Home Internationale Kapitalmarktinformationshaftung
Article Open Access

Internationale Kapitalmarktinformationshaftung

  • Chris Thomale EMAIL logo
Published/Copyright: June 10, 2020

In jüngerer Zeit hat sich das Europäische Kapitalmarktrecht als eigenständige Disziplin etabliert. Der Beitrag befasst sich mit der privaten Durchsetzung des Europäischen Kapitalmartkrechts aus internationaler Perspektive. Nach einer Klärung der Rechtsquellen dieses „Internationalen Kapitalmarktdeliktsrechts“, innerhalb dessen Unionsrecht und mitgliedstaatliches Recht eng ineinandergreifen, geht die Untersuchung den Fragen der internationalen Zuständigkeit sowie des Kollisionsrechts nach. Dabei werden auch Gerichtsstands- und Rechtswahlklauseln in die Betrachtung einbezogen.

Of late, European capital markets law (ECML) has been emerging as a discipline of its own. This article focusses on the private enforcement of ECML from an international perspective. After clarifying the legal sources of this European “International capital markets law of torts”, where EU law and member state law are intimately intertwined, the article moves on to answer the questions of international jurisdiction and conflicts of laws arising therein. Further attention is being given to choice of court and choice of law agreements.

I. Einführung

Das europäische Kapitalmarktrecht befindet sich in einem dialektischen Entwicklungsprozess von Integration und Ausdifferenzierung: Einerseits entspricht es der Fließrichtung des positiven Unionsrechts, den Harmonisierungsgrad des acquis communautaire stetig zu steigern. Dies wird in der jüngeren Aufwertung des allgemeinen Marktmissbrauchsrechts und Prospektrechts zu Verordnungen besonders deutlich, von denen sich die letzte sogar ausdrücklich dem Fernziel einer Kapitalmarktunion, also eines voll integrierten und harmonisierten EU-Kapitalmarkts verschreibt.[1]Andererseits stehen die Zeichen der Disziplin ‚Kapitalmarktrecht‘ auf Ausdifferenzierung. Die kapitalmarktrechtlichen Debatten der letzten Jahre zeigen, dass sich diese Materie längst als eigenes Rechtsgebiet etabliert hat. Erinnert sei etwa an die Kontroverse rund um das freiwillige Delisting, in der sich das Kapitalmarktrecht von den gesellschaftsrechtlichen oder gar eigentumsrechtlichen Schablonen der Vergangenheit als eigenständiges Recht des organisierten Handels von Finanzinstrumenten emanzipiert konnte.[2] Heute handelt es sich zunehmend um eine Spezialistenmaterie, die sich vom allgemeinen Verwaltungsrecht, Privat- und Unternehmensrecht abgekoppelt hat.

Im Recht der Kapitalmarktdelikte, das vorliegend als Kapitalmarktinformationshaftung umschrieben sei, tritt die dargestellte Spannung zwischen positivrechtlicher Integration und disziplinärer Ausdifferenzierung offen zutage: Eigentlich müsste das Leitmotiv eines unionsweit integrierten Kapitalmarkts Art und Umfang der privaten Rechtsbehelfe gegenüber Regelverletzungen mit umfassen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ausgerechnet das Flaggschiff des europäischen Kapitalmarktrechts, die MAR[3], äußert sich gar nicht zu privater Rechtsdurchsetzung, und auch etwa die Prospekt-VO[4] gibt in Art. 11 lediglich einen vagen Haftungsrahmen vor. Einer verbreiteten Auffassung zufolge soll dies auf kompetenzrechtlichen Beschränkungen der EU beruhen.[5] Möglicherweise liegt jedoch eine dogmatische Hypothese am nächsten: Das Kapitalmarktrecht muss im Feld der Kapitalmarktinformationshaftung auf Begriffe und Wertungszusammenhänge zurückgreifen, die es selbst nicht vorhält. Dabei stößt es auf zwei Probleme: Erstens hat es sich vom allgemeinen Privat- und Deliktsrecht entfernt und entfremdet. Dies zeigt bereits die Geburtsstunde der Kapitalmarktinformationshaftung in den USA: Für nahezu vierzig Jahre kam das US-amerikanische Kapitalmarktrecht im Wesentlichen ohne Privatrecht aus und ging erst dann dazu über, die objektivrechtlich formulierte „Rule 10b–5“[6] kurzerhand in eine private Anspruchsgrundlage umzudeuten,[7] deren Tatbestandsmerkmale frei geschöpft werden mussten.[8] In der EU kommt erschwerend hinzu, dass zweitens auch kein analoger Rückgriff auf ein gemeinsames Deliktsrecht möglich ist.[9] Vielmehr unterhält, wie rechtsvergleichende Studien immer wieder belegen, im Grunde jeder Mitgliedstaat seine eigene Delikts- und damit auch Kapitalmarktdeliktskultur.[10] So ist etwa, um nur ein plakatives Beispiel zu nennen, in Deutschland der Grundsatz verbreitet, kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten wegen ihrer objektiven Marktschutzrichtung nicht als Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB anzusehen,[11] während schon im in jeder Hinsicht benachbarten Österreich § 1311 ABGB selbstverständlich zum Anlegerschutz herangezogen wird.[12]

Die Vermittlung von harmonisiertem Kapitalmarktrecht und mitgliedstaatlichen Kapitalmarktdeliktsrechten hat das Internationale Privatrecht im weiteren Sinne auf den Ebenen der gerichtlichen Zuständigkeit und des anwendbaren Sachrechts zu leisten. Der folgende Aufsatz spürt dieser Vermittlungsleistung nach, indem zunächst die einschlägigen Rechtsquellen näher in Augenschein genommen werden (II.). Danach ist der Frage der gerichtlichen Zuständigkeit für Kapitalmarktdelikte insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Deliktsgerichtsstands in Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO nachzugehen (III.). Auf dieser Grundlage kann das vom zuständigen Gericht anzuwendende Sachrecht der Kapitalmarktinformationshaftung gemäß Art. 4 Rom II-VO bestimmt werden (IV.). Hinzuweisen ist weiterhin auf die bestehenden Möglichkeiten zur Gerichtsstands- und Rechtswahl (V.). Thesen halten die Ergebnisse der Untersuchung fest (VI.).

II. Rechtsquellen

Das Kapitalmarktrecht ist innerhalb der EU in weiten Teilen unionsrechtlich harmonisiert. Das Deliktsrecht fällt hingegen als solches in die Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten. Im Schnittbereich beider Felder, der Kapitalmarktinformationshaftung, ist das Unionskapitalmarktrecht porös fragmentiert. Das bedeutet, es regelt sektorspezifisch die Verfügbarkeit deliktsrechtlicher Ansprüche in weiten Teilen nicht (MAR, Transparenz-RiLi), in anderen Teilen gibt es den Mitgliedstaaten lediglich einen Umsetzungsrahmen vor (Art. 11 Prospekt-VO) bis hin zur unmittelbaren Gewährung von Schadenersatzansprüchen, deren tatbestandlich Ausformung jedoch wiederum den Mitgliedstaaten überlassen wird (Art. 35 a Rating-VO; Art. 11 PRIIPS-VO). Dieses differenzierte Vorgehen ist kompetenziell von Art. 114 AEUV gedeckt und erlaubt keine darüberhinausgehende Berufung auf den Grundsatz des effet utile gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV.

