Seit sich die Künste in der klassischen Antike professionalisiert und begonnen haben, ihr jeweiliges Selbstverständnis in Texten zu reflektieren, sehen sie sich unter einem Rechtfertigungsdruck. Obwohl sie das individuelle wie das öffentliche Leben in vielen Hinsichten bereichern und um Handlungsräume erweitern, werden sie mit dem Verdacht belegt, uns von einer anthropologisch oder kosmologisch definierbaren Natur zu entfremden. Dieser Vorwurf wird gegenüber den bildenden Künsten, der Literatur, dem Handwerk und der Rhetorik etwa von Platon erhoben, der all diese Künste als „bloße“ téchnai bezeichnet, als Kunstfertigkeiten, die im Gegensatz zur epistéme, dem wahren und gerechtfertigten Wissen davon, wie sich die Dinge tatsächlich verhalten,[1] oberflächlich und unbegründet[2] bleiben würden. Diesem und vergleichbaren Einwänden begegnen die Techniken schon früh mit Verteidigungsstrategien. Eine dieser Strategien drückt sich im Anspruch einer möglichen Vollendung der Künste aus, die dann selbst wieder zur Natur werden. Insbesondere in den die bildenden Künste begleitenden Legenden wird, exemplarisch etwa im Pygmalion-Mythos, immer wieder eine Vision artikuliert, in der die Hervorbringungen der Künstler nicht mehr von dem, was aus sich selbst heraus geworden ist, von der phýsis oder der Natur, unterschieden werden können. Mit den Worten Heinrich von Kleists, der im Kontext der Romantik an diese Vision anknüpft, ließe sich sagen, dass die Künste im Rahmen dieser Verteidigungsstrategie „gleichsam durch ein Unendliches“ hindurchzugehen haben, bis sich „die Grazie wieder ein[stellt]“[3], bis sie wieder ganz Natur werden.
Auch die Rhetorik verfolgt gelegentlich eine analoge Strategie, wenn sie betont, dass es erst „die ars ist, die dem Adressaten eine Sache zur natürlichen macht“[4], dass die Natur gerade in ihrer Natürlichkeit nicht ohne eine Kunst gedacht werden kann. Im anonymen rhetorischen Traktat Peri hýpsous (Über das Erhabene) wird in diesem Sinne eine Position formuliert, die in der Sprache der heutigen Philosophie als „Naturalismus der zweiten Natur“[5] gekennzeichnet werden könnte, eine Position, in der sich Kunst in Natur und Natur in Kunst erfüllt: „Dann nämlich ist Kunst [téchne] am Ziel, wenn sie Natur [phýsis] scheint; die Natur wieder ist vollendet, wenn sie die Kunst unmerkbar einschließt.“[6]
Die zweite, sich mit der ersten oft ergänzende Möglichkeit der Techniken, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, uns in die Entfremdung und Weltlosigkeit zu führen, besteht darin, sich als Technik oder Kunst unsichtbar zu machen, die eigene Technizität oder Artifizialität zu dissimulieren. Auch von dieser zweiten Strategie macht die antike Rhetorik, eine der ersten Künste, die sich explizit als Künste definieren, ausgiebig Gebrauch. Mit der Vermittlung von Techniken des Überzeugens und sozial wirksamen Redens ging das Gebot einher, die Kunstmittel rhetorischen Sprechens nicht zu ostentativ einzusetzen und auszustellen. Die rednerische Kunst, so wird es erstmals von Aristoteles[7] indiziert, erweist sich vor allem auch darin, sich als Kunst zu verbergen, also in der dissimulatio artis, die gebietet, so zu sprechen, als ob dem je aktuellen Sprechen kein Kalkül, kein Kunstwissen und keine Übungspraxis zugrunde liege.[8] In der römischen Rhetorik wurde der Diskurs zur dissimulatio artis breit aufgegriffen und fast zu einem Gemeinplatz,[9] bis ihn Ovid schließlich so sehr erweitern konnte, dass er auch auf alltagskommunikative Situationen jenseits der rhetorischen Redetypen Anwendung fand und zur Grundlage einer frühen Ästhetik der Existenz werden konnte, die um die Invisibilisierung aller ästhetischen Techniken bemüht war.[10] In der frühen Neuzeit wurde die rhetorisch-ästhetische dissimulatio dann, unter dem Einfluss der römischen Rhetorik und Ovids, ebenfalls im Kontext einer Lebenskunstlehre aufgegriffen, exemplarisch etwa in Baldassare Castiligones Il Libro del Cortegiano (1528), die sie als sprezzatura wiederaufleben lässt,[11] als Ideal eines nonchalanten Auftretens, Handelns und Redens. Von Castiligone aus nimmt die dissimulatio einen komplexen Weg, in dem sich politische und ästhetische Anteile immer wieder verschränken, decken, aber auch in Konflikt geraten.
