Home Tong Zhao Li Bin (Hrsg.): Understanding Chinese Nuclear Thinking. 2016.
Article Publicly Available

Tong Zhao Li Bin (Hrsg.): Understanding Chinese Nuclear Thinking. 2016.

  • Karl-Heinz Kamp EMAIL logo
Published/Copyright: December 14, 2017

Die Frage, wie chinesische Politiker und Militärs über Kernwaffen und das Konzept der nuklearen Abschreckung denken, ist trotz ihrer Bedeutung bislang nur selten thematisiert worden. Umso interessanter ist die von der Carnegie Endowment vorgelegte umfangreiche Studie zum strategisch-nuklearen Denken in China. Elf chinesische Autoren und ein amerikanischer Experte, der lange in China gelebt hat, beleuchten dabei nicht nur die chinesische Seite, sondern heben auch die grundlegenden Unterschiede zum nuklearen Selbstverständnis der USA hervor. Sie berufen sich dabei auf die mittlerweile intensive Diskussion unter chinesischen Akademikern aber auch auf die seit einiger Zeit stattfindenden chinesisch-amerikanischen Nukleardebatten.

Begriffe wie nukleare Abschreckung, Rüstungswettlauf oder strategische Stabilität haben in China – bedingt durch Geschichte und Kultur – eine oft grundlegend andere Bedeutung. So hat China, anders als andere Nuklearstaaten, kein besonderes Prestige oder Selbstwertgefühl aus seinem Status als Atommacht geschöpft. Das führte nicht nur zu anderen Denkmodellen, sondern hatte auch ganz praktische Auswirkungen. Bis vor einigen Jahren waren chinesische Kernwaffen in einem sehr geringen Bereitschaftsgrad stationiert. Anders als in Russland (und vorher der Sowjetunion) und den USA wurden praktische keine Systeme on „High Alert“, also unmittelbar abschussbereit gehalten. Bei einem Kernwaffenangriff auf China hätte man sich eine Vergeltung erst nach mehreren Tagen oder gar Wochen vorstellen können. Hintergrund ist natürlich die Furcht, einen Atomkrieg geradezu aus Versehen oder durch ein zu frühes Agieren (launch on warning) auslösen zu können. Auch deshalb legt man stets großen Wert auf eine deutlich erkennbare „Rote Linie“ zwischen konventionellem und nuklearem Krieg

Chinesisches nukleares Denken ist auch stark von dem geradezu traditionellen Gefühl der technologischen Unterlegenheit gegen über „dem Westen“ oder den USA geprägt. Folglich werden oft auch im Nuklearbereich technische Entwicklungen vorgenommen, nur um neue Technologien zu beherrschen, ohne diese auch später zu stationieren.

Nicht zuletzt glaubten chinesische Nuklearstrategen lange wirklich an das Ziel der völligen und weltweiten nuklearen Abrüstung als beste Möglichkeit, um mit den nuklearen Risiken umzugehen. Dieser Glaube ist in den USA nicht sehr verbreitet – die Obama Initiative zur völligen Denuklearisierung war wohl eher eine Ausnahme, die auch innerhalb der USA nur von Wenigen wirklich angenommen wurde. Noch stärker ist der Unterschied zu Russland, wo man Kernwaffen als Teil der militärischen Gesamtstärke und als Kompensation für fehlende konventionelle Kapazitäten sieht. Auch das Konzept, Kernwaffen nicht als erste einzusetzen (no first use) ist in China keine leere Worthülse, sondern seit jeher Teil des nuklearen Denkens und Handelns.

Allerdings zeigen sich auch schrittweise Anpassungen an westliche Nuklearkonzepte und damit einhergehende Veränderungen im klassischen chinesischen nuklearen Denken. Dies wurde hervorgerufen durch die wachsende Offenheit in der sicherheitspolitischen Debatte insgesamt. Damit gelangten auch Gefahren wie nukleare Proliferation oder nuklearer Terrorismus in den Focus chinesischer Strategen. Folglich zeigte sich eine langsame aber stetige Bereitschaft Chinas, solche Gefahren durch internationale Zusammenarbeit anzugehen. Zunehmende Debatten führen aber auch zu Zweifeln an herkömmlichen Denkmustern. Chinesische Experten fragen sich heute, ob die Abschreckung insgesamt flexibel genug ist, um mit den neuen Gefahren umzugehen. Die Idee der Machbarkeit einer nuklearwaffenfreien Welt bekam ebenfalls Risse. Diese stetige Evolution wird zu neuen Konzeptionen und zu neuen Entscheiden bei Waffentypen, Beständen und Stationierungsorten führen.

