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Melanie Möller: Rhetorik zur Einführung, Hamburg 2022.

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Published/Copyright: November 13, 2024
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Melanie Möller: Rhetorik zur Einführung, Hamburg 2022.


Melanie Möller, klassische Philologin und durch vielbeachtete Publikationen ausgewiesene Expertin für Homer und Ovid, Cicero und Blumenberg, hat eine rundum gelungene Einführung in die Rhetorik vorgelegt, die einerseits Studierenden vorbehaltlos für eine erste Annäherung an die Disziplin empfohlen werden kann, die andererseits aber auch mit rhetoriktheoretischen Fragen bereits vertrauteren Leser:innen viele neue und überraschende Perspektiven eröffnet. Der vom Format der Junius-Einführungen vorgegebene knappe Umfang legt es dabei nicht nahe, eine wie auch immer geartete historische oder systematische „Vollständigkeit“ in der Darstellung anzustreben. Da es nicht um die Präsentation eines „Ganzen“ gehen kann, konzentriert sich die Verfasserin von vornherein auf das Wesentliche, das sie im kritischen Potenzial der Rhetorik findet. Nicht vereinbar mit dem kritischen Anspruch der Redekunst wäre dabei jeder Versuch, sie als System zu präsentieren. Möllers Einführung rettet die Rhetorik vor dem häufig mit ihrer Darstellung einhergehenden Anspruch einer „erschöpfenden Erfassbarkeit aller ihrer Teile und Strebungen“ (14). Statt eine „taxonomische Wut“ (15) zu reproduzieren, die die Rhetorik in einer Unendlichkeit terminologisch unterscheidbarer Tropen und Figuren, Stilniveaus und Arbeitstechniken verschwinden lässt, arbeitet sie vor allem heraus, wo und wie wir mit Hilfe rhetorischen Wissens unsere Welt angemessener beschreiben und uns unseres Verstricktseins in „Zeichenhaftigkeit“ (199) bewusst werden können.

Das kritische Potenzial der Rhetorik wird in der Einführung auf mindestens vier Ebenen entfaltet: (1) Als textwissenschaftlich kritisch erweist sich Rhetorik darin, dass sie zu verstehen hilft, wie und mit welchen Mitteln Texte und Zeichen soziale Wirkungen entfalten, Welten erschließen, Stimmungen erzeugen und abwenden, wie sie uns schließlich dazu geneigt machen, Autor:innen zu vertrauen oder zu misstrauen. (2) Erkenntniskritisch ist Rhetorik, weil sie uns weiterhin darauf aufmerksam macht, wie unser Denken und die mit unseren Aussagen einhergehenden Geltungsansprüche an sprachliche Artikulationsformen gebunden bleiben. (3) Politische Kritik kann Rhetorik ausüben, weil sie uns dazu befähigt, Machtkonstellationen als kommunikative Arrangements zu analysieren, als Konflikte um Deutungen und Deutungshoheit. (4) Selbst- oder metakritisch wird Rhetorik schließlich, weil sie auf die Situiertheit des Subjekts der Kritik zu reflektieren vermag, weil sie sich als Praxis versteht, die mit anderen Praktiken verflochten ist, ohne diese von außen beobachten oder gar beherrschen zu können.

Nach einer bündigen Einleitung, die sich um eine erste Bestimmung der Redekunst zwischen „Macht und Schönheit“ (9), also zwischen politischen und ästhetischen Analysemöglichkeiten bemüht, geht ein erstes Kapitel „Grundfragen“ nach, die sich an den drei von Aristoteles unterschiedenen technischen Überzeugungsmitteln festmachen, an Logos, Ethos und Pathos. Auch in der Auseinandersetzung mit ihrem erkenntniskritischen Potenzial (Logos), ihren normativen Vorannahmen (Ethos) und in ihrer affekttheoretischen Erschließungskraft stehen jeweils kritische Potenziale im Zentrum. In Bezug auf die erkenntnistheoretische Dimension der Rhetorik wird hervorgehoben, wie sich Rhetorik kritisch zu dogmatischen Wahrheitsansprüchen verhalten kann, die oft auch mit anthropologischen und kommunikationstheoretischen Versuchen einer Transformation der Rhetorik einhergehen. Gegen den Anspruch manch polizeilicher Philosoph:innen, die für sich bis heute reklamieren, im Namen „unangreifbarer“ (20) Wahrheiten sprechen und die Grenzen legitimen Sprechens a priori vorgeben zu können, weist die Verfasserin, u. a. mit Gorgias, Gracián und Blumenberg, darauf hin, dass wir dem Evidenzmangel auch in der Philosophie nie vollständig entkommen können. Der Wahrheitsbezug der Rede entfällt damit nicht, erscheint aber aus rhetorischer Sicht gebrochen, eher als niemals stillzustellendes Problem, denn als Voraussetzung, auf die wir uns unmittelbar berufen könnten. In den Überlegungen zum Ethos wird auf die selbstbildende Dimension der Rhetorik verwiesen, auf die Unmöglichkeit, die Redner:innen, die für das, was sie entfalten, auch persönlich einstehen, aus der Rede zu eliminieren. Zugleich wird aber auch ein alteritätsethisches Moment der Rhetorik herausgearbeitet, die von jeher mit einer Kultur des Zuhörens einherging, exemplarisch etwa bei Thomas von Aquin, der Disputanten dazu aufrief, vor dem Entfalten der eigenen Argumente zunächst die des Gegners „sachgemäß zu paraphrasieren“ (34), die eigene Stimme also immer erst an zweiter Stelle erklingen zu lassen. „Rede-Kunst ist“, so wird dieser Gedanke am Ende des Buches nochmals aufgegriffen, „auch eine Frage gegenseitiger Be-Achtung“ (202). Die Abschnitte zum Pathos beschreiben schließlich Stimmungen als Voraussetzungen und Wirkungen der Rede, die den Argumenten in ihrer Bedeutung ebenbürtig sind. Hier wird vor allem ein von der Rhetorik betontes „Zusammenspiel von Affektsteuerung und Selbstbeherrschung“ (41) zentral, da eine Rednerin nur dann erfolgreich Affektlagen beeinflussen kann, wenn sie diese zunächst zu verkörpern vermag.

