Ethymologie und Begriffsgeschichte
Historisch betrachtet kann man darauf schließen, dass s.e Verhaltensweisen so alt sind wie die Menschheitsgeschichte selbst. Beispielweise gibt es Aufzeichnungen, dass die Sumerer in Mesopotamien schon vor 9000 Jahren mit der Zubereitung von Bier vertraut waren. Das Wort S. leitet sich vom althochdeutschen „Siech“ (krank) ab. Dem entsprechend können dem S.begriff unterschiedliche Bedeutungsinhalte zugeschrieben werden. So dient er einerseits zur Beschreibung von Krankheiten (z. B. Gelbs.) oder auch Verhaltensstörungen mit Kontrollverlust (Alkohol-, Drogen-, Spiels.), zum anderen kann er zur Beschreibung von negativen menschlichen Eigenschaften herangezogen werden (z. B. Habs.). Umgangssprachlich finden sich noch viele weitere Anwendungen (z. B. Fernsehs., Naschs.), die aber im Normalfall nicht mit dem Zerstörungspotential einer „echten“ S.erkrankung zu vergleichen sind und auch nicht zu schweren Formen von Abhängigkeit führen (Möller et al. 2015).
Definition des S.begriffs
Nach wie vor kann die Definition der Weltgesundheitsdefinition (WHO) aus dem Jahr 1964 als die gebräuchlichste Beschreibung von S. herangezogen werden: Demnach ist S. „ein Zustand periodischer oder chronischer Intoxikation, verursacht durch wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Substanz, der für das Individuum und für die Gemeinschaft schädlich ist“ (Möller et al. 2015: 334). Des Weiteren kann Abhängigkeit als eine primäre, chronische, multidimensionale neurobiologisch verankerte Erkrankung beschrieben werden. Darauf aufbauend kann unter psychischer Abhängigkeit ein übermächtiges, unwiderstehliches Verlangen nach einer bestimmten Substanz/Droge (engl.: „Craving“) verstanden werden. Physische (körperliche) Abhängigkeit ist vor allem durch eine Toleranzentwicklung und das Auftreten von Entzugserscheinungen gekennzeichnet (Möller et al. 2015).
Des Weiteren findet sich eine alternative Beschreibung von S.erkrankungen, welche besonders für eine psychodynamische Auseinandersetzung von erhöhter Relevanz ist. So kann S. nach Jim Orford (2002) als exzessiver Appetit verstanden werden bzw. als eine „Bindung an eine appetitive (lustgesteuerte) Aktivität, welche so stark ausgeprägt ist, dass es für die Person schwierig ist, diese Aktivität zu zügeln, obwohl diese einen Schaden verursacht“ (Übersetzung: Autor nach Orford 2002: 18). Dazu korresponierend wurde S. auch prominenterweise als spezifische Form der Bindungsstörung beschrieben (Flores 2001). Die klinische Diagnostik kann im Allgemeinen auf Basis der Internationalen Klassifikation von Erkankungen (ICD 10, Kapitel F; momentan in zehnter Revision) oder dem diagnostischen bzw. statistischen Manual psychischer Erkrankungen (DSM 5, fünfte Revision) erfolgen. Eine sichere Diagnose von Abhängigkeit kann nach ICD 10 dann gestellt werden, wenn zumindest drei der folgenden sechs Symptome für den Vorjahreszeitraum zutreffen: 1) ein Zwang die Substanz zu konsumieren, 2) Kontrollverlust, 3) körperliche Entzugserscheinungen, 4) eine Erhöhung der Toleranz, 5) die Vernachlässigung anderer Interessen bzw. 6) ein fortgesetzter Konsum trotz schädlicher Folgen.
Modelle der S.entstehung
Die Entstehung einer S.erkrankung stellt immer ein bio-psycho-sozial bedingtes Geschehen dar. So kann erstens unter Berücksichtung der Art der Droge (d. h. ihrer Verfügbarkeit, Wirkung und Verträglichkeit), zweitens der Umwelt (Familie, Gesellschaft, Freundeskreis, Lebensereignisse oder Stress etc.) und drittens der individuellen Ausstattung der betreffenden Person (Genetik, Persönlichkeits- und Bindungsorganisation) auf die multifaktorielle Genese einer S.erkrankung geschlossen werden. Darüber hinaus kann auch die Möglichkeit einer spirituellen Komponente im Sinne einer Erweiterung hin zu einem bio-psycho-sozio-spirituellen Modell für den Umgang mit S.erkrankungen diskutiert werden (Unterrainer 2014). Eine S.erkrankung kann je nach Art der Substanz eine Vielzahl von körperlichen Folgeerkrankungen nach sich ziehen. Hier sei zur weiteren Lektüre Möller et al. (2015) empfohlen.
S.erkrankungen können aus lerntheoretischer Perspektive als das Ergebnis von Konditionierungs- (Verstärkungs-) Lernen erklärt werden. Dieses basiert auf der fälschlich positiven Erwartungshaltung hinsichtlich der Drogenwirkung. Aus psychodynamischer Perspektive werden S.erkankungen vor allem als Symptom eines dysfunktionalen Zusammenspiels von Über-Ich und Es-Instanzen verstanden. Des Weiteren ist auch darauf zu verweisen, dass im Prinzip jede Form der psychischen Erkrankung ein erhöhtes Risiko mit sich bringt, im Sinne der Ko-Morbidität eine S.erkrankung zu entwickeln. Ein relativ neues Feld ergibt sich durch die Berücksichtigung der Verhaltenssüchte. Hier sind vor allem die Spiels. und die S. nach neuen Medien (Handy, Internet) zu nennen (Möller et al. 2015).
Literatur
Flores PJ (2001) Addiction as an attachment disorder: Implications for group therapy. International Journal of Group Psychotherapy 51:63–81.10.1521/ijgp.51.1.63.49730Search in Google Scholar PubMed
Möller HJ, Laux G, Deister A (2015) Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Stuttgart: Thieme.10.1055/b-003-120842Search in Google Scholar
Orford J (2001) Addiction as excessive appetite. Addiction 96:15–31.10.1046/j.1360-0443.2001.961152.xSearch in Google Scholar PubMed
Unterrainer HF (2014) Braucht die S.behandlung eine spirituelle Dimension? Spiritual Care 3:28–35.10.1515/spircare-2014-0007Search in Google Scholar
Weiterführende Literatur
Kuntz H (2000) Der rote Faden in der S.: Neue Ansätze in Theorie und Praxis. Weinheim: Beltz.Search in Google Scholar
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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