Wirtschaftsbürgertum zum Trotz.

Den Abschluss des vorliegenden Bandes bildet eine kurze Würdigung Wiegands als Unternehmer an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, wobei Reinhard Krause vor allem dessen Auseinandersetzung mit Kaiser Wilhelm II. in der «Trustfrage» aufgreift und Wiegands Darstellung mit den Ergebnissen in der Literatur kontrastiert. Sowohl Krauses Ausführungen als auch Wiegands «Lebenserinnerungen» unterstreichen, wie wenig bisher in der wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschung über die Entwicklung der maritimen Wirtschaft und die Rolle der sie prägenden maßgeblichen Akteure und Entscheidungsträger bekannt ist. Bei aller gebotenen Quellenkritik, hervorgerufen durch Wiegands Gewichtung in seiner Darstellung und ihrem Duktus, lässt sich erahnen, welche Forschungsdesiderate hier bestehen. Daher bleibt zu hoffen, dass der vorliegende Band die Forschung dazu animiert, sich intensiv mit der vielfach komplexen und spannenden Geschichte der maritimen Wirtschaft in Deutschland zu beschäftigen.

Online erschienen: 2017-9-4

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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