Auf die Vergegenwärtigung der Grundfragen folgt ein Kapitel zu „Reichweiten und Konstellationen“, das sich der Rhetorik über ihre Rolle in Verflechtungs- und Konfliktgeschichten nähert. Rhetorik wird hier vor allem in ihrem Verhältnis zu Bildungstheorie, zu Recht und Politik, zur Sprachtheorie sowie zur Philosophie untersucht. Auch in diesen Zusammenhängen wird deutlich, dass und wie die entsprechenden Disziplinen vom kritischen Potenzial der Rhetorik profitieren können, wie aber andererseits die Rhetorik selbst zu ihren genuinen Fragen und Anliegen erst in der Auseinandersetzung mit und im Befragtwerden von anderen Diskursen findet. Schon unter Bedingungen der klassischen Antike ließe sich die Rhetorik, mit einem Begriff unserer heutigen Zeit, als „transdisziplinär“ charakterisieren. So waren die Protagonisten rhetorischer Theoriebildung niemals nur Rhetoriker, sondern mindestens ebenso auch Philosophen (Aristoteles), Politiker (Cicero) oder Bildungstheoretiker (Quintilian).

Das dritte und umfangreichste Kapitel widmet sich schließlich anhand der officia oratoris, der Arbeitsschritte des Redners, der Aufarbeitung und Präsentation traditionellen rhetorischen Wissens, orientiert sich dabei aber nicht nur an den klassischen antiken Techniken, sondern auch an deren außerrhetorischer Rezeption von Nietzsche bis Paul de Man. Die Verfasserin legt hier einen weiten Begriff von Rhetorik zugrunde, der insbesondere auch rhetorikaffine philosophische Positionen wie die Metaphorologie Hans Blumenbergs, die Dekonstruktion Jacques Derridas oder die Nouvelle rhétorique von Chaïm Perelman und Lucie Olbrechts-Tyteca einbezieht. Gerade dieser dritte Teil der Einführung besticht durch seine außergewöhnliche Prägnanz und brevitas. So gelingt es Melanie Möller, ganze Diskursuniversen wie die Metaphorologie oder die Tropenlehre der Lütticher Gruppe μ knapp und doch so genau zu charakterisieren, dass die entsprechenden Ausführungen den Leser:innen erlauben, Fäden eigenständig weiter zu verfolgen, Details zu recherchieren und sich vertiefend in Problemkomplexe einzulesen. Die Schritte und Aspekte der officia oratoris werden darüber hinaus wiederum nicht als System präsentiert, sondern als Bühnen von „Konflikt[en] zwischen Regel und Freiheit“ (127), zwischen Anspruch auf argumentative Stringenz und einer positiv ausgezeichneten „Wildheit“ (200).

Nicht überzeugend ist einzig die, wohl den Reihenvorgaben geschuldete, Ausstattung des Bandes. So findet sich am Ende eine knappe Auswahlbibliografie relevanter Rhetorik-Literatur, aber keine vollständige Bibliografie der im Band zitierten Literatur, noch nicht einmal eine Aufschlüsselung der Ausgaben antiker Quellen, auf die im Text verwiesen wird. Den üblichen Handlungszwängen bei der letzten Redaktion des Manuskripts ist es wohl geschuldet, dass der Sophist Gorgias gleich im zweiten Satz der Einleitung in einem ziemlich falschen Jahrhundert landet – dies aber nur als Hinweis für weitere Auflagen, die dem Buch unbedingt zu wünschen sind.

Insgesamt erweist sich die Kunst dieser Einführung darin, Rhetorik immer zugleich in ihrer gesellschaftlichen Situiertheit und Verflochtenheit mit anderen Diskursen, in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrem kritischen Potenzial vorzustellen. Das bezieht sich nicht nur auf die Theorie der Rede, sondern auch auf Hoch- und Tiefpunkte der Redeliteratur, von Gorgias’ Lobrede auf Helena bis zu Donald Trumps Versuchen, sich durch eine dissimulatio artis und das Bemühen um größtmögliche Distanz zu Idealen politischer Korrektheit als authentisch zu gebärden. In seinem Vergegenwärtigen und ihrem Vor-Augen-Führen der Rhetorik in ihrem kritischen Potenzial geht das Buch über viele ältere Einführungen heraus, die häufig die neuzeitliche Restringierung der Rhetorik auf die elocutio hinnahmen und damit genau die reflexiven Möglichkeiten liegen ließen, die Melanie Möller virtuos bespielt.

Online erschienen: 2024-11-13
Erschienen im Druck: 2024-11-09

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 27.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/rhet-2024-0009/html
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