Zu einer politischen Kunst wird die dissimulatio in einer Tradition von Ratgebern für Fürsten, wie Niccolò Machiavellis Il Principe (1513), und Höflinge, so etwa in Baltasar Graciáns Oráculo manual y arte de prudencia (1647) und in Torquato Accettos Della dissimulazione onesta (1641). Bei letzterem dient die dissimulatio vor allem dazu, in einer von Willkür und Konkurrenz geprägten höfischen Situation nicht in den Fokus von Neid und Aufmerksamkeit zu geraten: Denn „es gibt“, so schreibt Accetto,
viele Füchse unter uns, und nicht immer erkennen wir sie, und wenn wir sie erkennen, ist es trotzdem beschwerlich, die eine Kunst gegen die andere anzuwenden, und in diesem Fall ist einer desto besser beraten, je dümmer er sich stellt, wenn wir nämlich so tun, als würden wir einem, der uns betrügen will, Glauben schenken, dann kann es sein, daß dieser unserem Anschein glaubt, und es zeugt von einer großen Gescheitheit, so auszusehen, als würde man nichts sehen, während man aber mehr sieht. (Accetto 1995, 35)
Wie die dissimulatio als Instrument verwendet werden kann, sich der Macht zu entziehen, sich undienlich zu machen, ohne die direkte Konfrontation zu suchen, so kann sie aber auch zur Erlangung und Ausübung der Macht verwendet werden. So bedienen sich z. B. die politischen Populismen unserer Tage bevorzugt Authentifizierungs- und Evidentialisierungsstrategien, die vorgeben, von einer vermeintlich „natürlichen“ (vortechnischen, ungekünstelten, alltäglichen, „volksnahen“) Position aus „uneigentliche“ (technisch inszenierte, künstliche, expertokratische) Formen der Rede zurückweisen zu können, die dann etwa mit „liberalen Eliten“ assoziiert werden. Im Falle Donald Trumps geht diese Strategie so weit, dass das offene Lügen, das Diffamieren und das politisch demonstrativ inkorrekte, sexistische und rassistische Sprechen bewusst zelebriert werden, um so den Eindruck zu erzeugen, Trump gehöre nicht zu jenem Establishment, das die hart arbeitenden, weißen männlichen Amerikaner immer weiter entsouveränisiere, sondern sei ein Angehöriger ebendieser Gruppe und agiere entsprechend in deren politischem Interesse.[12]
Eine gänzlich andere Strategie der Machterlangung durch dissimulatio und den mit ihr verbundenen Rückkopplungseffekten führt die dänische Polit-Serie Borgen – Gefährliche Seilschaften (2010-heute) vor Augen: Bereits in der ersten Folge der ersten Staffel, Der Wahlkampf, wird anhand der Protagonistin Birgitte Nyborg vorgestellt, wie das Verbergen der Kunst sowie der damit verbundene Effekt der sekundären Natürlichkeit nicht nur Erfolg beim Publikum bewirken, sondern auch ganz eigene Probleme in der Folge zeitigen kann. Hierbei werden verschiedene „Bühnen“ im Sinne Goffmans nebeneinandergestellt, um die Taktik der dissimulatio und damit notwendigerweise verbundene Herrschaftsstrategien zu reflektieren. Die Folge konzentriert sich auf den dänischen Wahlkampf, in dem die fiktive Moderate Partei, angeführt von Nyborg, scheinbar hoffnungslos verloren scheint, was deren Rücktritt als Parteichefin zur Folge hätte. Leitmotivisch wird die Taktik der dissimulatio anhand ihres schwarzen Kleides durchgespielt, das sie stets bei politischen Auftritten trägt, das ihr jedoch aufgrund der Gewichtszunahme während des Wahlkampfs nicht mehr passt. Bereits vier Tage vor der eigentlichen Wahl wird im Hause von Nyborg diskutiert, was Birgitte bei der abschließenden Wahlkampfsendung im dänischen Fernsehen tragen könnte und wie sie dabei agieren sollte. Auf die Frage ihres Gatten: „Wie taktisch willst Du sein?“, antwortet diese: „Ich will retten, was noch zu retten ist, es darf nur nicht danach aussehen.