Anders als das Deliktssachrecht ist jedoch das Internationale Deliktsrecht in der EU durch die Rom II-VO vollharmonisiert. Die Bereichsausnahmen nach Art. 1 Abs. 2 lit c), d) Rom II-VO sind nicht einschlägig. §§ 97 f WpHG und §§ 9 Abs. 3, 10 Nr. 2, 11 Abs. 3, 14 Abs. 3, 15 Abs. 3 WpPG enthalten neben deliktssachrechtlichen auch deliktskollisionsrechtlich zu qualifizierende internationale Tatbestandseingrenzungen (Inlandsbezug). Diese einseitig negativen Kollisionsnormen widersprechen der Rom II-VO und gehen auf Entscheidungen des deutschen Gesetzgebers in den 90er Jahren zurück, als dieser noch zum Erlass spezieller Kollisionsnormen für Kapitalmarktdelikte berechtigt war. Sie sind somit wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und gleichzeitig wegen eines Wandels der Normsituation nicht mehr anzuwenden.[13]

III. Internationale Zuständigkeit

1. Emittentensitzgerichtsstand nach Art. 4, 63 Abs. 1 Brüssel Ia-VO

Die Analyse der internationalen Kapitalmarktinformationshaftung muss bei der Frage beginnen, welche Gerichte für solche Klagen zuständig sind. Bei Klagen gegen einen Emittenten[14] sind das grundsätzlich nach Art. 4 Brüssel Ia-VO die Gerichte des Emittentensitzstaats, worunter gemäß Art. 63 Abs. 1 Brüssel Ia-VO nach Wahl des Klägers Satzungssitz, Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung verstanden werden dürfen. Wird so die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte begründet, erklärt § 32 b Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 1 ZPO die Gerichte des materiellrechtlich zu bestimmenden Emittentensitzes für örtlich ausschließlich zuständig. Bei Emittenten deutscher Rechtsform[15] sind also nach §§ 5, 278 AktG die Gerichte des Satzungssitzes ausschließlich örtlich zuständig.

2. Verbrauchergerichtsstand nach Art. 18 Abs. 1 Alt. 2 Brüssel Ia-VO

Neben dem allgemeinen Emittentensitzgerichtsstand kommen nach Wahl des Klägers auch die besonderen Gerichtsstände der Brüssel Ia-VO in Betracht. Der Versuch, hier über die Figur des Anlegerverbrauchers den Gerichtsstand des Art. 18 Abs. 1 Alt. 2 Brüssel Ia-VO fruchtbar zu machen, ist zu Recht gescheitert,[16] weil dies eine unmittelbare Beziehung zwischen klagendem Anleger und beklagtem Emittenten voraussetzt,[17] die in den hier interessierenden Konstellationen nicht vorliegt. Bedenkenswerter ist jedoch die Annahme eines ausländischen Deliktsgerichtsstands gemäß Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO, dem folgend nachzugehen ist.

3. Deliktsgerichtsstand nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO

Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO gewährt einen Wahlgerichtsstand „vor dem Gericht des Ortes, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist oder einzutreten droht.“ Dieser liegt gemäß einer lange gefestigten Rechtsprechung des EuGH sowohl am „Ort des ursächlichen Geschehens als auch [am] Ort der Verwirklichung des Schadenserfolges“ (sog. Ubiquitätsprinzip).[18] Deshalb steht dem Kläger die freie Wahl zwischen dem Handlungsort einerseits und dem Erfolgsort andererseits zu.[19]

a) Handlungsort

Der Handlungsort im Sinne dieser Definition wird als (der!) Ort des ursächlichen Geschehens traditionell eng verstanden und auf einen einzigen, idealerweise sach- und beweisnächsten Ort konzentriert.[20] Dieser „primäre Handlungsort“[21] wird bei Distanzdelikten dort angenommen, wo das deliktsrechtlich relevante Geschehen „seinen Ausgang nahm.“[22] Die mehrdeutige Formulierung, bei Kapitalanlagebetrug komme es auf den Ort an, „an dem der Anleger getäuscht wurde“,[23] gründet auf einer Entscheidung, in der ein Anlagebetrüger einen Hausbesuch beim Anleger machte und deshalb ein Handlungsort am Anlegerwohnsitz anzunehmen war.[24] Genauer müsste es also heißen, dass der primäre Handlungsort dort liegt, wo die wesentliche Entscheidung zur Täuschungshandlung in Gang gesetzt wurde. Dieser Ort trifft bei Gesellschaften typischerweise mit ihrem Verwaltungssitz zusammen,[25] also demjenigen Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zum deliktischen Verhalten getroffen wurden.

Diese Regel bestätigt sich im Recht der Kapitalmarktinformationshaftung: Bei der Prospekthaftung kommt etwa wegen des genannten Konzentrationsprinzips nicht jeder einzelne Ort in Betracht, an dem der Prospekt (auch) verbreitet wurde. Vielmehr ist als Handlungsort der eine „Prospektentscheidungsort“, also der Verwaltungssitz des Emittenten, anzunehmen. Als Handlungsort einer Ad-hoc-Mitteilung ist dementsprechend der „Mitteilungsentscheidungsort“ ebenso am Verwaltungssitz gegeben. Dies gilt gleichermaßen für Tun und Unterlassen.[26]

b) Schadensort

Der Schadensort wird als (der!) Ort der Verwirklichung des Schadenserfolges dort konzentriert, wo sich ein Schaden zuerst konkret zeigt.[27] Nur dieser primäre „Erstschaden“ wirkt also erfolgsortsbegründend.[28] An den im Wege der Kapitalmarktinformationshaftung geltend gemachten Anlegerschäden ist dabei problematisch, dass es sich um reine Vermögensschäden handelt, deren Lokalisierung also nicht an einem fassbaren Objekt, etwa einer beschädigten Sache, festgemacht werden kann. Das Problem zählt zu den am heftigsten diskutierten des internationalen Zivilprozessrechts und ist Gegenstand mehrerer laufender Vorabentscheidungsverfahren.[29] Im überbordenden Schrifttum ist die Frustration über die Fragestellung mittlerweile derart angewachsen, dass sogar schlichtweg contra legem respektive de lege tollenda für die Abschaffung des Schadensortsgerichtsstands bei reinen Vermögensschäden eingetreten wird.[30] In der gebotenen Kürze[31] soll dennoch eine kunstgerechte Anwendung dieser Alternative des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO im Sinne der bisherigen Rechtsprechung des EuGH auf die Kapitalmarktinformationshaftung skizziert werden.

aa) EuGH: Primärschadensvollendung als Kernkriterium

Das Fallrecht des EuGH zur internationalen Zuständigkeit bei Deliktsklagen wegen reiner Vermögensschäden wird von drei Anlegerverfahren österreichischen Ursprungs geprägt.[32] Insgesamt schält sich aus der EuGH-Rechtsprechung zu Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO und seinen entsprechenden Vorgängernormen eine relativ schlichte ratio decidendi im Umgang mit dem Schadensort bei reinen Vermögensschäden heraus:[33] Häufig kommt es auf die konkrete Vermögensverfügung – typischerweise: Zahlung – an. Betrifft diese, wie überwiegend verbreitet, Giralvermögen bei einem Kreditinstitut, gilt als Erfolgsort der Sitz ebendieses Instituts und zwar auch und selbst dann, wenn dieser Sitz „zufällig“ im tatsächlichen Ergebnis mit dem Wohnsitz des Klägers zusammenfällt.[34] Liegt der konkrete Erstschaden hingegen bereits im Abschluss eines Vertrags,[35] scheint der Vertragsort,[36] jedenfalls aber nicht der Ort maßgeblich zu sein, vom dem aus die vertragliche Verpflichtung möglicherweise erfüllt wurde.

