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Jule Elena Westerheide, Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Arbeit und Entgelt von Sekretärinnen. Frankfurt/New York: Campus 2021, 413 S., br., 39,95 €

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Published/Copyright: October 20, 2023
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Rezensierte Publikation:

Jule-Elena Westerheide, Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Arbeit und Entgelt von Sekretärinnen. Frankfurt/New York: Campus 2021, 413 S., br., 39,95 €


Leistungs(un)gerechtigkeit im Sekretariat

Unter dem Slogan „Leistung muss sich wieder lohnen!“ kandidierte Helmut Kohl im Jahr 1982 für das Amt des Bundeskanzlers. Heute, 41 Jahre später, bleibt das hegemoniale Versprechen von der Leistungsgerechtigkeit weiterhin unerfüllt – das belegen diverse Forschungen zur sozialen Ungleichheit. Doch was steckt hinter der Ideologie? Kann sie im spezifischen Feld der Sekretariatsarbeit an Hochschulen einer empirischen Untersuchung standhalten? Oder kommt es zu „Widersprüche[n] und Aushandlungen zwischen subjektiver und betrieblicher Leistungsbewertung rationalisierter weiblich besetzter Sekretariatsarbeit“ (S. 163)? Diesen und weiteren spannenden Fragen widmet sich Jule Elena Westerheide in ihrer Dissertation, die unter dem Titel „Die Illusion der Leistungsgerechtigkeit: Arbeit und Entgelt von Sekretärinnen“ 2021 im Campus Verlag veröffentlicht wurde.

Zum Tätigkeitswandel und Leistungsprinzip

Westerheide widmet sich zu Beginn ihrer Arbeit dem „Stand der Forschung zu Kontinuität und Wandel der Sekretariatsarbeit“ (S. 25) und ermittelt die Forschungsrelevanz für das besondere Feld der Hochschule. Sie vergleicht und diskutiert (feministische) arbeits-, technik- und organisationssoziologische Analysen zur Sekretariatsarbeit, deren Erkenntnisse vor allem „auf der starken Sexualisierung und Stereotypisierung von Sekretärinnen“ (S. 30), den Rollenerwartungen, unsichtbaren Aufgaben, dem geschlechtsspezifischen Verhältnis zur Technikimplementierung sowie den Machtbeziehungen zu Vorgesetzten lägen. Hierbei würden die Tätigkeit und die organisationale Funktion von Sekretärinnen aus dem Blick geraten (S. 33).

Kontrastierend referiert sie die wenigen Befunde, die den Inhalt und den Wandel der Tätigkeit in das Zentrum ihrer Untersuchung rücken. Dabei schlägt die Autorin eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Theorien und entwickelt ein Verständnis von Sekretariatsarbeit als „assistierende Gewährleistungsarbeit“, um sowohl den organisationalen Zweck der Tätigkeit als auch die spezifische Arbeitsbeziehung zu greifen (S. 36–68). So bilden die Gewährleistung des reibungslosen betrieblichen Ablaufs und die entlastende Zuarbeit an Vorgesetzte nur eine Seite der Medaille; auf der anderen Seite stünden die geschlechtsspezifischen Arbeitsinhalte der Sekretariatsarbeit emblematisch für die horizontale Segregation eines Beschäftigungsfelds und eine frauentypische Beschäftigung (S. 44–47).

Im Zuge der Verwaltungsmodernisierung skizziert Westerheide die inhaltlichen Veränderungen in der Sekretariatsarbeit: So habe das Steuerungsmodell des New Public Managements und daran orientierte Rationalisierungsstrategien auch in die Hochschulen Einzug gehalten und dabei die Sekretariatsarbeit transformiert. Zwar sei die assistierende Gewährleistungsarbeit nur schwer zu rationalisieren (S. 51, 217), doch zeigen die Studien auch, dass die Tätigkeit komplexer geworden ist: Die Ökonomisierung und Technisierung von Hochschulen, indirekter Personalabbau und neue Formen der Arbeitsorganisation (u. a. pooled secretariats) verlange ein neues Maß an Kompetenzen, Flexibilität und Belastbarkeit – dies gehe mit einer subjektiven Zunahme von Leistungsdruck einher (S. 58–60, 209–217). Allerdings kritisiert die Autorin, dass die zitierten Studien diesen Wandel der Arbeitspraxis weder ausreichend erfassen noch den Zusammenhang zwischen Rationalisierungsmaßnahmen und Umstrukturierungen kausal fundieren würden (S. 208).