“[13] Drei Tage vor der Wahl trifft sie sich dann im titelgebenden Schloss Frederiksborg mit ihrem Spin-Doktor Kaspar Juul, eigentlich um dessen vorgefertigte Rede zu besprechen, was sie indes mit den Worten quittiert: „Ich will meinen letzten Auftritt nicht mit Taktik vergeuden.“[14] Den vermeintlichen Tiefpunkt bildet dann die Anprobe des schwarzen Kleides, die fürchterlich scheitert und von den Familienmitgliedern entsprechend kommentiert wird, weshalb sich Birgitte entschließt, ein altes, lilafarbenes Kleid anzuziehen, wohl wissend, dass dieses nicht passend für eine politische Diskussionsrunde ist. Der Höhe- und Wendepunkt der Handlung wird eingeleitet durch das Gespräch zwischen Nyborg und Juul hinter den Kulissen der Fernsehshow, in dem er ihr rät, „sei einfach ganz entspannt und Du selbst“, wodurch bereits ein Hinweis auf die folgende Inszenierung der sprezzatura gegeben wird. In der anschließenden Diskussionsrunde folgt Nyborg dieser Prämisse auf ganz eigene Weise, wenn sie zum einen vom vorgegebenen Redemanuskript vollkommen abweicht und zum anderen die vorgefertigte Inszenierung der Wahlkampfrunde in mehrfacher Hinsicht ausstellt: Alle seien übermäßig professionell, alle haben vorbereitete Reden. Dieser Professionalität gegenüber bekennt sie, dass ihr Kleid peinlich sei, sie selbst sei zu dick geworden und sie habe auch keine vorbereitete Rede, was ihren Spin-Doktor, der hinter den Kulissen steht, gerade zur Verzweiflung bringe.[15] Doch nutzt sie dieses Aufdecken der Inszenierung, um ihr eigenes Programm gleichermaßen natürlich und authentisch zu präsentieren, was noch dadurch unterstrichen wird, dass sie erklärt: „Wir müssen wieder lernen, ehrlich zu sein.“[16] In der Konsequenz fordert sie eine neue Art der Politik und von den Wähler:innen eine „Stimme für ein neues Dänemark.“[17] Die anschließenden Reaktionen auf ihre Rede, die ihre Kunst des Verbergens mit der Kunst des Enthüllens perfekt verbindet und zugleich mit allen Facetten der sprezzatura gekonnt spielt, sind entsprechend mehr als begeistert. Noch im Studio wird sie von einer Mitarbeiterin um ein Autogramm für deren Tochter gebeten, ihr politischer Weggefährte Bent Sejrø hebt hervor, dass dies etwas völlig Neues gewesen sei und sie den Zeitgeist getroffen habe, was dann auch entsprechend vom Wahlvolk honoriert wird, insofern die Moderate Partei wider Erwarten zum Wahlsieger avanciert. Was die Serie Borgen indes deutlich macht, ist zum einen, dass die dissimulatio als Taktik vorzugsweise von Erfolg gekrönt ist, wenn sie in spezifischen Situationen angewendet wird, diese Situationen aber tendenziell Ausnahmen und nicht Regelfälle darstellen. Zum anderen wird herausgearbeitet, dass es eine entscheidende Differenz gibt zwischen momentanem und dauerhaftem Erfolg, wobei für letzteres eine Strategie der dissimulatio notwendig wäre, was latent ein Paradoxon darstellt. Schließlich verdeutlichen alle vier bisher produzierten Staffeln der Serie, dass insbesondere Gruppen oder Parteien, die für sich Authentizität, Natürlichkeit und Glaubwürdigkeit reklamieren und/oder dies gar zu ihrem politischen Credo erheben, mit dem Problem konfrontiert sind, dass ihre Ehrlichkeit in einem Maße überprüft und vor allem auch eingefordert wird, das für tradierte, stets der Korruption verdächtigte Gruppen oder Parteien nie gefordert wird. Die dissimulatio ist entsprechend keine Tugend der Mitte, wie es in einer abschließenden Szene in einer Zeitungsschlagzeile lautet, sondern eine rhetorische und politische Technik, die ihre ganz eigenen Effekte und Probleme mit sich bringt, so dass es einer Strategie bedarf, um diese sekundäre Natürlichkeit mit der geforderten primären Natürlichkeit in Einklang zu bringen, um gleichermaßen ein souveränes Wahlvolk wie souveräne Politiker:innen zu konstituieren.