Das Veröffentlichungsdatum vom Oktober 2016 lässt auf einen Redaktionsschluss im Sommer dieses Jahres schließen. Damit können leider die Reaktionen auf das rasche und aggressive nukleare Fortschreiten Nordkoreas nicht mehr berücksichtig werden. Es kann aber als sicher gelten, dass der Umstand, dass sich Pjöngjang weder durch Drohungen oder Sanktionen, noch durch Versprechungen von seinem Nuklearkurs abbringen lässt – und damit zu einer unmittelbaren Gefahr auch für Peking wird, nicht ohne Auswirkungen auf die chinesische Nuklearstrategie bleiben wird. Es dürfte spannend sein, diesen Prozess weiter zu beobachten.

http://carnegieendowment.org/2016/10/28/understanding-chinese-nuclear-thinking-pub-64975

Published Online: 2017-12-14

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Titelseiten
  3. Editorial
  4. Editorial
  5. Artikel
  6. Nordkoreas Raketenprogramm – Bedrohung oder Bluff?
  7. „Gekommen, um zu bleiben“: Optionen für eine Auseinandersetzung mit der neuen Nuklearmacht Nordkorea
  8. Trumps Staatsdemontage. Hinter vermeintlichem Chaos betreibt die US-Regierung einen strategischen Umbau des Staates
  9. Eine nukleare Neuausrichtung der NATO
  10. Literaturbericht
  11. Zum Ausmaß von und Umgang mit Nordkoreas Nuklearwaffen- und Raketenprogrammen – ein Literaturbericht
  12. Kurzanalysen und Dokumentationen
  13. Machtprojektion ins NATO-Meer: Die Marine der VR China in der Ostsee
  14. Fünf Anmerkungen zu Zapad 2017
  15. Aurora 2017 – ein neuer Beginn für Schwedens Verteidigung, und für die NATO
  16. Ergebnisse internationaler strategischer Analysen
  17. Michael J. Mazarr, Miranda Priebe, Andrew Radin, Astrid Stuth Cevallos: Understanding the Current International Order. 2016.
  18. Robert Kagan/Karen Donfried: Strengthening the Liberal World Order. A World Economic White Paper. 2016.
  19. Münchener Sicherheitskonferenz: Munich Security Report 2017: Post-Truth. 2017.
  20. Anthony H. Cordesman, Rethinking the Threat of Islamic Extremism: The Changes Needed in U.S. Strategy. 2017.
  21. Lynn E. Davis, Jeffrey Martini, Kim Cragin: A Strategy to Counter ISIL as a Transregional Threat. 2017.
  22. Richard Connolly, Towards a Dual Fleet? The Maritime Doctrine of the Russian Federation and the Modernisation of Russian Naval Capabilities. 2017.
  23. Frank G. Hoffman: Assessing Baltic Sea Regional Maritime Security. 2017.
  24. Margarete Klein: Russlands neue Nationalgarde – Eine Rückversicherung für Putin gegen Massenunruhen und illoyale Eliten. 2016. Mark Galeotti: National Guard: The Watchdog that Could Break the Leash. 2017 Igor Torbakov: The Praetorian Guard of Putin Must Quell Internal Unrest. 2017.
  25. Peter van Ham, Francesco Saverio Montesano, Frans Paul van der Putten: A South China Sea Conflict: Implications for European Security – A Scenario Study. 2016.
  26. Tong Zhao Li Bin (Hrsg.): Understanding Chinese Nuclear Thinking. 2016.
  27. Defence Budgets and Cooperation in Europe: Trends and Investments; Edited by Alessandro Marrone, Olivier De France and Daniele Fattibene. 2016.
  28. Buchbesprechungen
  29. Thomas Mahncken/ Joseph Maiolo/ David Stevenson (Hrsg.): Arms Races in International Politics. 2016.
  30. Enrico Fels: Shifting Power in Asia-Pacific? The Rise of China, Sino-US Competition and Regional Middle Power Allegiance. 2017.
  31. Franz-Josef Meiers: Bundeswehr am Wendepunkt. Perspektiven deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. 2017.
  32. Matthias Mader: Öffentliche Meinung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Zwischen Antimilitarismus und transatlantischer Orientierung. 2016.
Downloaded on 25.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2017-0100/html
Scroll to top button