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Ahnungen an der Peripherie. Fülle und Leere in Jacques Rédas Les Ruines de Paris

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Veröffentlicht/Copyright: 8. Dezember 2022
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Abstract

Jacques Réda’s collection of prose poems Les Ruines de Paris (1977) can be related to a long tradition of literary works about the French capital evoking its transformation, setting out the contradictions between new industrial and still remaining older areas. These are also the urban topographies where the lonely stroller explores the ‚ruins of Paris‘, discovering less known streets and indeterminate wastelands on the edge of a rapidly changing city. However, precisely these strange zones produce often a vague feeling of epiphanies for the observer, the periphery thus acquires its own suggestive aura as it already did in surrealist writers like Aragon and Leiris, but also in the early Borges. Putting it in a more theoretical way in Les cinq points cardinaux (2003), Réda distinguishes between the different ways places may appear to an attentive mind, finding a sort of transcendental surplus in the specific atmosphere of the outskirts. Our essay shows this aesthetic fascination as a medium of poetic energy in Les Ruines de Paris, linking it to a historical moment after modernism when intuition and imminence have become supplements of plenitude.

I

Jacques Rédas 1977 erschienene Sammlung von Prosagedichten mit dem Titel Les Ruines de Paris kann an eine lange Tradition von Paristexten anknüpfen, in denen die genaue Aufmerksamkeit für den Wandel der Stadt, für das Widersprüchliche von industrieller Neuerung und noch sichtbarem Alten im Mittelpunkt steht. Gerade in der französischen Kapitale lassen sich solche Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigkeiten gut beobachten, sie sind entsprechend auch das Thema jenes einsamen Spaziergängers, der bei Réda die ‚Ruinen von Paris‘ durchstreift. Gemeint sind mit diesem Werktitel die weniger beachteten Straßen an der Peripherie, die Brachen, offenen Gelände und Baulücken einer sich verändernden urbanen Umwelt. Ein Gegen-Paris, das hier aber die materielle Infrastruktur der Gedichte bildet und vom fiktiven Sprecher in zentrifugaler Bewegung erschlossen wird. Aufgerufen ist mit solchen poetischen Streifzügen immer schon die nachromantische Flaneur-Tradition, die sich von Baudelaire ausgehend über Aragons Paysan de Paris (1926) und Benjamins Passagen-Werk (1927–1940) entwickelt hat.[1] Sie reicht bis in die siebziger Jahre, also die Entstehungszeit der Ruines, der einschneidende städtebauliche Veränderungen im Zuge der sogenannten Zweiten Haussmannisierung vorausgegangen waren. In diesem Sinne ist Rédas lyrischer Zyklus zugleich auch als später Nachklang einer französischen Ruinendichtung lesbar, die sich zwischen Renaissance und Romantik aufspannt.[2]

Im Zeichen einer Hochphase des spatial turn konzentrierte sich das Interesse an Rédas Parisgedichten zunächst vor allem auf den ‚späten Flaneur‘, auf die Praxis des Gehens als Hervorbringen von Räumen, die peripheren Topographien der äußeren Arrondissements mit ihren industriellen Ruinen und provisorischen Übergängen.[3] In geringerem Maß haben die in diesem Umfeld vielleicht unerwarteten Schwundstufen des Sakralen, die Formen von Transgression mit noch unbestimmtem Status Aufmerksamkeit auf sich gezogen.[4] Gerade in den Ruines de Paris verbindet sich mit den fiktiven Spaziergängen immer wieder eine Intuition naher Epiphanien,[5] vielerorts scheint die Gegenwart eines Anderen plötzlich mit Händen zu greifen zu sein, auch wenn das eigentliche Erscheinen zuletzt stets ausbleibt. In solchen „Räume[n] ausstehender Epiphanie“ (Warning 2001, 149) bilden folglich die Gesten der Ahnung und der Erwartung angesichts einer unverfügbaren Transzendenz das eigentliche Ereignis im ‚Gehraum‘ des fiktiven Sprechers.[6] Auch in dieser Schwundstufe werden meist unauffällige und entlegene Schauplätze aber noch poetisch auratisiert und zum Ort einer „mystique sans Dieu“[7], die sich in der Wahrnehmung des lyrischen Ich ereignen kann.

Diese kairotischen Augenblicke in Les Ruines de Paris sind nun in der vorliegenden Forschung sehr verschieden ausgedeutet und kontextualisiert worden. Biographische Leser verorten sie in der zeitlebens geführten Auseinandersetzung des calvinistisch erzogenen Dichters mit dem christlichen Glauben. Hierfür spricht das wenig gelesene Frühwerk der Gedichtzyklen Amen (1968), Récitatif (1971) und La Tourne (1975), die den Ruines vorausgehen und das Ringen um die faiblesse de croire als dunkles inneres Drama entwerfen. Noch ein spätes Langgedicht aus Lettre sur l’univers et autres discours en vers français (1991), nämlich „Sur la difficulté d’un retour à Dieu quand on a trop pris le large“, zeugt von der Auseinandersetzung mit dem Glauben, wenn auch in ironisch abgemilderter und persönlicher Form. Aus intertextueller Perspektive lassen sich die Transgressionen an der Peripherie dann zum zweiten in die Parisdichtung der Surrealisten und das Projekt einer mythologie moderne im Anschluss an Aragon und Leiris einordnen.[8] Beide beziehen sich unter anderem auf alltägliche Gegenstände, die ihren einstigen Zweck verloren haben und damit „Fremdkörper in der modernen Arbeits- und Warenwelt“ (Nitsch 2001, 41–42) geworden sind, als rätselhafte Zeugen einer untergegangenen Zeit gleichwohl ästhetisch wirksam werden. Wichtiger noch als die Objekte sind für Aragon und Leiris daneben bestimmte Orte der Großstadt. Ähnlich wie Benjamins Flaneur findet auch Aragons ‚Bauer von Paris‘ das Mythische vor allem in den altmodisch gewordenen Passagen, aber auch in den terrains vagues als unbestimmten Zwischenräumen, wie sie bei Bauarbeiten oder am Rande der Stadt entstehen. Den Surrealisten galten solche Orte im Übergang als Schwellenorte und „quasi-sakraler Ruinenbezirk“ (Nitsch 2001, 44, vgl. ebd.), von dem eine eigene Magie ausgeht. Eine dritte Lesart betont schließlich die ironischen Brechungen und Registerwechsel, die sich fast immer mit dem abschließenden Ausbleiben der eigentlichen Epiphanie verbinden. Réda erscheint so als Vertreter einer postmodernen Schreibweise, die jede metaphysische Aura in der lyrischen Rede dekonstruiert und subvertiert.[9] – Angesichts dieser heterogenen Annäherungen wird vor allem die kunstvoll angelegte Unbestimmtheit der möglichen Transzendenz deutlich, das bleibende Nichtwissen über deren eigentlichen Status, das in seiner Uneindeutigkeit die epistemische Schwebe zwischen Fülle und Leere wahrt. Je nach Tendenz kann Réda dann sowohl als radikal antimoderner Dichter erscheinen, dessen Quasi-Epiphanien eine komplizierte Rückkehr zum Glauben in immer neuen Anläufen illustrieren, oder als postmoderner Arrangeur leer gewordener Supplemente, die im Modus ironischer Distanz zerspielt werden.

