„O Haupt voll Blut und Wunden,voll Schmerz und voller Hohn...“P. Gerhard, J.S. Bach
Fallvignette
Die Patientin liegt im Bett, die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Sie ist in ihren frühen Siebzigern, leidet an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung und wurde mehrmals an der Wange operiert. Die Schmerzmedikation wurde umgestellt, der Schmerzdienst beigezogen, die Oberärztin fragt bei der Visite, ob sich die Symptome gebessert hätten, die Patientin verneint.
„Ich halte das nicht mehr aus“, sagt sie. „Ich bin am Ende“; „es tut so weh“; „ich kann so nicht mehr“; „so will ich nicht weiter leben“.
Betretenes und sorgenvolles Schweigen im bei der Visite anwesenden Team. Es wurde alles getan, die Patientin ist gut versorgt, wie kann ihr geholfen werden? Ist sie suizidal?
Die bei der Visite anwesende Mitarbeiterin des psychosomatischen Dienstes, die sowohl ärztliche Psychotherapeutin als auch Musiktherapeutin ist, besucht die Patientin nach der Visite. Sie stellt sich vor, setzt sich ans Bett, nimmt die Hand der Patientin, hört ihr zu. Die Patientin erzählt von einem schweren Leben, von den vier Kindern, die sie geboren hat. Zwei davon sind schon verstorben, das sei so ein unerträglicher Schmerz. Auch der Ehemann ist vor ein paar Jahren verstorben, die beiden noch lebenden Kinder sind mit ihren Familien in eine andere Stadt gezogen. Die Patientin ist einsam, traurig, nun auch noch diese Krebserkrankung, die vielen Operationen. Wie soll das Leben weitergehen? Wie wird sie aussehen, wenn der Verband abgenommen ist, wird sie entstellt sein? Wird sie alle Bewegungen wieder normal ausführen können? Wird der Krebs weiter wachsen? Wird sie weitere Operationen über sich ergehen lassen müssen? Wird sich die Erkrankung im ganzen Körper ausbreiten?
Die Patientin weint, sie ist erschöpft, sie hat keine Kraft mehr. Die Therapeutin sitzt, hört zu, hält weiter die Hand der Patientin, versucht im Rhythmus der Klage mit zu atmen, mit der Patientin mitzuschwingen. Sie fragt: „Was gibt Ihnen Kraft? Was macht Sinn?“ Die Patientin sagt: „Ich habe eigentlich einen starken Glauben. Ich versuche, nicht aufzugeben. Aber es ist so schwer. Ich bin in meiner Kirche gut aufgehoben, ich singe gerne. Ich bin im Chor, das macht mir Mut. Ich konnte schon so lange nicht mehr in meiner Heimatstadt am Gottesdienst teilnehmen, womöglich kann ich nicht mehr mitsingen, wenn mein Gesicht so zerschnitten ist.“
Die Therapeutin versucht, gemeinsam mit der Patientin Kraftquellen zu suchen, vielleicht Kraftmusik, Kraftgesang? „Mir fällt ein Lied ein“, sagt die Patientin, „das haben wir im Chor gesungen: O Haupt voll Blut und Wunden... Kennen Sie es vielleicht?“ Gemeinsam summen sie die Melodie, die Patientin weint, die Therapeutin summt für sie leise weiter. Nach einiger Zeit verabschiedet sich die Therapeutin und verspricht, am nächsten Tag wieder zu kommen. Und sie fragt: „Soll ich vielleicht auch die Seelsorgerin informieren? Sie war auch bei der Visite anwesend, das ist bei uns ganz selbstverständlich, vielleicht können Sie mit ihr noch mehr über Ihren Glauben sprechen. Vielleicht hilft Ihnen das auch, diese schweren Zeiten und diese vielen Themen gut zu bewältigen?“ Die Patientin nickt, sie wirkt erleichtert, an diesem Tag klagt sie nicht weiter über die Schmerzen. Das Team ist verunsichert ob der Tränen und des Summens im Krankenzimmer, außerdem ist der Verband im Gesicht durch das Weinen nass geworden.
Gleichzeitig ist spürbar geworden, wie sehr der Schmerz und die Lebensthemen der Patientin vernetzt sind und in diesem Kontakt Resonanz gefunden haben.
„Dein Mund hat mich gelabetmit Milch und süßer Kost,dein Geist hat mich begabetmit mancher Himmelslust.“P. Gerhard, J.S. Bach
Leid und Schmerz im Klinikalltag
„Unabhängig von allen Anstrengungen zur Überwindung gehören Schmerzen und Leiden unausweichlich zur menschlichen Verfasstheit. Ähnlich wie Gesundheit und Krankheit zählen sie zu Phänomenen, die körperliche, seelische, soziale, geistige und spirituelle Dimensionen aufweisen.”(Peintinger, in: Bernatzky et al.: 35)
Leid und Schmerz, Klage und Trauer sind im oft sehr hektischen Klinikalltag nicht immer gut auszuhalten, für Beistand, Ruhe und Trost fehlen oft Raum und Zeit. Schmerzen werden evaluiert, auf Schmerzskalen vermerkt, immer wieder erfragt, immer wieder vor allem mit medikamentösen Mitteln behandelt. Schmerzfreiheit ist oberstes Ziel in unserer hochtechnisierten und gut funktionierenden Apparate- und Spitzenmedizin.
