Startseite Editorial
Artikel Open Access

Editorial

  • Uwe Schimank
Veröffentlicht/Copyright: 3. März 2023
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Die Gründung der Zeitschrift für Soziologie im Jahr 1972 war ein weiterer Schritt „nachholender Modernisierung“ der deutschen Soziologie. Die beiden entscheidenden Maßnahmen waren die Einführung von beidseitig anonymisierten Peer-Reviews – dies erst ab 1975 – in Kombination mit der Etablierung einer pluralistisch zusammengesetzten Herausgeberrunde. Das setzte sich ab von den autokratisch herausgegebenen Zeitschriften, bei denen eine Person oder ein sehr kleiner Kreis gleichgesinnter Herausgeber (das Gendern kann ich mir hier sparen) darüber entschieden, was veröffentlicht wurde. Auch wenn sich der Autokrat im Zweifelsfall von Mitarbeitern[1] oder Kollegen informell beraten ließ: Ob er darauf einging oder bei seiner Einschätzung blieb, war seine Sache.

Diesen Vorsprung in Richtung einer pluralen Qualitätskultur hat die Zeitschrift für Soziologie gegenüber den anderen deutschsprachigen Soziologie-Zeitschriften nicht völlig eingebüßt. Doch alle haben mehr oder weniger nachgezogen. Wenn die Zeitschrift für Soziologie weiterhin anstrebt, an der Spitze der Bewegung zu bleiben, könnte sie ihre Konkurrenten damit überraschen, dass sie als erste bestimmte Nachteile der von ihr vorgelebten pluralen Qualitätskultur reflektiert und daraus Konsequenzen zieht. Ich will hier auf eine nicht ganz unbekannte Problematik hinweisen und erste Vorschläge dazu machen, wie man mit ihr umgehen könnte.

Niklas Luhmann bemerkte in einem Seminar, das ich als Student Ende der 1970er Jahre besuchte, am Rande, er müsse ein bei der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie eingereichtes Manuskript so überarbeiten, dass René König es verstehe. Das war ironisch hingeworfen, aus der Selbstsicherheit des Star-Soziologen gegenüber den Granden der deutschen Nachkriegssoziologie; die leichte Kränkung, dass er sich das gefallen lassen müsse, klang dennoch durch. Das Beispiel zeigt aber: Wenn es einem gelang, den „Gatekeeper“ König zu passieren, hatte man es geschafft, in der damals sichtbarsten deutschen Fachzeitschrift einen Beitrag zu platzieren. Und man hatte es mit vergleichsweise geringem Überzeugungsaufwand geschafft: Nur einen Gutachter musste man rumkriegen – ihm soweit entgegenkommen, dass er sein Placet gab. Luhmann ist das in diesem Fall wie in anderen auch gelungen.

Bei der Zeitschrift für Soziologie sah das von Anfang an und sieht bis heute ganz anders aus: Seit langem schon muss man das Kollektiv von zwei bis drei Gutachtern und sechs Herausgebern – einschließlich Redakteur – überzeugen, und zwar nicht bloß eine knappe Mehrheit. Zu der Zeit, als ich Mitglied der Herausgeberrunde war (2006–2009), lief das meiner Erinnerung nach entsprechend folgenden Faustformeln ab:

  • Wenn beide Gutachten negativ ausfielen oder eines sehr negativ und das andere höchstens schwach positiv, hatte ein eingereichtes Manuskript keine Chance – es sei denn, dass mindestens ein Herausgeber sich sehr für den Beitrag einsetzte und es schaffte, fast alle der anderen Herausgeber zu überzeugen. Letzteres kam sehr selten vor.