II

Gehen im städtischen Raum ist für Rédas Flaneur offenbar keine rein innerweltliche Angelegenheit. In seiner Hommage an den argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges, deren Titel Ferveur de Borges (1987) auf die frühe Stadtlyrik des lateinamerikanischen Ahnherren der Moderne anspielt, findet sich eine ausdrückliche Identifizierung mit dessen urbaner Poetik im Zyklus Fervor de Buenos Aires (1923). Dort entdeckt Réda die eigene Vorliebe für „randonnées suburbaines“ (Réda 1987, 92) wieder und verbindet sich mit dem Vorbild in der „catégorie de poètes rôdeurs“ (ebd.), unterwegs im Zeichen einer „indéfinissable quête métaphysique“ (ebd.). Zahlreiche der abgelegenen Orte scheinen für den Spaziergänger ein eigenes Geheimnis erahnen zu lassen, dem der aufmerksame Beobachter nachspürt, sie senden ein Zeichen an den Sprecher „à la recherche de quelque chose, dont ces rues indéfiniment suivies ne me livraient de temps à autre que des signaux“ (ebd., 91). Gerade die herrenlosen, verlassenen oder verwilderten Zwischenräume, Brachen und Randgebiete der Stadt, die terrains vagues, bieten sich als unbestimmte Schwellenorte für Formen eines anderen Erscheinens an, dem der aufmerksame Flaneur geduldig nachspürt.[10]

Auch in Les Ruines de Paris finden sich zahlreiche solcher ahnungsvollen Augenblicke, die die Prosagedichte immer wieder als Kulminationspunkt abschließen. Oft zeigt sich ein plötzlicher Ausblick, ein überraschend entdeckter Ort, eine unerwartete Perspektive als ästhetisch intensiver Moment, in dem die Gegenwart eines Anderen gleichsam mit Händen zu greifen zu sein scheint, das sich indessen nie enthüllt. Insofern erinnert das Erlebnismuster an Borges‘ berühmt gewordene Formel, derzufolge das Ästhetische eine bevorstehende Offenbarung sei, die letztlich ausbleibt.[11] Im Zeichen dieses differentiellen Aufschubs der Epiphanie werden die Spaziergangsgedichte, wie Jean Pierrot bemerkt, zum unabschließbaren Gang durch ein ebenso prekäres wie geheimnisvolles Paris, zur offenen Serie einer Initiation in Stationen: „Ce déplacement prend parfois la forme d’une véritable quête initiatique“ (Pierrot 1994, 39). Jedes erhabene Potenzial dieser unbestimmten Situationen mit ihrer gespannten Erwartung wird allerdings regelmäßig durch ironische Registerwechsel gebrochen, die auf den Boden innerweltlicher Ernüchterung zurückführen.[12] Die Andersorte bleiben daher vor allem Supplemente einer spekulativen Transzendenz: als rhetorische Ergänzung zur konkreten topographischen Beschreibung des Sichtbaren und als Ersatz im Sinne bloßer Ahnung und Mutmaßung. Gerade der Entzug übt indessen eine orientierende Kraft aus und führt das lyrische Ich zu immer neuen Streifzügen durch ein fremdes Paris.

Zum zentralen Sujet der Spaziergangsgedichte wird damit oft eine Ästhetik der Imminenz. Das lyrische Ich folgt der Intuition eines vielleicht Bevorstehenden, der Ahnung eines möglichen Erscheinens, die sich in topischen Formeln von Transzendenzrhetorik ausformt und entsprechende Konnotationen aufruft, wie etwa: plötzlich sich öffnende Fernsichten, Passagen oder Tunnel, Lichteffekte in der Dämmerung und pathische Reaktionen von Staunen, Beirrung und Verwunderung.[13] Das Erscheinen der im Gehraum sich öffnenden Orte verbindet sich so mit einem Moment sakral getönter Andersheit, „la prégnance d’un ‚apparaître‘ compris comme manifestation ‚sacrale‘ de l’espace“[14]. Ebenso bezeichnend ist aber auch, dass das Wesen dieser scheinbar nahen Transzendenz letztlich unbestimmt bleibt und oft, wie bereits erwähnt, ironisch entschärft wird. Offenbar bedarf die Poesie zwar des Geheimnisses, dieses braucht aber nicht unbedingt ergründet zu werden,[15] eher wird es in immer neuen Anläufen eingekreist und vom diskreten Spaziergänger beobachtet, der keine Eindeutigkeit verlangt: „Qu’est-ce que j’attends? Un jour je le saurai peut-être, mais pour le moment rien de spécial.“ (RP 98)[16] Auch der Verdacht einer „pure attente de rien“ (RP 156) ist nie ganz auszuschließen. Das strukturelle Korrelat dieses negativen Spannungspols bildet dann die Figur einer emphatischen Erwartung angesichts dessen, was man bei zahlreichen Schauplätzen als Anschein oder Fassade des Sakralen bezeichnen könnte, denn „l’attente est [...] un moment antérieur au surgissement [...], mais riche de ses potentialités et où le poète se définit peut-être plus qu’ailleurs“[17].