In das Interesse frühneuzeitlicher Poetiken und Ästhetiken gerät die dissimulatio, weil sie „das Verbergen von Kunst im Sinne (forcierter) Kunsthaftigkeit fordert“ und „scheinbar das genaue Gegenteil zu einem ‚technisch‘ orientierten, selbstbezüglichen Kunstbegriff“ verkörpert.[18] Spätestens mit dem Ende der Querelle des Anciens et des Modernes brechen die Künste mit den Forderungen älterer Regelpoetiken und versuchen, ihre eigene Technizität vollends zu überwinden, Natur in ihrer schöpferischen, sich selbst hervorbringenden Kraft zu beerben, oder sogar, im Sinne Kleists, selbst zur Natur zu werden. Mit dem neunzehnten Jahrhundert kommen gegenüber der romantischen Natürlichkeit erneute Zweifel auf, die sich mit einem dissimulatio-Verdacht verbinden. Die Natur der Romantik, so die Protagonisten einer künstlerischen Moderne, könnte sich selbst als scheinhaft erweisen, als kulturelle Konstruktion, als Ausdruck der Sehnsucht einer entfremdeten Kultur nach einem Außen, das damit zu ihrer eigenen Projektion wird. Die künstlerische Moderne reagiert darauf durch den Versuch einer Einklammerung der dissimulatio; dadurch, dass die Werke bewusst zu zeigen beginnen, „wie sie zeigen, was sie zeigen“[19], also „verfahrensrepräsentativ“[20] werden. Damit entkommt die Moderne der dissimulatio aber nicht wirklich, sondern flüchtet sich in eine dissimulatio zweiter Ordnung, die nun das technisch Vermittelte und Erzeugte als neue Natur begreift.
Dass sich die dissimulatio auch in ästhetisch-literarischen Kontexten nie vollständig bändigen und beherrschen lässt, mag vielleicht ein Blick auf eine kurze literarische Szene verdeutlichen, in der sie eine tragende Rolle spielt, auf eine Szene aus Jane Austens Roman Pride and Prejudice (1813). In der entsprechenden Szene bekommt die Familie Bennet, die einen von Verarmung und gesellschaftlichem Abstieg bedrohten Landadel repräsentiert, Besuch von Mr. Collins, einem Cousin von Mr. Bennet, zu dem schon seit vielen Jahren aufgrund eines Zerwürfnisses der Familienteile kein Kontakt mehr bestand. Mr. Collins wird bei seinem ersten Erscheinen als unangenehmer Geistlicher gekennzeichnet, als „ernst, würdevoll und [in] seinem Benehmen sehr förmlich“, etwas später dann sogar als „nicht besonders intelligent“[21]. Die Bennets nehmen ihn insgesamt als eine schlechte „Mischung aus Stolz und Unterwürfigkeit, Selbstüberhebung und Demut“[22] wahr, ein Eindruck, der sich vor allem an dem festmacht, was wir heute vielleicht (im Anschluss an Adorno) als „Halbbildung“ beschreiben würden, durch ein ostentatives Zur-Schau-Stellen einer Bildung, die Mr. Collins nicht wirklich habitualisiert hat. „Unterwürfig“ verhält sich Mr. Collins vor allem in übertriebener Weise gegenüber seiner adligen Patronin, Lady Catherine de Bourgh, die er in ihrem Festhalten an adligen Konventionen bei jeder Gelegenheit lobt und bei diesem Lob eine „große Beredsamkeit“[23] zeigt, eine Beredsamkeit allerdings, die die dissimulatio gerade nicht beherrscht. Er spricht und betont in permanent überzogener „Feierlichkeit“[24], verwendet altertümliche und bedeutungsschwangere Formeln, zeigt keinen Sinn für Angemessenheit. Da Mr. Collins die Familie Bennet, wie sich schnell herausstellt, vor allem deshalb besucht, weil er eine der fünf Töchter heiraten möchte, um so seinen Pfarrhaushalt zu komplettieren und damit den Erwartungen Lady de Bourghs zu entsprechen, überhäuft er die fünf Bennet-Schwestern beim ersten gemeinsamen Abendessen mit überzogenen und unpassenden Komplimenten. Mr. Bennets Erwartungen in Bezug auf seinen Cousin werden damit „voll erfüllt. Sein Cousin war so absurd, wie er gehofft hatte“[25]; gehofft hat er dies vor allem deshalb, weil er nicht ernsthaft eine seiner Töchter an ihn verheiraten möchte. Um Mr. Collins vollständig als ungeeigneten Heiratskandidaten bloßzustellen, bedient sich Mr. Bennet einer List. Zu den Komplimenten seines Cousins bemerkt er: „Sie können sich glücklich schätzen, daß sie die Gabe besitzen, so taktvoll zu schmeicheln. Darf ich sie fragen, ob diese gefälligen Aufmerksamkeiten einer plötzlichen Eingebung entspringen oder ob sie das Ergebnis vorausgegangener Überlegungen sind?