  • Auch wenn umgekehrt beide Gutachten positiv ausfielen, mussten mindestens vier der Herausgeber ebenfalls positiv und die anderen beiden durften nicht dezidiert negativ eingestellt sein, damit der Beitrag mit der Aufforderung zu „minor revisions“ an die Autoren zurückgegeben wurde.[2]

  • Wenn auch nur ein Herausgeber dezidiert negativ eingestellt war, hatte er zwar keine Vetomacht. Doch es mussten mindestens drei der anderen Herausgeber deutlich positive Voten dagegen setzen, und es bedurfte ferner zweier positiver Gutachten – davon eines dezidiert positiv – für eine Entscheidung zur Überarbeitung und Wiedereinreichung („revise and re-submit“).

Anders gesagt: Die Messlatte des Gutachter- und Herausgeberkonsens war zwar nicht völlige Einstimmigkeit, aber doch ein ziemlich großer Konsens. Ein einziges dezidiert negatives Gutachten und ein ebenso negatives Votum eines Herausgebers reichten meistens bereits, um Manuskripte abzulehnen, was umgekehrt für ein deutlich positives Gutachten plus ein ähnlich positives Votum eines Herausgebers nicht galt. Sollte das weiterhin in etwa so geblieben sein, dann ist der Überzeugungsaufwand, den ein Autor erbringen muss, deutlich höher als bei einem autokratischen Herausgeber – insbesondere angesichts der Tatsache, dass man eine gezielt plurale Herausgeberrunde hat. Das erhöht zwar – so ist es ja auch gedacht – die Wahrscheinlichkeit, dass man einen Fürsprecher für die eigene theoretische oder empirische Herangehensweise oder die eigene Thematik findet, im Vergleich dazu, die unvermeidlich selektiven Vorlieben eines einzigen Herausgebers treffen zu müssen. Doch ein einziger Fürsprecher reicht noch lange nicht; und wenn dieser mit der Qualität dessen, was man anbietet, nicht zufrieden ist, hilft es auch nicht, dass ihn Theorie, Methode oder Thema anspricht.[3] Wichtiger noch ist aber, dass mit jedem Herausgeber mehr ebenso die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass man auf mindestens einen dezidierten Gegner der eigenen Theorie, Methode oder Thematik stößt. Und wie schon gesagt: Eine deutlich ablehnende Stimme wiegt zumeist mehr als eine deutliche befürwortende.

Wenn also eine Pluralität der Herausgeberrunde mit großem Konsensdruck einhergeht, haben es insbesondere innovativere Beiträge schwer, die naturgemäß noch nicht in allen Belangen so abgesichert wie sich im Mainstream bewegende, sondern im Gegenteil in zentralen Punkten ‚gewöhnungsbedürftig‘ sind und auf ein gewisses Wohlwollen hoffen müssen. Dabei sollten gerade die Fachzeitschriften Innovatives zur Diskussion stellen. Stattdessen wandern solche Beiträge in Sammelbände ab, deren Herausgeber bekanntermaßen – aus vielerlei ehrenwerten und weniger ehrenwerten Gründen, die ich hier nicht vertiefen will – oftmals äußerst gnädig mit den eingeworbenen Beiträgen umgehen.[4] So erklärt sich die schillernde Qualität der meisten Sammelbände, die überwiegend Beiträge enthalten, die zu Recht bei einer Zeitschrift mit Peer Review keine Chance gehabt hätten; doch immer wieder finden sich auch einzelne Artikel, die deutlich innovativer sind als das, was typischerweise in Zeitschriften publiziert wird – weil niemand dem Autor, möglichst noch vielstimmig, reingeredet hat, sondern es allenfalls ein paar Anregungen des Sammelbandherausgebers gab, bei denen sich der Autor aussuchen konnte, ob er sie aufgreift oder nicht. Lange Zeit bestand der Nachteil einer Sammelbandveröffentlichung freilich in geringer Sichtbarkeit. Weil Sammelbände eben, drastisch überspitzt gesagt, zumeist Müllhalden analog den in den Naturwissenschaften mittlerweile verbreiteten „predatory journals“ sind, bleiben die wenigen Perlen, die dort auch herumliegen, unentdeckt. Das beginnt sich freilich zu ändern, wenn Verlage im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung auch Sammelbandbeiträge leichter elektronisch recherchierbar machen sowie mit Abstracts und Keywords versehen, so dass es keinen so großen Unterschied für die Sichtbarkeit mehr macht, ob etwas in einer zentralen Zeitschrift des Faches oder in einem von zahllosen Sammelbänden erscheint.