Diesem Erscheinen von Orten im Gehraum mit ihrem Syndrom aus Imminenz und Erwartung hat Réda in seinem Aufsatzband Les cinq points cardinaux (2003), der als poetologische Selbstreflexion gelten kann, ein eigenes Kapitel mit der Überschrift „Ce qui nous arrive“ gewidmet, in dem eine „éthique du surgissement“ ansatzweise systematisiert ist (Réda 2003, 53–60). Ganz in surrealistischer Tradition wird dabei zunächst ausgeführt, dass ein transzendent konnotiertes Erscheinen nicht an den Hauptorten von Paris, sondern an ganz unscheinbaren und vordergründig geheimnislosen Plätzen zu erwarten ist, wo es mit einem Mal gleichsam in der Luft zu liegen scheint:

Et il me semble qu’elle [l’apparition] vient d’autant plus volontiers lorsqu’on est prêt à l’accueillir dans des lieux où tout paraît contrarier ou nier sa venue. [...] Car partout où nous sommes tentés de supposer qu’il n’y a rien – à admirer, à découvrir, à voir – elle peut se manifester comme le surcroît accordé à ce qui s’avoue en manque. Tel est l’enseignement que dispensent les lieux prétendument déshérités, comme livrés à eux-mêmes et à ceux qui peuvent y aller sans obstacle au-devant de l’apparition. (ebd., 58–59)

Interesse beansprucht dann weniger die spekulative Substanz des erfahrenen „surcroît“ (ebd., 58), sondern eher seine phänomenologische Dimension, nämlich die besondere Art des Erscheinens, wobei Réda zwei Ausprägungen unterscheidet. So kann der Raum auf den Flaneur in brüsker Plötzlichkeit zukommen, als gewalthafter „accident“ (ebd., 57), oder aber als unerwartete Öffnung der sanfteren „apparition“ (ebd.). Hierfür werden als gegenstrebige Beispiele der Autofriedhof von Charente sowie die idyllischen Ebenen der Haute-Marne und der Haute-Provence genannt, aber eben auch: die Ränder der Hauptstadt Paris. Beiden Formen des Erscheinens spricht Réda jedenfalls – und das wäre nun das Entscheidende – eine epiphane, eine sakrale Qualität zu, denn ‚wie ein Gott‘ kommt der Raum auf uns zu, um sich doch gleich wieder zu entziehen:

Il est en effet difficile d’établir une éthique sur le surgissement, et même d’en tirer une esthétique. Ça ne le concerne pas. Il ne tient aucun compte de nos besoins d’ordre et d’harmonie, ayant les siens qui ne cessent de distancer les progrès de notre entendement. Il se manifeste cependant selon divers modes, qui vont de la douceur de l’apparition à la brutalité de l’accident. J’appelle des ‚dieux‘ ces modes, mais par simple commodité. Entre milles autres, ils ont pris pour moi la forme d’un cimetière de voitures (en Charente, dans la profondeur idyllique d’un bois) et, en tant qu’apparition plus gracieuse, celle tout simplement de l’espace qui règne sur des plateaux: en Haute-Marne, en Haute-Provence, en Lozère, en Castille, voire pas très loin de Paris. L’espace vient continuellement vers nous comme un dieu (ou plutôt une déesse), et du même mouvement nous échappe – mais vient. (ebd., 57–58)

Offenbar bieten diese Orte das je ne sais quoi eines unbestimmten Mehr, die Gabe eines Überschusses an Erfahrung („elle surabonde“ [ebd., 58]), der sich einer hermeneutischen Synthese hartnäckig entzieht. Diese Orte leben von der Ahnung einer anderen Wirklichkeit, die freilich immer gleich ironisch entschärft wird, zumindest in den Gedichten der Ruines de Paris.

Aus systematischer Perspektive lässt sich dieses Widerspiel aus Ahnung und Privation bei Réda als eine Form von hyperbolischer Erfahrung begreifen, die Bernhard Waldenfels in seiner gleichnamigen Studie als ‚Hyperphänomen‘ aufgenommen hat.[18] Überschuss einer unbestimmbaren Gegenwart und Entzug finden hier im paradoxen Chiasmus zusammen, der als Fremderfahrung wahrnehmbar wird, als Einfaltung eines Anwesend-Abwesenden in die Gegenwart, von dem eine beirrende Faszination ausgeht. Solche Erfahrungen entziehen sich jeder kategorialen Reduktion und bilden damit eine zugleich phänomenologische und hermeneutische Provokation: „Etwas zeigt sich als mehr und als anders, als es ist. Darin liegt ein Paradox, das an die Identität von Dingen und Bezugsobjekten, aber auch an die Identität unserer selbst und aller anderen rührt“ (Waldenfels 2012, 9). Die ebenso transgressiven wie unbestimmbaren Überschüsse sind dann vor allem ein Phänomen der Anlagerung, Hyperphänomene besitzen keine festgelegte Struktur. Sie ereignen sich unvorhergesehen in konkreten Situationen und tragen „Spuren des Okkasionellen an sich“ (ebd., 12), darin erinnern sie an das Kairos des glücklichen Augenblicks, in dem das epiphane Andere plötzlich an Gestalt gewinnt. Gerade dieses Moment der Anlagerung hatte auch Réda im erwähnten Absatz „Ce qui nous arrive“ (Réda 2003, 53–60) betont, der die erscheinenden Räume als plötzlichen Überschuss schilderte („l’apparition se glisse par la brèche ainsi ouverte si l’on s’entraîne a la maintenir“, „elle surabonde“ [ebd., 58]), vor allem an völlig unerwarteten Stellen („comme le surcroît accordé à ce qui s’avoue en manque“ [ebd.]).