Die Gegenüberstellung der Sachen Kolassa und Universal Music machen die Überlegung hinreichend plastisch: In Kolassa war ein Anleger getäuscht und so dazu bewegt worden, Geld auf ein Konto der Barclays Bank zu überweisen. Bis zur Tätigung dieser Überweisung lag nach vertretbarer Lesart noch kein vollendeter Schaden vor, weil Herr Kolassa weiterhin jederzeit die Überweisung hätte unterlassen und einem entsprechenden Leistungsverlangen die dolo agit-Einrede entgegenhalten können. Folglich war es konsequent, dass der EuGH an die Überweisung anknüpfte und dementsprechend, nicht zuletzt in Einklang mit Art. 2 Nr. 9 lit. iii) EuInsVO und Art. 4 Nr. 4 lit. a) Kontenpfändungs-VO[37], den Eintritt eines vollendeten Schadens am Sitz der anlegerkontoführenden Bank annahm. Anders in Universal Music: Hier hatte der beklagte Anwalt kunstfehlerhaft in Vertretung der Klägerin einen Vergleichsvertrag der Klägerin mit einer dritten Partei ausgehandelt. Weil die Klägerin die behauptete Pflichtverletzung ihres Anwalts gegenüber dieser dritten Partei als exceptio ex iure tertii nicht einbringen konnte, war hier bereits im Vertragsschluss selbst ein vollendeter Schaden zu sehen.

bb) Transaktion als Erstschaden

Bei Klagen gegen Emittenten auf Grundlage von Kapitalmarktinformationshaftung ist nach dem Gesagten für die Frage des Schadensorts entscheidend, wo der vollendete Erstschaden eintritt. Ganz überwiegend dürfte dies der Transaktionsort sein.[38] Denn wie in Universal Music ist das Anlagerechtsverhältnis des Anlegers etwa zu einem Broker oder anderen Intermediären sowie sein Transaktionsrechtsverhältnis zu einem anderen Anleger auf dem Sekundärmarkt nicht identisch mit seinem Informationsrechtsverhältnis gegenüber dem Emittenten. Der primäre Erstschaden tritt also genau dann ein, wenn die Transaktion des gegenständlichen Finanzinstruments durchgeführt wird. In dieser Transaktion liegt der Erstschaden des Anlegers.

Dieses Ergebnis findet sich in der Tatsache bestätigt, dass die Kapitalmarktinformationshaftung ganz überwiegend auch sachrechtlich ein Transaktionserfordernis aufstellt. So kann ein Anleger etwa nur dann Ansprüche gemäß § 9 WpPG oder §§ 97 f WpHG geltend machen, wenn er das gegenständliche Finanzinstrument auch tatsächlich erworben respektive veräußert hat.[39] Das täuschungsbedingte Absehen von einer Transaktionsgelegenheit ist danach also nicht geschützt. Aus dieser Struktur ergibt sich ein direkter Transaktionsbezug der Kapitalmarktinformationshaftung, der vorliegend als „Kapitalmarktinformationserstschaden“ im prozessualen Sinne gespiegelt wird.[40]

cc) Marktort als Transaktionsort von Börsengeschäften

Nach dem Gesagten kommt es entscheidend darauf an, wo eine gegebene Transaktion, auf welcher der Kapitalmarktinformationshaftungsanspruch des Anlegers beruht, zu verorten ist. Im traditionellen IPR hat der Vertragsabschlussort als Anknüpfungsmoment einen schlechten Stand, weil er als „zufällig und flüchtig“[41] gilt.[42] Doch immerhin wird er weiterhin etwa nach Art. 11 Abs. 1 Alt. 2 Rom I-VO als alternatives Formstatut und nach Art. 13 Rom I-VO als kollisionsrechtliche Rechtsscheinsgrundlage[43] herangezogen. Vor allem fällt jedoch ins Gewicht, dass die traditionellen Einwände der Zufälligkeit und Flüchtigkeit sowie die Behauptung, eine Abschlussortanknüpfung sei bei Distanzverträgen bereits strukturell nicht möglich,[44] bei Börsengeschäften ins Leere gehen. Schon die allgemeine Rede davon, ein Finanzinstrument werde „an der FWB“ oder „at the NYSE“ gehandelt, bezeugt, dass eine verkehrstypische Zuordnung dieser Transaktionsverträge zu den genannten Handelsplätzen[45] stattfindet. Der Schaden, dessen Ersatz die Kapitalmarktinformationshaftung verlangt, besteht zudem nach einem verbreiteten, gerade in Deutschland populären Verständnis, typischerweise in der Beeinflussung des Börsenpreises und stellt somit einen tatbestandlichen Bezug zum Marktort als Preisbildungsort her.[46] Ebendiese Wertung vollziehen schließlich auch Art. 4 Abs. 1 lit h), 6 Abs. 4 lit d) und e) i. V. m. Erwägungsgründen 28 ff Rom I-VO nach, wenn sie den Transaktionsvertrag selbst sogar gegenüber Verbrauchern dem Marktort zurechnen. Dieses System ist einfach und interessengerecht. Wird ein Finanzinstrument an mehreren Handelsplätzen gleichzeitig gehandelt, kommt es auf den konkreten Markt an, an dem die streitgegenständliche Transaktion stattgefunden hat. Dies ist auch unter dem Gesichtspunkt der best execution-Pflicht des Brokers nach Art. 27 MiFID II-RiLi[47] unproblematisch: Erstens ist die Anlageortentscheidung ohnehin ein selbständiger privatautonomer Akt mit konkreten Rechtsfolgen für den Anleger etwa hinsichtlich des anwendbaren Börsenrechts[48] und deshalb ein „relevanter Aspekt“ im Sinne von Art. 27 Abs. 1 MiFID II-RiLi, und zweitens behält der Anleger unstreitig auch insoweit das Direktionsrecht, weshalb der vom Broker für ihn gewählte Marktort ihm zuzurechnen bleibt.[49]

Der Börsen- und Marktort wirkt in einer seit Jahrhunderten stetig wachsenden Virtualisierung des Börsenhandels[50] gleichsam als Verankerung dieser noumenalen Vorgänge in der empirisch wahrnehmbaren, phänomenalen Welt. Diese Verankerung führt nach hier vertretener Auffassung dazu, dass auch die kapitalmarktinformationshaftungsauslösende und zugleich einen Erstschaden im prozessualen Sinne begründende Transaktion an dem Sitz der Börse zu verorten ist, an der sie stattfindet. Der Virtualisierung des Börsenmarkts selbst zur sitzlosen Handelsplattform ist mangels überzeugender Alternativen entsprechend zu begegnen: Die Anknüpfung muss an den Betreibersitz[51] erfolgen.

dd) Vis attractiva mercatus des primären institutionellen Marktorts für OTC-Transaktionen