Wenn somit gerade diejenigen, die sich auf ganz neue Wege wagen, durch den großen Konsensdruck entmutigt werden, ihre Beiträge überhaupt bei einer Zeitschrift wie der Zeitschrift für Soziologie einzureichen, und stattdessen Innovatives in Sammelbänden unterbringen, stellt die Pluralität der Herausgeberrunde einer Zeitschrift mit dem damit einhergehenden Konsensdruck eine nicht unerhebliche Dysfunktion dar. Was könnten Zeitschriften tun, um diesen Konsensdruck zu reduzieren, so dass Innovativem gewissermaßen eine Art Nachteilsausgleich gewährt wird? Ich möchte hierzu drei kleine Vorschläge unterbreiten. Keiner davon kann die Dysfunktion völlig beseitigen. Aber diese begrenzten Korrektive könnten Schritte in eine richtige Richtung sein, die vielleicht auch noch zu weiteren – oder besseren anderen – Maßnahmen anregen.

Vorab sei klargestellt: Es wird nicht ausreichen, dass an die Einsicht und den guten Willen von Gutachtern und Herausgebern appelliert wird oder diese an sich selbst appellieren. Auch wer als Herausgeber nach dem Lesen meiner Überlegungen die Problematik erkennt oder sie schon vorher erkannt hatte, kann die dazu führenden Verhaltensmuster bei sich selbst und erst recht bei den anderen Herausgebern und bei den Gutachtern nicht einfach abstellen. Es bedarf vielmehr vereinbarter Regeln, nach denen die Herausgeber künftig – und sei es zunächst für einen festgelegten Erprobungszeitraum – verfahren.

Vorschlag 1

Jeder der Herausgeber darf zwei Mal in seiner vierjährigen Amtszeit – einmal in den ersten beiden und einmal in den letzten beiden Jahren – ein positives Veto nutzen. Ein positives Veto neutralisiert alle gegenteiligen Vetos. Wenn ein Herausgeber dementsprechend davon überzeugt ist, dass ein Beitrag veröffentlicht werden sollte, kann er sich über mehrheitlich negative Voten anderer Herausgeber und negative Gutachtervoten hinwegsetzen. Er kann dies entweder in der Herausgeberrunde nach der Erstbegutachtung tun. In dem Fall erhält der Autor anstelle einer Ablehnung die Gutachten und Herausgebervoten und darf selbst entscheiden, was er davon aufgreift. Oder der Herausgeber kann – wenn der Beitrag zunächst zur Überarbeitung und Wiedereinreichung an den Autor zurückgegangen ist und dann die Gutachter und anderen Herausgeber mehrheitlich für Ablehnung votieren – sein positives Veto zu diesem Zeitpunkt einlegen; auch dann erhält der Autor die neuerlichen Gutachten und Herausgebervoten als Anregungen für eine freiwillige weitere Überarbeitung.