“[26] Mr Bennet stellt seinem Cousin mit dieser Frage eine komplexe rhetorisch Falle, in die der Angeredete auch prompt tappt. Er antwortet: Die Komplimente „ergeben sich hauptsächlich aus der augenblicklichen Situation, und obgleich ich mich zuweilen damit unterhalte, mir solche kleinen gewählten Komplimente, wie man sie bei allen Gelegenheiten anwenden kann, zu überlegen und zurechtzulegen, bemühe ich mich stets, ihnen einen so natürlichen Anschein wie möglich zu geben.“[27] Mr. Collins lässt sich an dieser Stelle der dissimulatio überführen, die er zunächst selbst noch einmal zu dissimulieren sucht, indem er vorgibt, dass sie ganz der Natur und dem Augenblick entspringen. In einem zweiten, zum ersten in Spannung stehenden Schritt räumt er dann ein, dass er die Kunst des Gebens von Komplimenten sehr wohl studiert und zugleich versucht, ihnen einen möglichst natürlichen Anschein zu verleihen. Seine Auskunft über den vermeintlich natürlichen Ursprung seiner Komplimente scheitert also, sie verwickelt sich in performative Widersprüche. Konsequenterweise scheitert Mr. Collins dann auch mit dem Heiratsantrag, den er kurze Zeit darauf Elizabeth, der zweitältesten Tochter der Bennets, macht, ein Antrag, der in seiner Performanz äußerst formalisiert und unsensibel für die Reaktionen seiner Adressatin daherkommt: Er „nahm die Sache auf sehr methodische Weise in Angriff – nach all den Regeln, die ihm in dieser Angelegenheit der Form Genüge zu tun schien“[28]. Der Antrag scheitert vor allem deshalb, weil er es nicht vermag, die angewendeten Regeln zu dissimulieren, er spult zu offensichtlich ein Programm ab, das in der von romantischen Liebesvorstellungen erfüllten Protagonistin Elizabeth keine Resonanz findet. Elizabeth wird im weiteren Verlauf der Romanhandlung aber auch lernen müssen, dass Mr. Wickham, ein anderer junger Mann, der um ihre Gunst wirbt und der ihr zunächst als Inbegriff der Natürlichkeit erscheint – „Was er auch sagte, war gut gesagt, und was er auch tat, geschah anmutig.“[29] – einfach nur Ovids ars amatoria beherzigt zu haben scheint, seine Anmut also ausschließlich einer unehrenhaften dissimulatio verdankt, die zu vollkommen ist, als dass ihr mittelfristig vertraut werden könnte. Literatur wird bei Austen, einer äußerst rhetorik-kundigen und rhetorizitätsbewussten Autorin, deren Romane, wie Gilbert Ryle einmal treffend formulierte, vor allem Situationen der „persuadability, unpersuadability and over-persuadebility“[30] erkunden, damit zu einem Organon der Analyse und Demaskierung einer dissimulatio, derer sie sich in ihrer romantischen Grundstimmung zugleich selbst bedient.
Der Band wird mit einem Beitrag von Andreas Hetzel und Laura Pöschel eröffnet, der die dissimulatio artis in den antiken Debatten zwischen Rhetorik und Philosophie verortet. Dabei wird deutlich, dass die Rhetorik im Gegensatz zur Philosophie produktive Möglichkeiten des Täuschens kennt und analysiert, Möglichkeiten, die die Täuschung vor allem als Präfigurationen von Lebens- und Praxismöglichkeiten thematisieren. Rhetorik kann ihr Potenzial, neue Gestalten des Lebens vorzuahmen, immer dann am besten entfalten, wenn sie sich nicht zu ostentativ als Kunst zu erkennen gibt. Die dissimulatio artis, die sie in diesem Zusammenhang als Kunst in der Kunst entwirft, dient ihr zugleich als kritisches Instrument der Beschreibung von Täuschungen zweiter Ordnung, derer sich etwa eine Philosophie bedient, wenn sie sich über einen exklusiven Bezug zu einer täuschungsfreien Wahrheit definiert.