Wo aber sind Transaktionen zu verorten, die nicht an einem Handelsplatz, sondern außerhalb eines solchen durchgeführt werden? Diese unter dem Begriff des Over-the-counter (OTC) zusammengefassten Geschäfte sind nicht vernachlässigbar, sondern gerade bei größeren Paketen von Finanzinstrumenten sogar üblich und reichen von direkten face-to-face-Transaktionen über alternative Handelssysteme (ATS) bis hin zu den berüchtigten „dark pools“[52]. Der Anleihemarkt wird sogar überwiegend OTC abgewickelt. Scheinbar können hier die Transaktionen an beliebigen Orten stattfinden, was zu einem kaum rechtssicheren und vorhersehbaren Deliktsgerichtsstand führen würde.[53] Doch lässt sich auch diese Herausforderung bewältigen, wenn man einerseits das Konzentrationsprinzip des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO und andererseits die wirtschaftliche Ausstrahlungswirkung einer Börsennotierung bedenkt:

Wie jeder Markt ist der börslich organisierte und institutionalisierte Markt oder sonstige Handelsplatz in besonderem Maße zugleich – wenn nicht sogar in erster Linie – ein Referenz- und Bewertungssystem.[54] Die Tatsache, dass ein Finanzinstrument dort gehandelt wird, vermittelt diesem eine verlässliche Bepreisung und senkt so die Kapitalkosten des Emittenten. Diese Eigenschaft bildet einen wesentlichen Grund, warum sich Emittenten überhaupt für ein Listing entscheiden.[55] Die Preisbildung im OTC-Markt orientiert sich deshalb – unbeschadet idiosynkratischer Abweichungen etwa dann, wenn mit dem Erwerb hinreichend großer Aktienpakete Kontrollerlangung einhergeht – ganz wesentlich an den Handelsplatzpreisen. Dementsprechend müsste beispielsweise auch der Nichterfüllungsschaden, wenn ein Verkäufer bestimmte Finanzinstrumente OTC zusagt, dann jedoch mit ihrer Beschaffung ausfällt, am Börsenpreis orientiert werden.[56]

Wegen der beschriebenen referenziellen Ausstrahlungswirkung des institutionellen Marktorts ist auch die OTC-Transaktion bei wirtschaftlicher Betrachtung engstens mit diesem verknüpft. Da das Konzentrationsprinzip nun zur Festlegung genau eines Schadensortes drängt, liegt zunächst nichts näher, als den institutionellen Marktort auch als räumliche Verankerung von OTC-Transaktionen heranzuziehen. Es ergibt sich eine bündelnde Anziehungskraft, eine vis attractiva mercatus, des institutionellen Referenzmarkts.[57] Dies gilt auch dann, wenn, wie insbesondere im Fall von Anleihen, der überwiegende Teil des Anleihevolumens OTC gehandelt wird.[58] Denn hier steht die Referenz- und Bewertungsfunktion des institutionellen Markts sogar im Vordergrund, weshalb dieser erst recht als Gravitationszentrum des Anleihehandels herangezogen werden kann. Ist das Finanzinstrument an mehreren institutionellen Märkten zugelassen und bezieht sich die OTC-Transaktion nicht ausdrücklich oder durch Auslegung ermittelbar auf genau einen derselben, muss der primäre Referenzmarkt und entsprechend der primäre institutionelle Marktort ermittelt werden.[59] Entscheidend ist dann, wessen Marktpreise für den Handel in einem bestimmten Finanzinstrument nach allgemeiner Verkehrsanschauung bestimmend sind.

c) Ergebnis

Nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO steht dem Kläger wahlweise ein Deliktsgerichtsstand am Handlungsort der Kapitalmarktinformationspflichtverletzung sowie am Schadensort des daraus resultierenden Anlegerschadens zur Verfügung. Während Handlungsort und Emittentensitz konvergieren, liegt der Schadensort cum grano salis am Sitz des Handelsplatzes, an dem das streitgegenständliche Finanzinstrument, dessen Transaktion dem Haftungsanspruch zugrunde liegt, gehandelt wurde. Somit bietet Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO auf dem Feld der Kapitalmarktinformationshaftung als Wahlalternative zum Emittentensitzgerichtsstand einen Deliktsgerichtsstand am Börsensitz.

4. § 32 b ZPO als Anerkennungs- und Vollstreckungsschutz

§ 32 b ZPO begründet, wie gezeigt, im Fall des Emittentensitzgerichtsstands nach Art. 4, 63 Abs. 1 Brüssel Ia-VO die örtliche Zuständigkeit der Gerichte des Satzungssitzes als ausschließliche und damit insbesondere nach § 40 Abs. 2 Nr. 2 ZPO örtlich derogationsfeste Zuständigkeit. Auf den Deliktsgerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO ist § 32 b ZPO hingegen nicht anzuwenden, weil dieser nicht nur die internationale, sondern zugleich die örtliche Zuständigkeit[60] regelt. Der augenscheinliche Konzentrationszweck des § 32 b ZPO wird so konterkariert, weil nicht einmal dann, wenn Emittentensitz und Deliktsgerichtsstand beide in Deutschland liegen, eine örtliche Konzentration am Satzungssitz möglich ist.[61]

Die eigentliche Stoßrichtung der Norm liegt dementsprechend nicht auf dem Feld der direkten Zuständigkeit, sondern auf demjenigen der internationalen Urteilsanerkennung und Urteilsvollstreckung:[62] Deutsche Gerichte können auf Grundlage von §§ 32 b i. V. m. 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen gegen Inlandsemittenten untersagen, wenn diese Urteile in Staaten ergangen sind, die nicht den Sonderregimen der Art. 36 ff Brüssel Ia-VO oder der Art. 32 ff LugÜ unterfallen, also weder in der EU noch in der Schweiz, Norwegen oder Island erlassen worden sind. In Betracht kommen insbesondere Urteile aus den USA.[63]

5. Zwischenresumee

Für Klagen aus Kapitalmarktinformationshaftung sind im Wesentlichen die Gerichte am Emittentensitz und diejenigen am Marktort, also typischerweise: am Börsensitz, zuständig. Zugleich sind deutsche Emittenten vor der Anerkennung und Vollstreckung drittstaatlicher Urteile gegen sie geschützt.

IV. Anwendbares Recht

1. Ausgangslage: Börsensitz als Anknüpfungsmoment des Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO

a) Verhältnis Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO zu Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO

Gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist „auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt, unabhängig davon, in welchem Staat das schadensbegründende Ereignis oder indirekte Schadensfolgen eingetreten sind.“ Dazu erläutert Erwägungsgrund 17 beispielhaft, „bei Personen- oder Sachschäden“ solle „der Staat, in dem der Schaden eintritt, der Staat sein, in dem die Verletzung erlitten bzw. die Sache beschädigt wurde.“ Gemeint ist mithin der Ort der primären Rechtsguts- oder Interessenverletzung.[64] Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis dieses „Schadenseintrittsorts“ zum Schadensort im Sinne des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO auf:

Grundsätzlich ist die Ermittlung des zuständigen Deliktsgerichtsstands von der Frage nach dem anwendbaren Sachrecht fundamental zu unterscheiden: Während etwa Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO einen Wahlgerichtsstand festlegt und noch dazu in sich die Wahl zwischen Handlungsort und Schadensort gewährt, geht es in Art. 4 Rom II-VO um die Festlegung des einen anwendbaren Rechts. Während Art. 4 Rom II-VO der flächige Verweis auf ein Staatsgebiet genügt, müssen in Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO sprengelscharf, also bis auf den einzelnen Gerichtsbezirk, die international und örtlich zuständigen Gerichte bestimmt werden.[65] Diese prinzipielle Selbständigkeit von Deliktszuständigkeit und Deliktskollisionsrecht steht gleichwohl nicht der Aspiration entgegen, dass beide nach Möglichkeit im „Einklang“ miteinander auszulegen und anzuwenden sind.[66]

b) Börsensitz als Schadenseintrittsort

Der Schadenseintrittsort gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO weist semantisch nahezu eine Kongruenz zum Schadensort des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO. Bei Lichte besehen liefert das „unabhängig davon [...]“ des Normtextes sogar genau die Präzisierung des Schadenseintrittsorts als primären Schadenseintrittsort, welche bei der Auslegung des Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO durch Judikatur und Schrifttum entwickelt worden ist. Somit erscheint es gerechtfertigt, die umfangreiche Rechtsprechung zum Schadensort bei der Auslegung des Schadenseintrittsorts heranzuziehen, der, soweit ersichtlich, für sich noch nicht Gegenstand einer Entscheidung des EuGH gewesen ist.[67] Dementsprechend ist auf einen Anspruch aus Kapitalmarktinformationshaftung das Sachrecht anzuwenden, das am primären Marktort, mithin dem Börsensitz gilt. Dies wird nicht zuletzt dem marktbezogenen Regulierungswettbewerb gerecht: Gibt es ein Ringen auf dem „Markt der Märkte“ um die beste Regulierung, kann das Kollisionsrecht diesen Metamarkt nur dann sinnvoll orchestrieren, wenn es auch dem Marktortrecht zur Anwendung verhilft.[68] Der Marktort wird bereits von bedeutenden Stimmen im Schrifttum im Ergebnis als Anknüpfungsmoment favorisiert, nur glaubt man, dieses Ergebnis durch eine Analogie zu Art. 6 und Erwägungsgrund 21 Rom II-VO[69], mittels der Ausweichklausel nach Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO[70] oder sogar überhaupt lediglich de lege ferenda[71] einfordern zu müssen. Diese methodisch höchst problematischen Verrenkungen[72] sind indes, wie gezeigt, nicht erforderlich, weil bereits der Schadensort selbst mit dem Marktort identisch ist.[73]

2. Keine Überlagerung durch das Herkunftslandsprinzip

Im Schrifttum wird erwogen, über Art. 27 Rom II-VO dem Herkunftslandsprinzip zur Anwendung zu verhelfen. Auf dem Feld der Prospekthaftung soll das im Ergebnis zur kategorischen Anwendbarkeit des Emittentensitzrechts führen.[74] Dazu muss Art. 11 Prospekt-VO allerdings ein kollisionsrechtlicher Gehalt unterstellt werden, der weder in Wortlaut noch Gesetzgebungsgeschichte ersichtlicherweise angelegt ist. Ebensowenig trägt die Behauptung, mit der Eröffnung eines mitgliedstaatlichen Umsetzungsspielraums gehe ein wechselseitiges Anerkennungsgebot einher, welches mittelbar das Herkunftsstaatsprinzip implementiere.[75] Dies erscheint zirkulär, weil nicht ersichtlich ist, warum es dem Aufnahmemitgliedstaat eher zuzumuten sein soll, die Anwendung fremden Prospekthaftungsrechts zu dulden, als dem Herkunftsstaat, sein eigenes Haftungsrecht nicht extraterritorial angewendet zu sehen.[76]

Neben seiner fehlenden positiv-rechtlichen Fundierung[77] ist dem Herkunftslandsprinzip vorliegend entgegenzuhalten, dass es strukturell nicht auf privatrechtliche Rechtsverhältnisse, sondern auf öffentliches Aufsichtsrecht und öffentliche Aufsichtszuständigkeiten ausgelegt ist.[78] Dies zeigt sich auch und gerade in Art. 2 lit. m) Prospekt-VO. Das tieferliegende Problem wird teilweise darin gesehen, dass das Herkunftslandsprinzip einseitig dem Mobilitätsbegünstigten – hier also: dem Emittenten – zugute komme und somit Zweit- und Drittbetroffene – hier also: den Anleger – vernachlässige.[79] Diese Kritik verfängt grundsätzlich, trifft jedoch noch nicht den Kern der Sache: Auch als komplexitätsreduzierende Reserveanknüpfung, als kollisionsrechtliche ultima ratio, die jedenfalls dem allseitigen Rechtssicherheits- und Vorhersehbarkeitsinteresse dient, könnte das Herkunftslandsprinzip fruchtbar gemacht werden.[80] Indes besteht ein solches Bedürfnis heute angesichts weitgehend harmonisierten Kapitalmarktpublizitätsrechts und Deliktskollisionsrechts nicht mehr. Deshalb ist eine abweichende Anknüpfung anhand des Herkunftslandsprinzips hier nicht angezeigt.

3. Keine Korrektur zu Gunsten von Emittentenstatut oder Informationsstatut

In der Literatur sind auch Gegenstimmen zur Marktortanknüpfung verbreitet. Hervorzuheben sind zwei Ansätze, die sich beide auf die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO berufen.

a) Ausweichanknüpfung an das Emittentenstatut

aa) Hypothese

Art. 156 schwIPRG gibt dem Prospekthaftungsgläubiger ein Wahlrecht zwischen dem „Recht des Staates [...], in dem die Ausgabe erfolgt ist“ und „dem auf die Gesellschaft anwendbaren Recht“. Diese letztere lex societatis, also das Gesellschaftsstatut, steht im Zentrum eines Vorschlags von Ringe und Hellgardt, Kapitalmarktinformationshaftung, soweit sie Emittenten betrifft, dem Gesellschaftsstatut des Emittenten zu unterwerfen.[81] Dies beruht auf zwei Grundannahmen: Erstens soll der überragende, wenn nicht alleinige Zweck der Kapitalmarktinformationshaftung darin liegen, einen Anreiz zur Einhaltung von „corporate governance“ zu setzen. Der Abschreckungseffekt dieser Haftung soll nämlich dazu führen, dass die Transparenzregeln des Marktes besser eingehalten und so der Principal-Agent-Konflikt zwischen Aktionären und Geschäftsleitung abgeschwächt wird.[82]Zweitens folgten, so die Behauptung, sowohl das Gesellschafts- als auch das Kapitalmarktrecht cum grano salis dem Satzungssitzrecht des Emittenten.[83] Deshalb solle der Einfachheit halber auch die Kapitalmarktinformationshaftung diesem Statut zugeschlagen werden.