Diese Verfahrensweise setzt für den betreffenden Beitrag den Konsensdruck außer Kraft. Jeder Herausgeber darf gleichsam zwei Male als Autokrat entscheiden. Wann wird er das tun? Wahrscheinlich am häufigsten dann, wenn er sehr von der Qualität eines Beitrags überzeugt ist. Dabei kann sich die Qualität zum einen darin manifestieren, dass ein Autor sein Handwerk nach allen theoretischen und methodischen Regeln der Kunst betreibt und dabei vielleicht auch noch mit ganz besonderen Schwierigkeiten beispielsweise der Datenerhebung kämpfen musste. Freilich wäre zu erwarten, dass solch eine Qualität meistens auch von anderen erkannt wird – es sei denn, es handelt sich etwa um eine sehr spezielle Methode oder theoretische Perspektive. Zum anderen kann man die Qualität eines Beitrags an seinem Innovationsgrad bemessen. Das dürfte öfter der Grund für ein positives Veto sein. Der betreffende Herausgeber mag dann durchaus zugestehen, dass der Beitrag handwerklich gewisse Schwächen hat, die für die anderen Herausgeber und die Gutachter den Ausschlag für ihre negativen Voten geben. Der sein positives Veto nutzende Herausgeber ist demgegenüber davon überzeugt, dass der Beitrag für zukünftige Forschungen wegweisend werden könnte und dass die so inspirierten weiteren Beiträge – anderer Wissenschaftler oder des Autors selbst – dann auch die jetzt noch erkennbaren Schwächen beseitigen werden.

Ein anderer Grund für ein positives Veto, der allerdings wohl nicht ganz so häufig vorliegen dürfte, kann die Überzeugung sein, dass ein Beitrag eine sehr hohe thematische Relevanz aufweist. Diese Relevanz kann sich zum einen aus der gesellschaftlichen Situation ergeben, wenn z. B. das erste Manuskript zur Corona-Pandemie oder endlich wieder einmal etwas zum nach wie vor in vielen Hinsichten nicht gut verstandenen Rechtspopulismus eingeht. Zum anderen kann es aber genauso gut auch eine besondere innerfachliche Relevanz sein. Wenn etwa ein neues Themenfeld wie vor einigen Jahren die Soziologie der Bewertung international bereits stark diskutiert wird, aber in der deutschen Fachgemeinschaft noch wenig Resonanz gefunden hat, kann ein Herausgeber der Überzeugung sein, dass ein Zeitschriftenaufsatz hierzu sehr wünschenswert ist, um auf diese Forschungen aufmerksam zu machen. Beide Arten von eingeschätzter hoher Relevanz lassen wiederum über manche handwerklichen Schwächen hinwegsehen.

Klar ist: Auch wenn man Missbrauchsmöglichkeiten der Art ausblendet, dass jemand seine zwei positiven Vetos allein dafür nutzt, beispielsweise die eigene Theorie-Schule zu protegieren, ist als Risiko dieses Vorschlags die Wahrscheinlichkeit irrigen Überzeugt-seins von einem Manuskript nicht auszuschließen – bis hin zur Veröffentlichung peinlicher Flops, die sogar im Extremfall den Ruf der Zeitschrift schädigen können. Doch das bleibt erträglich, da es sich um eine begrenzte Anzahl von Beiträgen handelt. Bei sechs Herausgebern geht es um 12 Artikel in vier Jahren, also bei 16 Heften um weniger als einen Artikel pro Heft – oder bei durchschnittlich sechs Artikeln pro Heft um 12 von knapp 100 Artikeln. Hinzu kommt, dass ein Herausgeber sein positives Veto ganz oder teilweise ungenutzt lassen kann, wenn es kein eingereichtes Manuskript gibt, von dem er allein hinreichend stark überzeugt ist. Vermutlich wird die Obergrenze von 12 Artikeln oft nicht erreicht werden. Denn natürlich gibt es jedem Herausgeber erst einmal zu denken, wenn er allein sehr konträr zur klaren Mehrheit der anderen Herausgeber und der Gutachter votiert. Solche Situationen, in denen jemand anfangs ziemlich angetan oder sogar begeistert von einem Manuskript war, dann aber schrittweise den Rückzug antrat, weil die Gegenargumente zu massiv waren, habe ich einige Male bei Herausgebersitzungen erlebt. Auch mir selbst ist das gelegentlich so ergangen. Ich kenne aber eben auch Fälle, in denen ich sehr gerne unbeirrt von den anderen Voten meines durchgesetzt hätte. In einem dieser Fälle tauchte der Artikel kaum überarbeitet bald danach in einer anderen Zeitschrift auf und wurde dann in den Folgejahren durchaus häufiger zustimmend oder auch kritisch zitiert, war also eine lohnende Intervention in laufende Debatten.