Von welcher Art wäre die lyrische Rede, die diese hyperbolischen Raummomente einfängt? Nach Waldenfels entsprechen solcher Fremderfahrung „Konzepte indirekter Beschreibung“ (Waldenfels 2012, 176–186), bei denen „wir uns auf etwas beziehen, indem wir uns auf etwas anderes beziehen“ (ebd., 176) An die Stelle einer einfachen Beschreibung treten Figuren der Verfremdung, die in „eine[r] Art Doppelblick und Doppelrede“ (ebd., 178) das ungefügige Andere einkreisen. Hierfür nennt Waldenfels verschiedene sprachliche Darstellungsmodi. Mit Blick auf unsere Schilderungen der Peripherie ist dabei insbesondere die Bildbeschreibung von Bedeutung: Sie soll nicht allein zeigen, was zu sehen ist, sondern eher den Prozess der Bilderfahrung ausstellen, „in Form eines sprechenden Sehens und sprechenden Sichtbarmachens“ (ebd., 184). In dieser subjektiven Anschauung und Hinsichtnahme kann auch das ‚Wovon‘ des Getroffenwerdens indirekt aufscheinen, nämlich über die Wirkungen. Formuliert wird entsprechend eher die subjektive Antwort auf das Überschuss/Entzug-Syndrom, also „Pathos und Response“ (ebd., 12) in Form etwa von Staunen, Beirrung und Verwunderung. Auf solchen Umwegen könne die „Fernnähe“ (ebd., 180) der Alterität in den Raum des diskursiv Darstellbaren eingeholt werden.

III

Malgré son bébé cette jeune femme a l’œil en coin-du-bois. Je lui demande où trouver une gare ou le 196, et en retour je lui déconseille le sentier d’où je descends. Elle y perdrait certainement la poussette. Sur ses indications bien précises je trouve l’endroit, marqué comme à Paris d’un potelet à tête jaune et rouge, mais l’autobus ne passe jamais. J’écris en haut d’un mur d’où l’on voit s’emballer vers la forêt toute une plaine, qui fut des champs, et qui devient à présent une sorte de savane suburbaine en ondulations pâles au beau soleil. Des émeus, des girafes peut-être, n’étonneraient qu’à moitié. De novembre n’est restée que la boue des derniers jours de pluie: j’en ai jusqu’au-dessus des genoux, ayant dévalé par surprise la pente d’un grand talus dont je suivais le chemin de crête, sans doute une transversale de fort avec des creux pour les canons, et des traces de créneaux de bonne taille hérissés d’herbes. La Bièvre bouillonne en bas: un des rares passages de son cours où on ne l’ait pas assujettie. On dirait qu’elle sort en fureur, et sachant qu’entre les poireaux de Gentilly la guette encore le pire: hurler sans voix dans un coffre de béton. Mais un peu plus haut en bordure d’un chantier de stade (courez en rond tant que vous voudrez mais ne rôdez pas), le ruisseau des Buats, qui probablement l’alimente, mène la fin de sa vie claire et libre sans s’en douter. Ça et là des planches dangereuses et plutôt superflues (puisqu’on peut facilement sauter) rejoignent les berges où pâturent des poules, des canards qui troublent à peine un lit de sable impalpable et de cailloux précieux. Une boucle contourne l’ombre apaisante d’une tonnelle funéraire: au-dessous de quelques pieds de terre et d’un petit monument en cube aux coins cornus (Hommage de la Tendresse de sa Fille), gisent les os du dramaturge Molé, décédé le 19 frimaire an XI: La Nature l’avoit Comblé de ses Dons, à 68 Ans la Mort a Tout Détruit. Exit Molé, c’est déjà trop ancien pour qu’on ressente de la tristesse. Il y a un banc. On entend le ruisseau et les oiseaux ensemble y coudre, sur le fond hargneux des pelleteuses qui soudain s’interrompt. Ça doit être midi. Le gui prospère entre les branches, la clarté ronronne à son tour comme un seul moteur doux, avec des accélérations qui lancent les rameaux écarlates. J’habite là depuis 36 m’explique le vieux monsieur dont j’ai croisé le chien tout à l’heure (un de ces noirs couards de banlieue qui filent sans même répondre à votre bonjour, et qui vous invectivent sitôt à l’abri de leur barrière), et il me montre toute l’étendue changée en murs où poussaient alors le blé, la luzerne, et il s’en fout. Je lui prédis qu’un jour ces faubourgs rejoindront ceux de Marseille, ce qui l’égaie vaguement, ajoutant que si j’aime malgré tout ce ravage et cet envahissement de désordre (sa cabane, son jardin, une usine, un ruisseau, deux immeubles, une folie, une futaie, trois cents pneus), c’est à cause de ma certitude qu’une révélation s’y prépare, ou sa promesse au moins. Je constate au fond de ses yeux troubles qu’il ne me suit plus du tout. Je me sens un peu confus: quelle révélation, en effet, quelle promesse, dont je ne sais rien, sinon – là, maintenant, sur ce mur en face de la steppe où j’attends l’autobus qui ne passe jamais – qu’elle finira par être tenue. (RP 114–116)