bb) Kritik

Dieser Vorschlag kann nicht überzeugen. Schon die erste Prämisse ist angreifbar, weil sie faktisch den Gedanken des Anlegerschutzes durch denjenigen des Gesellschafterschutzes ersetzen möchte, was jedenfalls nicht dem heutigen positiven EU-Kapitalmarktrecht entspricht.[84] Auch die zweite Prämisse liegt fern: Das heutige positive EU-Kapitalmarktrecht knüpft grundsätzlich an den Markt an,[85] wie etwa Art. 1 Abs. 1, 16 Transparenz-RiLi[86] und zuletzt Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Erwägungsgrund 70 Prospekt-VO sowie Art. 2 Abs. 1 MAR belegen. Es erstreckt sich also insbesondere auch auf Drittstaatenemittenten und nach Art. 2 Abs. 4 MAR[87] auf Handlungen, die in Drittstaaten vorgenommen werden,[88] aber nicht auf drittstaatliche Kapitalmärkte. Lediglich bei der Koordinierung behördlicher Zuständigkeiten innerhalb des EWR wird, etwa nach Art. 2 Abs. 1 lit. i) Ziff. i) Spiegelstrich 1, Art. 19 Abs. 1 und 21 Abs. 1 Transparenz-RiLi oder Art. 2 lit. m) Ziff. i) Prospekt-VO, die herkunftsmitgliedstaatliche Zuordnung nach dem Satzungssitz vorgenommen. Damit geht zwar nach allgemeinen Grundsätzen auch das anwendbare Aufsichtssachrecht einher,[89] doch ist gerade dieses in wesentlichen Teilen durch harmonisierendes Sekundärrecht wie insbesondere zuletzt die Prospekt-VO vereinheitlicht worden.[90] Das Marktmissbrauchsrecht ist seit Inkrafttreten der MAR sogar im gesamten EWR vollständig harmonisiert. Dass mitgliedstaatliche Normen, wie etwa § 32 b ZPO, den Emittentensitz im Fokus haben, kann schließlich zur unionsrechtlichen Anknüpfungsfrage überhaupt nichts beitragen.[91]

Der bedenkenswerte Kern der Ausführungen von Ringe und Hellgardt liegt somit nicht in der Begründung des Emittentensitzes als Anknüpfungsmoment, sondern in dem impliziten Vorschlag, das Recht der Kapitalmarktinformationshaftung kollisionsrechtlich akzessorisch am Informationspflichtstatut zu orientieren.[92] Dem ist folgend nachzugehen.

b) Ausweichanknüpfung an das Informationspflichtstatut

aa) Hypothese

Einer Auffassung im Schrifttum zufolge soll das Haftungsstatut an das Informationspflichtstatut gekoppelt werden.[93] Dahinter steht, wie beim oben diskutierten Vorschlag einer Anknüpfung an das Emittentenstatut überhaupt, erstens die Prämisse, dass die Kapitalmarktinformationshaftung ganz vorrangig der Verhaltenssteuerung durch Abschreckung diene, weshalb Haftung und Informationspflicht untrennbar zusammengehörten.[94]Zweitens sollen allgemein Friktionen zwischen Informationspflichtstatut und Haftungsstatut vermieden werden. Die praktische Spitze dieser Erwägung liegt im prospektrechtlichen Prinzip der Einmalzulassung nach dem Europäischen Passsystem gemäß Art. 25 f Prospekt-VO: Ist ein Prospekt einmal im Herkunftsmitgliedstaat gebilligt worden, wird er in allen anderen Mitgliedstaaten anerkannt und muss diesen und der ESMA lediglich „notifiziert“ werden. Dieses Prinzip soll nun aus Vereinfachungsgründen auch auf das Haftungsrecht erstreckt werden.[95] Eine weitere Ableitung dieser Akzessorietät wird drittens teilweise darin gesehen, dass die Kapitalmarktinformationshaftung unmittelbar der Verwaltungszuständigkeit für die Überwachung der Informationspflicht folgen soll. Deshalb seien etwa wegen der Zuständigkeit der BaFin zur Überwachung der Ad-hoc-Publizität von Inlandsemittenten nach § 2 Abs. 14–16 WpHG und Art. 6 DelVO 2016/522[96] die deutschen Haftungsvorschriften der §§ 97 f WpHG auch dann anzuwenden, wenn diese an einer ausländischen Börse notiert seien.[97]

bb) Kritik

Zur Prämisse der alleinigen Orientierung der Kapitalmarktinformationshaftung am Regelungszweck der Verhaltenssteuerung kann auf das oben Gesagte verwiesen werden. Im Gegenteil zeigt gerade die Schadensortanknüpfung in Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO, dass auch der EU-Kollisionsgesetzgeber nicht den verhaltensteuerungsnahen Handlungsort, sondern den mit der Ausgleichsfunktion des Deliktsrechts verknüpften Schadensort im Vordergrund sieht. Darin liegt zugleich eine komplexere Konzeption der Verhaltenssteuerung, die das Verhalten von Emittent und Anleger in der Gesamtschau nach dem Grundsatz des cheapest cost avoiders aufeinander abstimmt.[98]

Auch der Einwand etwaiger Friktionen zwischen Informations- und Haftungsstatut kann nicht überzeugen. Zunächst ist schon die Grundthese, Informationsstatut und Haftungsstatut seien notwendiger- oder auch nur üblicherweise eng aufeinander abgestimmt, nicht belegt.[99] Denn während das Informationsstatut weitestgehend unionsrechtlich vereinheitlicht ist, ist dies für das Deliktssachrecht nicht der Fall. Gerade eine Erstreckung des Prinzips der Einmalzulassung auf das Haftungsrecht wäre im Gegenteil sogar außerordentlich bedenklich. Denn es gäbe insbesondere Drittstaatenemittenten neben einer Billigung drittstaatlichen Prospekt- und Haftungsrechts nach Art. 29 Prospekt-VO[100] zusätzlich gemäß Art. 2 lit. m) Ziff. iii) Prospekt-VO die Wahl zwischen allen mitgliedstaatlichen Prospekt- und Haftungsrechten.[101]

Wenn die Gegenmeinung schließlich sogar die verwaltungsrechtliche Überwachungszuständigkeit selbst als Anknüpfungsmoment heranzieht, vermischt sie völlig heterogene Ordnungssysteme. Ihr Missverständnis mag darin liegen, dass typischerweise (!) Aufsichtssachrecht und behördliche Zuständigkeit ein Junktim bilden. Entscheidend ist jedoch allein das Aufsichtssachrecht selbst. Ist dieses, wie etwa im Fall der MAR, unionsweit vollständig harmonisiert, nimmt dies bei der Entscheidung zwischen mitgliedstaatlichen Haftungsrechten dem Informationsstatut und damit auch der lediglich auf dieses indiziell hinweisenden, internationalen Behördenzuständigkeit jeden kollisionsrechtlichen Gehalt.[102]

c) Gesamtwürdigung

Die dargestellten Ansätze hätten die Regelanknüpfung an den Marktort gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO argumentativ zu überwinden, was gemäß Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO zwar möglich, aber nur bei zwingenden Besonderheiten der Interessenlage der Fall ist. Es konnte gezeigt werden, dass die akzessorische Anknüpfung an das Gesellschafts- und das Informationsstatut weder mit dem Kapitalmarktrecht noch mit dem Deliktskollisionsrecht der EU übereinstimmt. Umgekehrt ist mit dem Marktort ein Anknüpfungsmoment gefunden, das gleichzeitig mit dem Marktbezug des geschriebenen EU-Kapitalmarktrechts, der Rechtsprechung des EuGH zum Schadensort im international-privatrechtlichen Sinne und der Tatbestandsstruktur der Kapitalmarktinformationshaftung hinsichtlich Transaktionsbezug und Preisbildungsschaden zusammenpasst.[103] Der Marktort befriedigt überdies die intuitiv plausible „marktbezogene Schutzerwartung“[104] des Anlegers: Wer etwa in seinem Heimatland investiert, mag nicht damit rechnen, dass fremdstaatliches Haftungsrecht Anwendung findet.[105] Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass in Fortsetzung des allgemeinen Marktbezugs des EU-Kapitalmarktrechts auch seine öffentlich-rechtliche Durchsetzung kraft ihres territorialen Grundkonzepts weitestgehend[106] mit dem Marktort übereinstimmt. Hier entspricht ein Gleichlauf nicht nur den typischen Anlegererwartungen, sondern zugleich dem Regulierungsinteresse an einer Abstimmung von privater und öffentlich-rechtlicher Kapitalmarktrechtsdurchsetzung.[107] Deshalb spricht nicht zuletzt alles gegen eine Sonderanknüpfung nach der lex domicilii communis: Wenn etwa ein französischer Anleger an der FWB Finanzinstrumente eines französischen Emittenten erwirbt, ist gemäß Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO, in Abweichung von Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO, dennoch deutsches Haftungsrecht anzuwenden.[108] Somit erweist sich die Marktortanknüpfung in jeder Hinsicht als das vorzugswürdige Modell.