Westerheide problematisiert, dass der konstatierte Wandel der Tätigkeit, mit deren niedrigen Bewertung durch die an den Leistungsanforderungen gemessene Eingruppierung im Tarifvertrag (TVöD), monetär nicht abgebildet werde (S. 65). Ebenfalls seien die weiblich konnotierten und oft unsichtbaren Arbeitsanforderungen, die neben der eigentlichen Tätigkeit geleistet werden müssen, im TVöD nicht eingepreist.

Am Konnex der unterschiedlichen Arbeitsanforderungen identifiziert die Autorin eine empirische Leerstelle, die ihre Dissertation füllen soll. Geleitet von der These, dass im Rahmen der „subjektiven Normativität des Leistungsprinzips“ (S. 157) Friktionen zwischen subjektiver Gerechtigkeit und der abweichenden objektiven Leistungsbewertung durch die Organisation entstünden, entwickelt Westerheide auf Basis unterschiedlicher Theorieansätze ein doppeltes Verständnis des Leistungsprinzips: Sie begreift dieses als hegemoniale Ideologie; gleichzeitig versteht sie das Leistungsprinzip als legitimitätsstiftende Sozialnorm. Dabei werden das vertragsförmige Äquivalenztauschverhältnis in der Lohnarbeit (S. 83), der Legitimationszwang demokratischer (betrieblicher) Herrschaft (S. 83–85) sowie die Institutionalisierung als Sozialnorm (S. 84) als „Strukturbedingung[en] der Ideologie“ (S. 80) identifiziert. Westerheide betont außerdem die Subjektivität und Relationalität des Leistungsbegriffs und verbindet – in Anknüpfung an die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen der Soziologie des Wertens und Bewertens – das „Unbestimmbarkeits- und Zuschreibungsproblem von Leistung“ mit der „praktischen Wirksamkeit des Leistungsprinzips in vergleichenden Lohnfindungsprozessen“ (S. 91). Nachdem der Wandel der Arbeitsbewertung in der tariflich-betrieblichen Lohn- und Leistungspolitik nachgezeichnet und hierbei deren Normativität und Geschlechtsverzerrung hervorgehoben wird (S. 94–125), zeigt die Autorin, mit einem vergleichenden historischen Exkurs durch die einschlägigen Publikationen der Arbeitsbewusstseinsforschung, die dortigen Kontinuitäten in den subjektiven Bezügen der Lohnabhängigen auf Lohn, Leistung und Gerechtigkeit auf (S. 129–155).

Konflikte um ‚Gerechtigkeit‘

Im Anschluss der nachfolgenden Vorstellung und selbstkritischen Reflexion des eigenen „Explorativ-rekonstruktive[n] Forschungsdesign[s]“ (S. 161–202), stellt Westerheide die empirischen Ergebnisse ihrer 30 leitfadengestützten offenen Interviews, ihrer teilnehmenden Beobachtungen sowie der zusätzlich geführten Interviews mit Expert:innen und Amtsträger:innen vor und ordnet ihre Interpretationen theoretisch ein. Ihre theoriegenerierende Methodenkombination ist besonders zu betonen, da sie tiefer in die kaum beforschte Arbeitsrealität von Sekretärinnen sowie deren subjektiven Sinnstrukturen und Bewertungen von Leistungsgerechtigkeit blicken lässt.

Zusammengefasst sind folgende Befunde zentral:

  1. Der Zusammenhang von rationalisierungsbedingter Umstrukturierung und dem Tätigkeitswandel ist kausal. Die Ausweitung des heterogenen Aufgabenspektrums, steigende Komplexität, Verantwortung, Arbeitsverdichtung, sowie Dezentralisierungstendenzen werden von Westerheide empirisch nachgewiesen; auch „extrareguläre Gewährleistungsarbeit“ wird weiterhin geleistet (S. 201–226). Im Vordergrund der Arbeitsbeziehung nimmt die Bedeutung des Geschlechts zwar ab, doch im Hintergrund halten geschlechtsspezifische Kompetenzen Einzug in die Verwertungslogik (S. 241). Ein besonders spannendes Ergebnis zeigt: Die subjektiven Arbeitsorientierungen der Sekretärinnen sind für den Tätigkeitswandel mitverantwortlich, denn Rationalisierungen werden aus eigenem Antrieb und durch eine „Professionalisierung von unten“ beschleunigt und verstärkt (S. 205, 226–230).

  2. Die organisationale Bewertung der Arbeit weicht von der tatsächlichen Tätigkeit der Sekretärinnen ab. Hieraus resultiert eine niedrige Eingruppierung (S. 231–236).