Vorschlag 2

Während Vorschlag 1 einen kleinen Freiraum für Minderheitsvoten schafft, dass bestimmte Manuskripte publikationswürdig sind, damit also noch bei mindestens einem der Herausgeber subjektive gute Gründe erfordert, setzt ein zweiter Vorschlag auf blinde Evolution als Selektionsmechanismus – allerdings wiederum eingehegt. Man sortiert, was bei solchen Auswahlentscheidungen als erster Schritt durchaus üblich ist, die Gesamtheit eingegangener Manuskripte in drei Gruppen: auf der einen Seite die glatten Ablehnungen, bei denen die große Mehrheit der Voten keine Überarbeitung für möglich hält und es kein positives Veto gemäß Vorschlag 1 – sofern man diesen übernommen hat – gibt; auf der anderen Seite die klaren Befürwortungen, bei denen die große Mehrheit eine Veröffentlichung nach Überarbeitung für sehr wahrscheinlich hält oder sogar schon ohne Überarbeitung für eine Veröffentlichung votiert; und die Gruppe derjenigen Beiträge, bei denen es kein klares Mehrheitsvotum für Ablehnung oder Veröffentlichung gibt, sondern dies von der Überarbeitung abhängt. Erfahrungsgemäß sind klare Befürwortungen selten; glatte Ablehnungen kommen schon häufiger vor; die größte Gruppe ist aber die mittlere, bezüglich derer oftmals bei mindestens einem Teil der Herausgeber eine je individuelle Entscheidungsunsicherheit mit einer kollektiven Entscheidungsuneinigkeit der Gesamtheit der Herausgeber einhergeht und dazu noch die Ungewissheit kommt, was der Autor aus den manchmal sehr weitreichenden Überarbeitungsauflagen zu machen willens und imstande ist, und ob man danach individuell und kollektiv entscheidungsfähiger geworden sein wird. Aus dieser Gruppe von Manuskripten könnte man nach erfolgter Überarbeitung in Absehung von den neuerlichen Gutachter- und Herausgebervoten eine kleine Zahl von Beiträgen, die man veröffentlichen wird, vorab per Los ermitteln.[5] Man könnte an drei pro Jahr denken, was auf 12 Artikel für einen Vierjahres-Zeitraum hinausliefe.

Eine solche Zufallsauswahl enthält für die Gruppe von Artikeln, bei der sie durchgeführt wird, keinerlei Bias in irgendeiner Richtung – also auch weder für Mainstream noch für Innovation. Es kann also passieren, dass ein per Los ermittelter Artikel dem Mainstream angehört, was darauf hinausliefe, dass die Dysfunktionalität, die korrigiert werden soll, unter Umständen sogar noch verstärkt wird – nämlich dann, wenn der betreffende Beitrag kein positives Gesamtvotum erhalten hätte und dann einem innovativen Beitrag, der beim Gesamtvotum am unteren Ende der Rangordnung rangiert, den Platz wegnimmt. Je schwerer es aber innovative Artikel haben, eine hinreichende Gutachter- und Herausgebermehrheit zu überzeugen, desto mehr wird Losen die einzige Chance, die ihnen bleibt. Denn beim Losen hat jedes Manuskript zumindest die gleiche Chance. Meist greift man zum Los, wenn die Wahl zwischen Alternativen unentscheidbar ist: Alles liegt auf dem Tisch, jeder hat seine Prioritäten artikuliert, und es geht nicht weiter – wie in manchen Berufungskommissionen. Bei diesem Vorschlag hingegen erfüllt das Los einen anderen Zweck: erkannten Neigungen in Richtung bestimmter Arten von Alternativen ein Stück weit entgegenzuwirken.