Im Rahmen seiner Stadtspaziergänge gelangt der Flaneur der Ruines de Paris immer weiter an die äußeren Ränder der Metropole Paris, denen der Subzyklus „Aux environs“ gewidmet ist (RP 100–124), bis in die bereits ländlichen Gegenden im Süden des 15. Arrondissements. Im Gedicht „Malgré son bébé cette jeune femme“ ist er schließlich in Gentilly angelangt und durchstreift das Ufergebiet der Bièvre, die weitgehend in unterirdisch verlaufenden Kanälen fließt. Während er dort auf einer Mauer sitzend auf den Bus wartet, bleibt genug Zeit, um den Blick in die Umgebung schweifen zu lassen: auf die „savane suburbaine en ondulations pâles au beau soleil“ (RP 114), die idyllische Uferlandschaft, einen Grabpavillon für den einstigen Schauspieler Molé von der Comédie-Française. Erst gegen Ende des Gedichts kommt es zum kurzen Gespräch mit einem Vorstadtbewohner, und erst hier wird deutlich, dass es sich beim Sprechort um einen Schwellenort zwischen den Räumen und Zeiten handelt, denn die letzten Vorstadtausläufer mit ihren kleinen Hütten blicken bereits auf ein expandierendes Neubaugebiet, das auch in das Land ausgreift und dem schon blühende Wiesen zum Opfer gefallen sind: „et il me montre toute l’étendue changée en murs où poussaient alors le blé, la luzerne, et il s’en fout.“ (RP 115) Von solcher Modernisierung zeugt auch der domestizierte Flusslauf, denn die Bièvre ist weitgehend überdeckelt worden und muss, ihrer Stimme beraubt, „hurler sans voix dans un coffre de béton“ (RP 114–115). Zu hören ist stattdessen der Schaufellader an der nahen Baustelle.

Im Sinne der Raumsemantik Lotmans wäre die erhöhte Mauer an der Bushaltestelle als Sprechort eine symbolische Grenze zwischen Stadt und Land, eine Art gedachter Grenzstein. Sie erinnert zugleich an surrealistische Gedanken über solche Schwellenorte, etwa an Walter Benjamins Text über die Pariser Kopfbahnhöfe, denen ein eigener „Schwellenzauber“ (Benjamin 1983, 283) anhaftet, denn sie gestatten eine „Initiation ins Andere und Fremde“ (Nitsch 2001, 47). An diese Tradition ‚profaner Erleuchtung‘ scheint auch unser Gedicht anzuknüpfen, und zwar im abschließenden Gespräch zwischen dem Spaziergänger und dem „couard de banlieue“ (RP 115), jenem ruppigen Rentner, der dort seit 1936 wohnt und offenbar ein kleines Häuschen mit Garten besitzt, durch dessen Zaun es sich vortrefflich auf die Leute schimpfen lässt. Eben dieser unsympathische Alte zeigt nun aber auf das vordringende Neubaugebiet, das zusammen mit den älteren Gebäuden und der Natur ein optisches Durcheinander bietet. Zu sehen sind „(sa cabane, son jardin, une usine, un ruisseau, deux immeubles, une folie, une futaie, trois cents pneus)“ (RP 115–116). Gerade dieses durch die Klammer syntaktisch zusammengeraffte Ensemble, dieser unübersichtliche Wust oder „envahissement de désordre“ (RP 115) von Dingen ähnelt, freilich im Großformat, den von den Surrealisten so bewunderten Flohmärkten mit ihrem wunderbaren Nebeneinander von Veraltendem und Neuem, das augenblickshaft in merkwürdiger Kombination zusammentrifft und dabei einen eigenartigen Zauber ausübt. Denn auch in der inszenierten Wahrnehmung treffen ja das altmodische Lustschloss und der Reifenhaufen, Garten und Fabrik unvermittelt aufeinander.

Das Hereinbrechen dieser unruhigen und irreduziblen Ansicht, ausgelöst durch die ausdrückliche Aufforderung zum Schauen durch den alten Vorstädtler („il me montre“ [RP 115]), wäre nun wohl einer jener quasi-sakralen Momente des Erscheinens, des ereignishaften „accident“ (Réda 2003, 57), die Jacques Réda in seiner vorhin zitierten Reflexion als transzendentes Geschehen beschrieben hat. Dafür spricht jedenfalls die sakrale Stilisierung, die sich hier mit dem Schwellenort am Stadtrand verknüpft, denn in die eingangs so friedliche und klare Stimmung der ländlichen Szenerie kommt durch den brüsken optischen „accident“ (ebd.) ein eigenes Moment des Geheimnisses hinein. Das lyrische Ich scheint sich gerade im Durcheinander der Übergangszone plötzlich einer nahen Offenbarung gewiss zu sein, eines transzendenten Versprechens:

Je lui prédis qu’un jour ces faubourgs rejoindront ceux de Marseille, ce qui l’égaie vaguement, ajoutant que si j’aime malgré tout ce ravage et cet envahissement de désordre (sa cabane, son jardin, une usine, un ruisseau, deux immeubles, une folie, une futaie, trois cents pneus), c’est à cause de ma certitude qu’une révélation s’y prépare, ou sa promesse au moins. (RP 116)

Die Spannung verdichtet sich damit sozusagen zwischen der inneren Gewissheit eines festen Versprechens, das gleichsam in der Luft liegt, und dem inhaltlich diffusen Charakter dieser möglichen Offenbarung: „quelle promesse, dont je ne sais rien“ (RP 116). Es ist eine Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen, genauer gesagt: es ist das Wissen um die Unmöglichkeit des Wissens, ein elusives Wissen von jenem unverfügbaren Anderen, das nur in Ahnungen und Stimmungen gezeigt werden kann. Damit ist die Poetik des Raums an dieser Stelle zugleich auch eine Poetik des Geheimnisses. Ganz ähnlich wie es schon Charles Baudelaire in seiner theoretischen Reflexion Le Peintre de la vie moderne (1863/1868) für die Kunst der Moderne formuliert hatte, so scheint auch hier dem unverfügbaren Geheimnis bisweilen eine eigentümliche Schönheit anzuhaften, als „beauté mystérieuse“[19]. Anders aber als beim französischen Ahnherren der modernen Lyrik wird bei dessen späterem Leser Réda solche Aura sogleich ironisch gedämpft und relativiert. Der „vieux monsieur“ (RP 115) hat längst aufgehört, den konfusen metaphysischen Spekulationen über womöglich nahende Epiphanien überhaupt zuzuhören: „Je constate au fond de ses yeux troubles qu’il ne me suit plus du tout.“ (RP 116) Und vielleicht geht diese ironische Schlusspointe sogar noch einen Schritt weiter: Denn ähnelt nicht das geahnte Erscheinen des ganz Anderen auf verblüffende Weise jenem langersehnten Bus, der sich bis zuletzt nicht zeigen will?