Zeit für die Klage, für das Weinen, für die Trauer sind nicht immer leicht zu erübrigen, die Dienstpläne sind straff und das Qualitätsmanagement erfordert unendliche Stapel von Papieren und Berichten, die verfasst werden müssen. Der Mensch, der sich dem Menschen zuwendet, sich ans Bett setzt, spricht und zuhört, verschwindet immer öfter hinter einem Bildschirm, so bleibt die Klage oft unerhört und ohne leibhaftige Resonanz. Die sorgsame Wahrnehmung und der leibhaftige Kontakt zu Patient/-innen sind aber unerlässlich und die interdisziplinäre Zusammenarbeit der verschiedensten Berufsgruppen ist von großer Bedeutung.
Resonance Based Medicine
In einer „Resonance Based Medicine“ (Glawischnig-Goschnik 2010) stellt sich die Therapeutin/Ärztin/Seelsorgerin/Psychologin/begleitende Person als Resonanzkörper zur Verfügung. Sie nimmt leibhaftig die Klage auf, alle Facetten eines biopsychosozio-spirituellen Modells kommen „zum Klingen“ und können, je nach spezifischer Fokussierung und fachdisziplinärem Zugang weiter, auch verbal-sprachlich bearbeitet werden. Biologische Faktoren, Schmerzmedikation, psychologische Faktoren, Soziales und Spirituelles dürfen anklingen, präsent sein, werden wahrgenommen und von dafür zuständigen Mitarbeiter/-innen begleitet und bearbeitet. Oft sind die Grenzen der Zuständigkeiten fließend. Was sind die Aufgaben des ärztlichen Gespräches, was kann das Pflegeteam leisten, wann wird die Psychotherapeutin beigezogen, wann die Musiktherapeutin, wann wird die Seelsorgerin informiert? Hilfreich sind in diesem Zusammenhang interdisziplinäre Teams, Visiten und Besprechungen.
Im gemeinsamen Austausch in einer interdisziplinären onkologischen Besprechung können die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Angebote der einzelnen Berufsgruppen besprochen und Therapiepläne erstellt werden. Die Anwesenheit der verschiedensten Berufsgruppen auch bei der Visite, zumindest einmal in der Woche, schärft den Blick der unterschiedlichsten Professionen füreinander und ermöglicht auch z. B. der Seelsorgerin, die Patient/-innen im Klinikkontext gemeinsam mit dem Team zu begleiten.
Solch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert von allen Beteiligten Disziplin, Geduld und Teamfähigkeit. Auch der Blick über den Tellerrand der eigenen Selbstverständlichkeiten, Erfahrungen und Kompetenzen, das Hören anderer Meinungen sowie das Sichtbarwerden unterschiedlicher Fokussierung ist in Zeiten von Zeitnot und Mangel an ärztlichen Fachkräften eine Herausforderung. Der Benefit des interdisziplinären Zuganges zeigt sich in der Fülle der unterschiedlichsten Erfahrungen, gerade auch für das Team, das so in jedem Fall den sorgsamen Umgang mit den Patienten und Patientinnen gewährleisten kann.
Therapeutische Mittel und Begleitung, Musik und Musiktherapie, Resonance Based Therapy
„Because all men are brothers...”P. Gerhard, D. Brubeck
Das in der Fallvignette erwähnte Lied, das im deutschsprachigen Raum für viele Menschen zum allgemein bekannten Liedgut zählt, ist hunderte von Jahren alt und von verschiedensten Verfassern sowohl musikalisch als auch textlich gestaltet worden , auch der englischsprachige Text ist von besonderer Innigkeit und Tiefe. Das Lied und die Fallvignette sind ein schönes Beispiel für die Einbindung musikalischer Mittel in der Schmerzbehandlung und die Möglichkeit spirituelle Ressourcen in der Behandlung und Begleitung von Patient/-innen zu nutzen. Dabei stellt sich auch in besonderer Weise die Frage, ob die Medizin nicht profitieren könnte von einem biopsychosoziospirituellen Modell, das die Frage des Spirituellen als wesentlich erachtet und daher gesondert benennen möchte (Glawischnig-Goschnik 2014).