Da sich das Losen nicht auf sämtliche eingegangenen Manuskripte erstreckt, wird in der einen Richtung verhindert, dass klar Abgelehntes dennoch durchkommt – in der anderen Richtung, dass klar Befürwortetes scheitert. Nur im Mittelbereich, in dem es größere Unsicherheiten, Uneinigkeiten und Ungewissheiten gibt, gleicht das Los die Benachteiligung des Innovativen gegenüber dem Mainstream ein wenig aus. Wenn man diese Einhegung des Losens noch einen Schritt weitertreiben will, könnte man die wieder eingereichten Manuskripte erst einmal wie üblich besprechen und diejenigen, die nun eindeutig Ablehnungen oder Befürwortungen sind, entsprechend entscheiden; und nur aus den dann noch übrigbleibenden Fällen werden so viele zur Veröffentlichung ausgelost, wie noch Artikelplätze besetzt werden müssen. Das kann darauf hinauslaufen, dass auf manchen Herausgebersitzungen gar nicht gelost werden muss, manchmal aber vielleicht auch zwei Artikel per Los ermittelt werden müssen.

Vorschlag 3

Ein dritter Vorschlag richtet sich darauf, dass es immer wieder vorkommt, dass ein bestimmtes Themengebiet, eine bestimmte methodische Herangehensweise oder eine bestimmte Theorieperspektive seit längerer Zeit – man könnte an drei Jahre denken – nicht mehr mit einem Aufsatz in der Zeitschrift vertreten war. Dann wird das nächste aus dieser Perspektive eingehende Manuskript – sofern es nicht ein klarer Fall für Ablehnung ist – nach Begutachtung und daran sich anschließender Überarbeitung ohne weitere Gutachter- und Herausgebervoten veröffentlicht. Wichtig hierbei ist, dass die jeweiligen Forschungsfelder (Themen, Methoden, Theorieperspektiven) weder zu breit noch zu eng definiert werden und dass ein Manuskript nur dann als Beitrag zu einem Feld gezählt wird, wenn dieses einen substantiellen inhaltlichen Anteil des Manuskripts einnimmt – also etwa in den Keywords oder im Abstract explizit genannt wird. Um eine in der Herausgeberrunde geteilte Liste der Forschungsfelder zu gewinnen, könnte man sich für Theorien und Methoden an der Kapiteleinteilung einschlägiger Handbücher und für Themengebiete analog an den Kapiteln eines Handbuchs Spezieller Soziologien orientieren – wobei es jedem Herausgeber freisteht, Vorschläge für noch Fehlendes oder für bestimmte Umgruppierungen der Liste zur Diskussion zu stellen.

Dieser Vorschlag zielt darauf, dass die Zeitschrift die Breite des Faches abbildet und nicht bestimmte Felder vergisst oder sich gar auf immer weniger Felder verengt. In den letzten Jahren gibt es etwa in allen deutschen soziologischen Fachzeitschriften eklatante Häufungen in den Feldern der Bildungs- und Migrationssoziologie. Es ist zwar richtig, dass solche Häufungen zumeist ein Spiegelbild des Forschungsaufwands, den die Fachgemeinschaft in bestimmten Feldern treibt, darstellen. Genau deshalb haben aber Beiträge, die aus traditionell kleinen Feldern wie etwa der Sportsoziologie oder aus über einen längeren Zeitraum geschrumpften Feldern wie etwa der Rechtssoziologie stammen, schon dadurch etwas Innovatives, dass sie eben nicht im Mainstream der Forschungsfelder angesiedelt sind. Jede Zeitschriftenveröffentlichung aus einem im Abseits stehenden Feld hält dieses im kollektiven Gedächtnis der Fachgemeinschaft als einen Gegenstand, mit dem sich die Soziologie auch weiterhin beschäftigen sollte. Hätte man auf diese Weise in Deutschland die Militärsoziologie etwas mehr in Erinnerung behalten, gäbe es derzeit vielleicht etwas weniger Sprachlosigkeit oder – noch schlimmer – lautstarke Unbedarftheit, wenn soziologische Einschätzungen zum Ukrainekrieg öffentlich angefragt werden.