IV

Finira-t-on par abattre cette frange de masures qui s’incruste, le long du boulevard extérieur, signalant qu’on rentre d’un seul coup dans l’infini malade, avec ces collines sous un ciel fort, américain, réjoui du rugissement des citernes à seize roues vers l’échangeur, mais d’un bleu d’une époque ancienne encore sous le bouquet d’arbres où, malgré le vacarme, je pourrais lire un très petit volume en chagrin, plein de propos fervents sur l’égalité des hommes et la Nature? Derrière les abattoirs se redressent les minarets du Sacré-Cœur, en plâtre au fond d’une étendue que la lumière violente bouleverse. Je ne parle pas de bonheur ou de malheur. Cette clarté frappe exactement comme l’annonce d’une nouvelle. Nouvelle d’amour, nouvelle de mort, mais qui fait lever des émotions brillant dans l’effroi de l’herbe, des ferrailles, du ciment. Et les bâtisses d’habitation assistent comme une foule, quand les rangs qui s’écrasent et se hissent les uns sur les autres, autour d’un énorme accident, entonnent le chant de l’horreur ou de la fête. Je connais mal Pantin. Entre les deux cimetières doit y fonctionner un hospice, car les rues paisibles et très propres sont bordées de bancs, où n’essayent même plus de bavarder des groupes de trois, quatre vieilles dames qui attendent le soir et se souviennent peut-être, ou peut-être pas. La rue des Pommiers coupe la longue rue de Candale, qui se continue en escalier jusqu’à la commune des Lilas. La rue de Bel-Air suit la base de cette butte et, soit par la rue de Bellevue, soit par celle des Panoramas, en ne cessant pas de monter dur on atteint, au bout de la rue du Garde-Chasse, une sorte de belvédère sur l’espace en poussière de craie du nord. Un trimardeur mange accoudé par terre, des jeunes discutent devant une grosse moto. Je redescends par la rue Marcelle. Entre le 46 et le 52 il manque deux numéros, parce qu’un verger à l’abandon rompt le défilé des villas disparates. A moitié engloutis par l’herbe jeune et bleue qui dévale, des poiriers combinent une figure de vieille science sur l’horizon. L’enclos même réalise le diagramme d’une mémoire aussi transparente et perdue que celle des dames de Pantin. De mon mieux j’interprète, je déchiffre, cet ésoterisme de piquets, de branches et de cailloux. Mais ce qui compte est la voix qui répète en moi tu vois et rien d’autre: tu vois, sur le même ton de persuasion que ce verger tendre et triste. (RP 123–124)

Von einem hyperbolischen Erscheinen des Raums erzählt auch das Prosagedicht „Finira-t-on par abattre“ über den Spaziergang durch Pantin, eine industriell geprägte Satellitenstadt, die im Nordosten an Paris grenzt und somit erneut als ein symbolischer Schwellenort gelten könnte. Der erste Teil des Textes zeigt eine Ausfallstraße mit ihrer heruntergekommenen „frange de masures qui s’incruste le long du boulevard extérieur, signalant qu’on rentre d’un seul coup dans l’infini malade“ (RP 123); daneben werden Hügel sichtbar unter einem stahlblau-metallisch wirkenden „ciel fort, américain“ (RP 123), der sich am Motorengeräusch der großen Tanklaster erfreut, die dem Autobahnkreuz zustreben. Andererseits scheint das Himmelblau aber auch an veraltete, außer Gebrauch gekommene Farbtöne zu erinnern und so eine geschichtliche Tiefe anzuzeigen, „d’un bleu d’une époque ancienne encore sous le bouquet d’arbres“ (RP 123), und trotz des Lärms könnte der fiktive Sprecher sich die Lektüre philosophischer Schriften vorstellen. Mit dieser eröffnenden Beschreibung erhält der Grenzort Pantin insgesamt eine mehrdeutige Signatur, er ist einerseits industriell geprägt, klischeehaft-gesichtslos und ‚amerikanisch‘, andererseits bleiben aber mit den ärmlichen Baracken die historischen Tiefenschichten gleichsam eingekrustet im urbanen Raum zurück („s’incruste“, RP 123). In dieser Ambivalenz erinnert die Ausfallstraße von Pantin gleichermaßen an Marc Augés Leitbegriff der non-lieux, im Sinne austauschbarer moderner Durchgangsorte, wie auch an das von Michail Bachtin geprägte Konzept des Chronotopos, demzufolge die untergegangenen Zeiten im Raum zu unmittelbarer Anschaulichkeit gelangen können.[20]

Gerade in diesem unverständlichen Ineinander aus Maschinenlärm und historischer Meditation entsteht für das lyrische Ich jedoch ein intensiver „Bilderblick“ (Waldenfels 2012, 184), eine Beunruhigung des Sehens, die erneut auf ein hyperbolisches Erfahrungsgeschehen hindeuten kann. Im Sinne von Rédas Überlegung zu den zwei möglichen Formen des Erscheinens wäre Pantin jedenfalls der Ausprägung des „accident“ (Réda 2003, 57) zuzuordnen, als gewalthaft hereinbrechender Ort („on rentre d’un seul coup“, RP 123), der extreme Unruhe in seiner Bilderfolge und in der Bildwirkung hervorruft. Das inkommensurable Durcheinander der Eindrücke führt zu einer Fremderfahrung, die auch der kunstvolle Langsatz am Beginn des Prosagedichts zu keinem homogenen Panorama disziplinieren kann. Dem entspricht dann auch in der Folge das unmittelbare Getroffenwerden von einem epiphanen Lichtgeschehen, dessen semantische Substanz – das ‚Wovon‘ – abermals unbestimmbar bleibt, in jedem Fall aber existenziell konnotiert ist, eben Liebe oder Tod verkünden kann.