Das biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit, das seit den 1950er Jahren vor allem von G.L. Engel entwickelt wurde und an Bedeutung gewonnen hat (Egger 2005), stellt die Zusammenhänge und Gleichzeitigkeiten zwischen biologischen, also vor allem körperlichen Phänomenen und psychologischen Anteilen sowie die sozialen Netzwerke von Patient/-innen und Behandler/-innen dar. Die spirituelle Komponente wird darin nicht ausdrücklich ausgewiesen, sondern als Facette des Psychologischen betrachtet. Im sorgsamen Umgang mit Patient/-innen wird aber deutlich, dass die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung von Leiden und Schmerz und die Frage adäquater Behandlungs- und Bewältigungsstrategien sehr wohl das Spirituelle als eigene Dimension erkennen lassen.
Das Musikalische als Möglichkeit für Resonanz und Ausdruck ist damit eng verknüpft und sowohl in der Begleitung von Patient/-innen als auch als Ressource für Betroffene und Helfer/-innen gut brauchbar.
„Das Unaussprechliche, Irrationale, Numinose existiert und braucht mehr Ebenen des Ausdrucks als allein die reflektierende Sprachlichkeit. Musik ist eine naheliegende Dimension dafür.“(Tekaath & Muthesius: 121)
Literatur
Egger JW (2005) Das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Grundzüge eines wissenschaftlich begründeten ganzheitlichen Verständnisses von Krankheit. Psychologische Medizin 16:3-12. Suche in Google Scholar
Glawischnig-Goschnik M (2010) „Glaube, Liebe, Hoffnung“. Verbales, Nonverbales und Musikalisches in Grenzbereichen der CL- Versorgung. Psychiatrie und Psychotherapie 6:197-201.10.1007/s11326-010-0137-2Suche in Google Scholar
Glawischnig- Goschnik M (2014) Brauchen wir ein bio-psycho-sozio-spirituelles Modell? Überlegungen zum Menschenbild in der Medizin. In: Schaupp W, Platzer J , Kröll W (Hg.) Gesundheitssorge und Spiritualität im Krankenhaus. Innsbruck: Tyrolia. 29-53.Suche in Google Scholar
Peintinger M (2007) Glaube, Hoffnung und Schmerz. In: Bernatzky G, Likar R, Wendtner F, Wenzel G, Ausserwinkler M, Sittl R (Hg.) Nichtmedikamentöse Schmerztherapie. Wien: Springer. 31-50.10.1007/978-3-211-33548-2_5Suche in Google Scholar
Tekaath N, Muthesius D (2015) Spiritualität und Musik. Ein Synergieeffekt in der musiktherapeutischen Arbeit mit alten Menschen. Spiritual Care 2:114-125.10.1515/spircare-2015-0026Suche in Google Scholar
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Warum ein Heft über Schmerz und Spiritualität?
- Originalia
- Die spirituelle Dimension des Schmerzes
- Spiritual Pain. Annäherung an einen Schlüsselbegriff interprofessioneller Spiritual Care
- Krankheitsbewertungen von Personen mit chronischen Schmerzerkrankungen und ihr Zusammenhang mit Indikatoren der Spiritualität
- Kasuistik
- „Wenn Klagen und Leiden unerhört bleiben“
- Essay
- Spiritualität und Schmerzkrankheit
- Erfahrungsbericht
- Spiritualität im Umgang mit Schmerzpatienten: eine Herausforderung für professionell Pflegende
- Spiritueller Impuls
- Schmerz – Leid – Leiden aus der Sicht der Seelsorgerin
- Interview
- Bedeutung des Glaubens in der Bewältigung von Schmerzen
- „Ich hatte plötzlich das Gefühl zu wissen, dass es doch etwas Ewiges gibt“
- Spiritual Care, Trägerschaft und Management von Krankenhäusern
- Das Stichwort
- Total Pain
- Yoga
- Sucht, süchtig
- Tagungsbericht
- Fremd im Alter?
- End-of-Life: Jewish Perspectives (2)
- Rezensionen
- Thomas Wild (2016) Mit dem Tod tändeln. Literarische Spuren einer Spiritualität des Sterbens. Stuttgart: Radius. ISBN 978-3-87173-645-2; 292 Seiten; Preis: D 20,00 €
- Monika Müller, David Pfister (Hg.) (2014) Wie viel Tod verträgt das Team? Belastungs- und Schutzfaktoren in Hospizarbeit und Palliativmedizin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN: 978-3-525-40341-9; 318 Seiten, Preis D 30,00 €, A 30,90 €, CH 38,90 CHF; E-Book 23,99 €
- Yasmin Gunaratnam (2013) Death and the migrant – bodies, borders, and care. London: Bloomsbury Academic. ISBN: 978-1474238267; 216 Seiten, Preis (Taschenbuch): 23,84 €; E-Book 20,96 €
- Mitteilungen
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- Editorial
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- Spiritual Pain. Annäherung an einen Schlüsselbegriff interprofessioneller Spiritual Care
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- „Wenn Klagen und Leiden unerhört bleiben“
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