Will man diese Erinnerungsfunktion noch etwas mehr befördern, könnte man nach den drei Jahren Schweigen aus einem bestimmten Forschungsfeld nicht bloß passiv abwarten, bis jemand sich mit einem eingereichten Manuskript wieder dazu zu Wort meldet, sondern aktiv zu Wortmeldungen aufrufen. Dies allerdings besser nicht so, dass eine bestimmte Person angefragt wird und man dann nehmen muss, was kommt: Sondern der Aufruf müsste in der Fachgemeinschaft insgesamt verbreitet werden, so dass allen, die sich dann beteiligen, klar ist, dass sie sich in einen Wettbewerb begeben – außer, wenn jemand der einzige bleibt, der ein Manuskript einreicht. Der Wettbewerb ist freilich ein sehr begrenzter. Der Veröffentlichungsplatz für das Forschungsfeld ist gesetzt – es geht nur noch darum, welches aus der vermutlich im unteren einstelligen Bereich liegenden Anzahl von Manuskripten als das hierzu am besten eingestufte ausgewählt wird. Die sonst bestehende Konkurrenz mit allen übrigen Manuskripten ist hingegen durch die Sonderbehandlung des Forschungsfelds ausgeschaltet.

Die skizzierten drei Vorschläge haben gemeinsam, dass sie den Konsensdruck in der Herausgebergruppe fallweise und in jeweils anders begrenztem Ausmaß außer Kraft setzen. Dabei führt der erste Vorschlag für einen kleinen Anteil der Publikationsentscheidungen eine plurale Als-ob-Autokratie ein; der zweite bedient sich für eine Teilgruppe im Mittelfeld der Bewertungen einer Zufallsauswahl; und der dritte stellt für in der Zeitschrift vernachlässigte Forschungsfelder in geringer Menge garantierte Publikationsplätze bereit. Insgesamt dürften von knapp 100 Veröffentlichungen in einem Vierjahreszeitraum maximal je 12 durch Vorschlag 1 und Vorschlag 2 entschieden werden – plus einige wenige durch Vorschlag 3. Insgesamt gingen so etwa ein Viertel aller Veröffentlichungen aus diesen drei Korrektiven hervor, so dass weiterhin drei Viertel die Standardprozedur von doppelblindem Peer Review und kollektiver Entscheidung durch eine plural zusammengesetzte Herausgeberrunde durchlaufen. Diese Größenordnung erscheint als Nachteilsausgleich für nicht dem Mainstream angehörende Beiträge angemessen.

Wenn man dieses Maßnahmenpaket oder einzelne der Maßnahmen oder auch weiteres, was eine Diskussion unter den Herausgebern ergeben könnte, in die Tat umsetzt, sollte einerseits mit offenen Karten gespielt werden: Leser und Autoren, die Beiträge einreichen, sollten über diese Relativierungen der bisherigen Standardprozedur Bescheid wissen. Autoren können in den meisten Fällen, die auf die Vorschläge 1 und 2 zurückgehen, für eigene Veröffentlichungen erschließen, wenn das so ist; und wenn sie vom Vorschlag 3 profitieren, wissen sie das immer. Andererseits sollte es Lesern gegenüber nicht aufgedeckt werden, was für gemäß den Vorschlägen 1 und 2 ausgewählte Veröffentlichungen kein Problem ist und auch bei solchen Veröffentlichungen, die aus dem Vorschlag 3 resultieren, zumindest ungewiss bleibt.[6]

Um es zum Schluss noch einmal zu betonen: Wenn meine Überlegungen eine Diskussion über die präsentierte Problemdiagnose und die Therapievorschläge anregen, haben sie ihren Zweck erfüllt.

Published Online: 2023-03-03
Published in Print: 2023-03-31

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Heruntergeladen am 13.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zfsoz-2023-2007/html
Button zum nach oben scrollen