  3. Die Sekretärinnen folgen einem relationalen, aufwands- und ergebnisorientierten Leistungsbegriff. Fallübergreifend betonen sie ihre persönliche Leistungsfähigkeit (Talent, Erfahrungswissen, Alleskönnerinnen) und entwickeln einen auf die organisationsspezifische Tätigkeit bezogenen „Gewährleistungsstolz“ (S. 248). Ihr subjektives Leistungsempfinden steht der organisationalen Leistungsbewertung entgegen (S. 246–260, 282–287). Westerheide identifiziert drei Umgangsweisen, mit denen die Sekretärinnen auf die empfundene Leistungsungerechtigkeit reagieren (S. 275).

  4. Konflikte um Leistungsgerechtigkeit konzentrieren sich auf eine Neubewertung der Tätigkeit und die entsprechend höhere Eingruppierung. Doch das Bewertungsverfahren ist eine machtasymmetrische organisationale black box (S. 281–295), das „die subjektiven Ansprüche nach Objektivität sowie individueller Leistungsbewertung nicht ausreichend erfüllt“ (S. 330). Auf die konstatierten Brüche zwischen objektiv organisationaler Leistungsbewertung und normativem Leistungsideal reagieren die Sekretärinnen auf drei unterschiedlichen Weisen, die sich disparat auf das Verfahren auswirken (S. 296–335).

Kritische Würdigung

Westerheides Ergebnisse zeigen, dass alle Befragten ein großes Bedürfnis nach ideeller Wertschätzung äußern (S. 268). Auch wenn sich diese im „Dreiecksvergleich“ (S. 280) primär im Entgelt ausdrückt, können auch implizite Erwartungen, die sekundär mit dem Bedürfnis nach Wertschätzung einhergehen, für das subjektive Gerechtigkeitsempfinden ausschlaggebend sein; im Vergleich zur materiellen Leistungsvergütung werden diese leider kaum theoretisch und empirisch diskutiert (S. 266–271). Dabei könnte die Reflexion impliziter Erwartungen, z. B. mit dem prominenten Konzept des Psychologischen Vertrags (Rousseau, 1989), wichtige Erkenntnisse zum normativen Gerechtigkeitsverständnis von Sekretärinnen und den folgenden Auswirkungen auf Konflikte offenbaren.

Außerdem argumentiert Westerheide stets aus einer Perspektive, bei der von einem hierarchischen Machtverhältnis (Top-Down) ausgegangen wird; der Rückgriff auf mikropolitische Theorieansätze (z. B. Crozier & Friedberg, 1979) hätte gezeigt, dass Sekretärinnen in ihrer betrieblichen Rolle als „Infopoints“ (S. 213), also der Verfügung über umfangreiche Informationen und Wissen, sog. Ungewissheitszonen und damit Quellen von (Gegen-)Macht (Bottom-Up) kontrollieren – das birgt das Potenzial für Eigensinn und Widerstand. Eine solche Perspektive könnte weitere Erkenntnisse über (informelle) Konflikte um Leistungsgerechtigkeit liefern. Doch freilich: Eine Dissertation kann nicht jedes Feld beackern.

Westerheide beleuchtet ein Arbeitsfeld, das in der Vergangenheit meist unterbelichtet blieb. Ihr Buch besticht mit einer ausgiebigen Diskussion unterschiedlicher, auf den Forschungsgegenstand gerichteter Theorien und spannenden empirischen Erkenntnissen. Allerdings adressiert die umfängliche sowie sprachlich und theoretisch anspruchsvolle Dissertation vornehmlich ein Fachpublikum – interessierte Leser:innen könnten, wenn nicht vom Umfang, dann vom wissenschaftlichen Duktus abgeschreckt werden. Doch wer sich die Mühe macht, die 413 Seiten intensiv zu studieren, wird mit spannenden Erkenntnissen zur Leistungs(un)gerechtigkeit und dem Wandel der Sekretariatsarbeit belohnt.

Literatur

Crozier, M., & Friedberg, E. (1979). Macht und Organisation: Die Zwänge kollektiven Handelns. Königstein/Ts.Search in Google Scholar

Rousseau, D. M. (1989). Psychological and Implied Contracts in Organizations. In Employee Responsibilities & Rights Journal, Vol. 2 Issue 2, 121–139.10.1007/BF01384942Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-10-20
Erschienen im Druck: 2023-10-31

© 2023 Maurice Laßhof, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  39. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2023
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