4. Informationsstatut als Vorfrage

Innerhalb der Kapitalmarktinformationshaftungstatbestände bildet die Verletzung einer Informationspflicht ein wesentliches Tatbestandsmerkmal. Internationale Anwendungsfragen können dabei einerseits hinsichtlich der Bestimmung des Informationsstatuts und andererseits hinsichtlich seiner Koordinierung mit einem möglicherweise abweichenden Haftungsstatut entstehen.

a) Informationsstatut

aa) Regelfall: Harmonisierung

Das Informationsstatut, mithin das anwendbare Informationspflichtrecht, ist, wie gezeigt, im EU-Gebiet weitestgehend vereinheitlicht. So gelten etwa die Art. 6 ff Prospekt-VO und Art. 17 MAR einschließlich präzisierender Level 2-Sekundärrechtsakte[109] grundsätzlich unterschiedslos an allen Kapitalmärkten der EU.

bb) Abweichungsspielraum für Drittstaatenemittenten

Ein abweichendes Informationsstatut ergibt sich bei Drittstaatenemittenten: Diese können gemäß Art. 29 Abs. 1 Prospekt-VO ihren „nach dem nationalen Recht des betreffenden Drittlands erstellten und diesen Vorschriften unterliegenden Prospekt“ unter den Voraussetzungen billigen lassen, dass das Herkunftsrecht hinsichtlich der Informationspflicht der Prospekt-VO gleichwertige Anforderungen[110] erhebt und eine Kooperationsvereinbarung nach Art. 30 Prospekt-VO zwischen den zuständigen Aufsichtsbehörden des EU-Billigungsstaats[111] und des außereuropäischen Herkunftsstaats besteht. Hier wird also das EU-Pass-System hinsichtlich des Informationsstatuts, bedingt durch die Eintrittsschwelle von materiell-rechtlicher Gleichwertigkeit und prozeduraler Kooperation, auf Drittstaaten erstreckt. Das Herkunftslandsprinzip führt somit zur Anwendung eines dem Marktort zwar gleichwertigen, aber dennoch möglicherweise von der Prospekt-VO abweichenden Informationsstatuts.

b) Divergenz von Informationsstatut und Haftungsstatut

Das Informationsstatut ergibt sich, wie gezeigt, weitestgehend aus harmonisiertem Recht. In seltenen Fällen ist es jedoch nach dem Herkunftslandsprinzip zu bestimmen. Da sich das Haftungsstatut hingegen nach dem Marktort als Transaktions- und Schadensort gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO richtet, können die beiden Statute auseinanderfallen. In diesem Fall ist einerseits zu präzisieren, wie Informations- und Haftungsstatut inhaltlich voneinander abzugrenzen und andererseits, wie sie zu einem Kapitalmarktinformationshaftungsanspruch zu verknüpfen sind.

aa) Abgrenzung von Informationsstatut und Haftungsstatut

Die inhaltliche Reichweite des deliktsrechtlichen Haftungsstatuts definiert Art. 15 Rom II-VO. Sein Ziel ist die möglichst weitreichende und einheitliche Bestimmung des deliktsrechtlichen Haftungsanspruchs nach Haftungsgrund und Haftungsfolgen.[112] Für die Zwecke der Kapitalmarktinformationshaftung sind Art. 15 lit. a) und f) Rom II-VO hervorzuheben,[113] wonach das Haftungsstatut insbesondere die anspruchsverpflichteten und anspruchsberechtigten Personen festlegt. Die auch innerhalb der EU notorisch umstrittene Frage des prospektverpflichteten Personenkreises[114] unterfällt etwa somit dem Haftungsstatut und ist folglich nach dem Recht des Marktorts zu bestimmen.

Dem Informationsstatut obliegt mithin allein, die objektive Primärinformationspflicht festzulegen, also konkret, welche Information mit wem auf welche Weise zu teilen ist.

bb) Selbständige Vorfragenanknüpfung vs. Lokaldatum gemäß Art. 17 Rom II-VO

Wie sind die informationsstatutsgemäß bestimmte Primärinformationspflicht und das darauf aufbauende, haftungsstatutsgemäß definierte Kapitalmarktinformationsdelikt zusammenzusetzen? Dazu bieten sich zwei konstruktive Wege an: Einerseits könnte das Informationsstatut als Vorfrage angeknüpft werden.[115] Dabei dürfte nahe liegen, dass diese Anknüpfung selbständig – im Fall der Prospektpflicht: nach dem Herkunftslandprinzip – zu erfolgen hat. Ginge man nämlich von einer unselbständigen Anknüpfung entsprechend der lex causae aus, würde faktisch das Haftungsstatut auch auf das Informationsstatut erstreckt. Die Folge wäre ein mögliches Schisma zwischen der Informationspflicht im verwaltungsrechtlichen und derjenigen im deliktsrechtlichen Sinne, was dem nicht zuletzt der Rom II-VO selbst innewohnenden Prinzip der kollisionsrechtlichen Rechtssicherheit und Rechtsklarheit widerspräche.[116] Besteht mithin eine Alternative in der selbständigen Anknüpfung des Informationsstatuts als Vorfrage, könnte dasselbe andererseits auch als Verhaltensregel im Sinne des Art. 17 Rom II-VO zu berücksichtigen sein.[117]

Die Berufung auf Art. 17 Rom II-VO ist bereits mit dem Wortlaut der Norm kaum zu vereinbaren, der von den Verhaltensregeln, „die an dem Ort [...] des haftungsbegründenden Ereignisses in Kraft sind,“ spricht. Dahinter steht die aus der sog. Datumtheorie abgeleitete Erwägung, dass bestimmte Ortsregeln einen deliktsrechtlichen Sachverhalt unabhängig vom Verweisungsrecht unvordenklich gleich einer Tatsache prägen, so etwa archetypisch das Links- respektive Rechtsfahrgebot im Straßenverkehr.[118] Dazu passt eine im Gegenteil ortsfern und normativ durch das Herkunftslandsprinzip konstruierte Informationspflicht nicht. Hinzu kommt, dass Art. 17 Rom II-VO, wie local data überhaupt, als Feinkalibrierung der Verweisungsmethode konzipiert ist. Er bildet mithin gerade keine lex specialis,[119] sondern hat immer dann hinter der verweisungstechnischen Vorfragenanknüpfung zurückzustehen, wenn sich diese auf einen Systembegriff bringen lässt. Genau dies ist hier der Fall: Die Frage der Primärinformationspflicht begründet ein selbständiges Informationsstatut, das mithin verweisungsrechtlich und nicht erst nachgelagert im Wege der Berücksichtigung bewältigt werden muss.