Derrière les abattoirs se redressent les minarets du Sacré-Cœur, en plâtre au fond d’une étendue que la lumière violente bouleverse. Je ne parle pas de bonheur ou de malheur. Cette clarté frappe exactement comme l’annonce d’une nouvelle. Nouvelle d’amour, nouvelle de mort, mais que fait lever des émotions brillant dans l’effroi de l’herbe, des ferrailles, du ciment. (RP 123)

Der starke Eindruck der „lumière violente“ mit ihrer intensiven „clarté“ (RP 123) führt hier zu pathischen Reaktionen („bouleverse“, „frappe“ [RP 123]) die indirekt auf ein hyperbolisches Geschehen hindeuten. Sie wiederholen sich dann wie in einem verstärkenden Schallraum, den hier die mit einer Menge aus Gaffern verglichenen umstehenden Plattenbauten bilden. Ungewiss bleibt indessen, ob der „énorme accident“ (RP 123), dem die personifizierten Gebäude beiwohnen, noch dem vorigen Lichtspektakel oder einem implizit bleibenden weiteren Erscheinen gilt.

Während eine Zwischensequenz lange Straßennamen in neutraler Auflistung aneinanderreiht und so den Eindruck einer labyrinthischen Passage hervorruft (RP 123–124), zeigt die abschließende Ansicht eben jene epiphane Imminenz, die in ihrem spannungsvollen Paradox aus Versprechen und Entzug für die Ruines de Paris so bezeichnend ist, wobei diesmal die sanftere erste Ausprägung der „apparition“ (Réda 2003, 57) zur Geltung kommt. So öffnet sich am Ende ein unerwarteter Ausblick an der Baulücke zwischen zwei Häusern, der die Durchsicht auf einen verwilderten Obstgarten und den Himmel dahinter freigibt. Wie in einem Scherenschnitt schieben sich die Äste der alten Birnbäume in das Blickfeld und geben so die Perspektive auf den geheimnisvoll wissenden Horizont frei, „des poiriers combinent une figure de vieille science sur l’horizon“ (RP 124). Ein analoges „diagramme“ (RP 124) spiegelt zugleich der noch erkennbare Grundriss der verschwundenen Häuser, die über ein undurchdringliches Gedächtnis verfügen (RP 124). In diesen Wahrnehmungsbildern zeigt sich letztlich eben jene Möglichkeit „indirekter Beschreibung“, die im Sinne von Waldenfels (2012, 176–180) allein dem transgressiven oder sogar transzendenten Hyperphänomen entspricht. Denn das lyrische Ich schildert hier keineswegs eine erfüllte Epiphanie als Ursprung transgressiver Erfahrung, wohl aber die durch die Äste perspektivisch gelenkte Durchsicht auf einen als wissend geahnten Himmel, der substanzielle Erwartungen auslöst; einen ähnlich unergründlichen Sichtkorridor bildet dazu der Grundriss als materielle „mémoire aussi transparente et perdue“ (RP 124). An die Stelle der Epiphanie selbst tritt die bewusst gerichtete Perspektive auf einen auratisch konnotierten Ort, an dem das abwesend-anwesend Andere sich sogleich entbergen könnte. An solcher hyperbolischer Imminenz versagt jede hermeneutische Bemühung, wie der fiktive Sprecher ausdrücklich formuliert. Es bleibt die „ikonische Reduktion“ (Waldenfels 2012, 184, vgl. ebd.), der Rückgang zum bloßen Sehen und zur pathischen Antwort auf ein außergewöhnliches Erfahrungsgeschehen.

De mon mieux j’interprète, je déchiffre, cet ésoterisme de piquets, de branches et de cailloux. Mais ce qui compte est la voix qui répète en moi tu vois et rien d’autre: tu vois, sur le même ton de persuasion que ce verger tendre et triste. (RP 124)

V

Ausgehend von den poetologischen Selbstreflexionen Rédas und zwei exemplarischen Einblicken in die Ruines de Paris hat sich gezeigt, dass die Spezifik der auratisierten Peripherie mit ihren nahen Epiphanien im Aspekt des Entzugs zu finden ist, genauer gesagt: in einem bleibenden Paradox aus geahnter Anwesenheit und materieller Abwesenheit, mit dem die Prosagedichte häufig abschließen. Ganz bewusst suchen die Texte gerade keine Vereindeutigung des kairotischen Augenblicks: Nicht die Tilgung der ambivalenten Schwebe zwischen Leere und Fülle steht im Zentrum des Raumerlebens, sondern die Fremderfahrung des lyrischen Ich angesichts von Unbestimmbarkeit und Nichtverstehen. Tatsächlich sucht der fiktive Sprecher keine eindeutige Auflösung, sondern bevorzugt die Position des scheuen Beobachters; ihm eignet die Aufmerksamkeit für jenes überschüssige Sich-Zeigen, das den profanen Räumen der Peripherie immer wieder unerwartet anzuhaften scheint: „Réda préfère ainsi ne pas approfondir ‚comme le font les théories‘ le miracle intermittent [...], pour s’en tenir à son énigme [...] le poète reste volontiers distant“ (Reymondet 2000, 869).

Gerade diese Unbestimmbarkeit aus An- und Abwesenheit, die paradoxe „Fernnähe“ (Waldenfels 2012, 180) entfaltet aber in den Prosagedichten als epistemische Schwebe ihre orientierende Kraft, sie führt das lyrische Ich in eine Bewegung der Suche und zieht es zu immer neuen Schwellenorten im Randgebiet der französischen Hauptstadt: in das Gebiet der Bièvre mit seinen abrupten Übergängen aus alter Siedlung und brutalem Neubau, wo plötzlich eine Offenbarung möglich scheint, an die Baulücken der Trabantenstadt Pantin, deren optische Diagramme aus Birnbaumästen und Grundriss ein altes Wissen des Ortes skizzieren. Anders gesagt: Rédas Parisgedichte sind nicht postmodern, weil sie jegliche Transzendenz ironisch aushöhlen oder banalisieren, sondern vielmehr deshalb, weil in ihnen Unbestimmtheit und Negativität zur produktiven Fundierung des Schreibens und, so möchte man ergänzen, des Gehens im Raum geworden sind: „Wir leben nicht einfach nur in einer Zeit der Abwesenheit von Gründen und Begründungen, sondern in einer Zeit, in der diese Abwesenheit selbst als Grund zu fungieren vermag.“ (Hetzel 2009, 11) Die stete Ironie verstärkt die Ambivalenz dieses schwankenden Grunds, sie begleitet alles Suchen mit dem Verdacht, „dass sich buchstäblich nichts an die Stelle dessen gesetzt haben könnte, was durch die Moderne überwunden wurde.“ (ebd., 10–11) Réda verschiebt allerdings diese spekulative Privation in den ästhetischen Bereich des Gedichts und gewinnt ihr dort ein eigenes Potenzial ab, in einer Poetik des Geheimnisses, das als ebenso irritierender wie faszinierender Spannungspol bestehen bleibt.

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Online erschienen: 2022-12-08
Erschienen im Druck: 2022-11-08

© 2022 Frank Nagel, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Allgemein-Romanistischer Teil
  4. Chronik 2021
  5. Aufsätze und Berichte
  6. Prosodic structure revisited: the need to disentangle rhythm from intonation
  7. Strutture dell’indeterminatezza e cambiamento per elaborazione: lo sviluppo degli indefiniti di scelta libera in italiano antico
  8. Erinnerungsmarkierungen in Zeitzeugenerzählungen. Episodische Rekonstruktion und epistemische Authentifizierung in Gesprächen mit Überlebenden der NS-Zwangsarbeitslager
  9. Ahnungen an der Peripherie. Fülle und Leere in Jacques Rédas Les Ruines de Paris
  10. Herz-loser Pinocchio: Carlo Collodi und die Fiktionalisierung des italienischen nation building
  11. Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – Antikolonialismus und Frauenrechte bei Olympe de Gouges
  12. Buchbesprechungen – Buchanzeigen
  13. Francesco Petrarca, De remediis utriusque fortune. Heilmittel gegen Glück und Unglück. Band 1: Heilmittel gegen Glück. Übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister. Herausgegeben und kommentiert von Bernhard Huss, Stuttgart, Hiersemann, 2021 (Mittellateinische Bibliothek; 8/1). LXVI+760 Seiten.
  14. Christian Rivoletti, Ariosto e l’ironia della finzione. La ricezione letteraria e figurativa dell’Orlando furioso in Francia, Germania e Italia, Venezia, Marsilio, 2014. 433 Seiten.
  15. Karin Westerwelle, Baudelaire und Paris. Flüchtige Gegenwart und Phantasmagorie. München, Wilhelm Fink Verlag, 2020. 600 pages.
  16. Ibero-Romanistischer Teil
  17. Aufsätze und Berichte
  18. Kolonialer Sprachkontakt: Spuren der indigenen Lebenswelt und der lenguas generales des historischen Paraguays im Spanischen der Jesuiten
  19. El cada silente y la distributividad a distancia en el español rural europeo
  20. The Spanish ‘present participle’: lexical elaboration of a morphosyntactic gap?
  21. „Faux comme un diamant du Canada“
  22. Narration der Resilienz – Álvar Núñez Cabeza de Vacas Naufragios (1542/1749)
  23. Buchbesprechungen – Buchanzeigen
  24. Javier Burguillo/María José Vega (Hgg.), Épica y conflicto religioso en el siglo XVI. Anglicanismo y luteranismo desde el imaginario hispánico, Woodbridge, Tamesis 2021. xii+226 Seiten.
  25. Marcus Coelen/Oliver Precht/Hanna Sohns (Hgg.), Pessoa denken. Eine Einführung. Mit Texten von und zu Fernando Pessoa, Wien, Turia + Kant, 2020. 244 Seiten.
  26. Jéromine François, La Celestina, un mito literario contemporáneo, Madrid / Frankfurt am Main, Vervuert, 2020 (Ediciones de Iberoamericana, 114). 532 páginas.
  27. Jorge García López / Danuše Franková, Martín Martínez y la Ilustración Española. Edición y estudio del «Juicio final de la Astrología», Girona, Documenta Universitaria, 2020. 266 Seiten.
  28. Janette Kranz, El periodismo literario de Leopoldo Alas, ‘Clarín’, Madrid, Fundación Universitaria Española, Col. Tesis Doctorales CUM LAUDE, Serie L (Literatura), Número 85, 2020. 319 páginas.
  29. Frank Nagel, Das Wissen des Dialogs. Epistemische Reflexion und poetische Kreativität bei Pedro Mexía und Pedro de Mercado, Paderborn, Brill / Fink, 2022 (Humanistische Bibliothek, Reihe I: Abhandlungen; 68). 385 Seiten.
Heruntergeladen am 8.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/roja-2022-0005/html
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