5. Zwischenresumee

Auf Klagen aus Kapitalmarktinformationshaftung ist das Haftungsrecht des Marktortstaats, also typischerweise: des Börsensitzes, anzuwenden. Sofern, wie in seltenen Fällen gegeben, das nicht harmonisierte Informationsstatut vom Marktort abweicht, ist es als Vorfrage selbständig anzuknüpfen.

V. Gerichtsstands- und Rechtswahl

Gemäß Art. 25 Brüssel Ia-VO kann eine Gerichtsstandsvereinbarung mit Blick auf Ansprüche aus Kapitalmarktinformationshaftung dadurch herbeigeführt werden, dass der Emittent eine entsprechende Klausel in seine Satzung oder in den Emissionsprospekt aufnimmt und die Klausel für alle Erwerber umstandsarm einsehbar ist. Die Wahl des anwendbaren Deliktssachrechts ex ante ist nach Art. 14 Abs. 1 lit. b) Rom II-VO auf demselben Weg möglich. Dabei ist jeder Erwerb von Finanzinstrumenten als „kommerzielle Tätigkeit“ im Sinne der Norm aufzufassen.[120]

VI. Thesen

1. Das Kapitalmarktrecht ist innerhalb der EU in weiten Teilen unionsrechtlich harmonisiert. Das Deliktsrecht fällt hingegen als solches in die Regelungskompetenz der Mitgliedstaaten. Im Schnittbereich beider Felder, der Kapitalmarktinformationshaftung, ist das Unionskapitalmarktrecht porös fragmentiert. Das bedeutet, es regelt sektorspezifisch die Verfügbarkeit deliktsrechtlicher Ansprüche in weiten Teilen nicht (MAR, Transparenz-RiLi), in anderen Teilen gibt es den Mitgliedstaaten lediglich einen Umsetzungsrahmen vor (Art. 11 Prospekt-VO) bis hin zur unmittelbaren Gewährung von Schadenersatzansprüchen, deren tatbestandlich Ausformung jedoch wiederum den Mitgliedstaaten überlassen wird (Art. 35 a Rating-VO; Art. 11 PRIIPS-VO). Dieses differenzierte Vorgehen ist kompetenziell von Art. 114 AEUV gedeckt und erlaubt keine darüberhinausgehende Berufung auf den Grundsatz des effet utile gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV.

2. Anders als das Deliktssachrecht (These 1) ist das Internationale Deliktsrecht in der EU durch die Rom II-VO vollharmonisiert. Die Bereichsausnahmen nach Art. 1 Abs. 2 lit c), d) Rom II-VO sind nicht einschlägig. §§ 97 f WpHG und §§ 9 Abs. 3, 10 Nr. 2, 11 Abs. 3, 14 Abs. 3, 15 Abs. 3 WpPG enthalten neben deliktssachrechtlichen auch deliktskollisionsrechtlich zu qualifizierende internationale Tatbestandseingrenzungen (Inlandsbezug). Diese einseitig negativen Kollisionsnormen widersprechen der Rom II-VO und gehen auf Entscheidungen des deutschen Gesetzgebers in den 90er Jahren zurück, als dieser noch zum Erlass spezieller Kollisionsnormen für Kapitalmarktdelikte berechtigt war. Sie sind somit wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und gleichzeitig wegen eines Wandels der Normsituation nicht mehr anzuwenden.

3. Zuständige Gerichte für Klagen aus Kapitalmarktinformationshaftung gegen Emittenten von Finanzinstrumenten sind grundsätzlich wahlweise:

a) die Gerichte des Emittentensitzes gemäß Art. 4, 63 Abs. 1 Brüssel Ia-VO i. V. m. § 32 b Abs. 1 Nr. 1, 2 dZPO;

b) die Gerichte des Handlungsorts gemäß Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO;

c) die Gerichte des Schadensorts gemäß Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO.

4. Der Handlungsort im zuständigkeitsrechtlichen Sinn liegt regelmäßig am Verwaltungssitz des Emittenten.

5. Der Schadensort im zuständigkeitsrechtlichen Sinn liegt dort, wo die schadensbegründende Transaktion getätigt wurde. Dieser „Marktort“ ist regelmäßig mit dem Handelsplatz identisch, an dem das Finanzinstrument gehandelt wird. Bei Mehrfachnotierungen (cross-listings) kommt es auf den Markt an, an dem die konkrete streitgegenständliche Transaktion getätigt wurde. Wird die Transaktion OTC, also außerhalb der genannten institutionellen Handelsplätze durchgeführt, gilt eine vis attractiva mercatus des primären institutionellen Marktorts. Das heißt, dass auch solche Transaktion so behandelt werden, als hätten sie am vorrangig preisbildenden Primärmarkt stattgefunden.

6. § 32 b dZPO hat neben der örtlichen Präzisierung des internationalen Emittentensitzgerichtsstands (These 3a) keinen unmittelbaren Regelungsgehalt. Insbesondere ist dieser nationale Kompetenztitel nachrangig gegenüber der internationalen und örtlichen Zuständigkeit gemäß Art. 7 Nr. 2 Brüssel Ia-VO. Seine praktische Spitze liegt deshalb darin, dass er i. V. m. § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO die Vollstreckung drittstaatlicher Urteile gegen Inlandsemittenten beschränkt.

7. Gemäß Art. 25 Brüssel Ia-VO kann eine Gerichtsstandsvereinbarung mit Blick auf Ansprüche aus Kapitalmarktinformationshaftung dadurch herbeigeführt werden, dass der Emittent eine entsprechende Klausel in seine Satzung oder in den Emissionsprospekt aufnimmt und die Klausel für alle Erwerber umstandsarm einsehbar ist.

8. Das anwendbare Sachrecht der Kapitalmarktinformationshaftung richtet sich gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO nach dem Schadenseintrittsort. Dieser ist im vorliegenden Zusammenhang mit dem Schadensort im zuständigkeitsrechtlichen Sinne (These 5) identisch. Eine Korrektur dieser Anknüpfung durch das Herkunftslandsprinzip oder eine Ausweichanknüpfung nach Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO an das Emittenten- oder das Informationsstatut ist weder gerechtfertigt noch erforderlich.

9. Das Informationsstatut kann auf dem Gebiet der Prospekthaftung insbesondere bei Drittstaatsemittenten vom am Marktort orientierten (These 8) Deliktsstatut abweichen. In diesem Fall ist es als selbständige Vorfrage anzuknüpfen.

10. Die Wahl des anwendbaren Deliktssachrechts ex ante ist nach Art. 14 Abs. 1 lit. b) Rom II-VO auf demselben Weg wie eine Gerichtsstandsklausel (These 7) möglich. Dabei ist jeder Erwerb von Finanzinstrumenten als „kommerzielle Tätigkeit“ im Sinne der Norm aufzufassen.


Danksagung

Dank gebührt den ZGR-Herausgebern für die Formulierung des Themas. Für wertvolle Hinweise und Anregungen ist zu danken (alphabetisch, ohne Titel): Andreas Engert, Johannes W. Flume, Frank A. Schäfer, Gerald Spindler, Marc-Philippe Weller, Jan Lukas Werner und Susanne Zwirlein-Forschner.


Online erschienen: 2020-06-10
Erschienen im Druck: 2020-06-05

© 2020 Chris Thomale, published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 27.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zgr-2020-0018/html
Scroll to top button