Dietmar Till widmet sich in seinem Text der Adaption der dissimulatio in frühneuzeitlichen Handbüchern für höfisches Benehmen. Diese Handbücher bieten Ratschläge für erfolgreiches Verhalten und erfolgreiche Kommunikation auf einem machtförmigen, durch Konkurrenz um Einfluss und Aufmerksamkeit hochriskanten sozialen Parkour, auf dem sich die Höflinge durch die Verschleierung ihrer Absichten und Fähigkeiten vor Neid und willkürlicher Gewalt schützen können: Dissimulatio und simulatio werden so als rhetorische Schlüsseltechniken des Höflings erkennbar. Verfolgt und rekonstruiert werden die entsprechenden Lehren von Till in Castigliones Libro del Cortegiano, Machiavellis Principe und Graciáns Oraculo manual. Ein abschließender Blick auf die deutsche Frühaufklärung, insbesondere auf Arbeiten von Christian Thomasius und Friedrich August Müller, zeigt, wie die entsprechenden Lehren hier in einer Weise ethisch rekontextualisiert wurden, die die dissimulatio letztlich delegitimiert.
Die genuin politischen Dimensionen der dissimulatio werden in den Beiträgen von Paolo D’Angelo und Andreas Oberprantacher untersucht. Wie zuvor Dietmar Till konstatiert auch D’Angelo einen Bedeutungswandel, der sich in der neuzeitlichen Geschichte des celare artem vollzogen hat. Er zeigt, dass und wie die ars-est-celare-artem-Lehre in der frühen Neuzeit unter Bedingungen einer höfischen Kultur aufgegriffen und in eine Kunst der Lebensführung transformiert wurde. Neben den einschlägigen Schriften von Castiglione und Gracián beleuchtet D’Angelo hier vor allem die Rolle von Torquato Accettos Traktat Della dissimulazione onesta. Das sich in der Konstellation dieser Autoren abzeichnende Konzept einer sprezzatura, einer Kunst der Verkleidung oder Verhehlung, wird von D’Angelo in seinen ästhetischen und politische Implikationen beleuchtet. Es wird dargestellt, wie die betreffenden Autoren den Unterschied zwischen manipulativer Täuschung (simulazione) und einer ethisch vertretbaren Verhehlung (dissimulazione), einem bewussten Verbergen der eigenen Künste, Fähigkeiten und Fertigkeiten betonen. Die dissimulazione bietet dabei einerseits Schutz in einer von Macht dominierten höfischen Kultur und ist andererseits mit den ästhetischen Idealen von Anmut und Natürlichkeit verbunden. Die Unterscheidung zwischen simulazione und dissimulazione, die vor allem im Barock gängig war, geriet dann spätestens mit dem 18. Jahrhundert in Vergessenheit, das die dissimulatio in den Begriff der simulatio integrierte, so dass sie weitgehend dem Vergessen anheimfallen konnte.
Andreas Oberprantacher untersucht die Funktionsweise der dissimulatio in populistischen Rhetoriken der Gegenwart. Der Text fokussiert sich dabei vor allem auf das verschwörungstheoretische Narrativ eines „Großen Austauschs“, das von vielen neurechten Bewegungen bespielt wird. Dieses Narrativ unterstellt, dass verborgene politische Eliten daran arbeiten würden, die europäischen Völker durch den „Austausch“ mit ethnokulturell „Fremden“ bewusst zu schwächen. Oberprantacher macht deutlich, welcher rhetorischen und stilistischen Strategien sich die Neuen Rechten dabei bedienen, wie sie insbesondere Strategien der dissimulatio nutzen, den Anschein der Natürlichkeit eines aus „unvermischten“, „reinen“ Völkern bestehenden Europas zu erzeugen. In Anlehnung an Torquato Accetto wird die entsprechende Strategie der Neuen Rechten als dissimulazione dis-onesta charakterisiert, da sie konstitutiv unaufrichtig ist.
Die folgenden drei Beiträge unterstreichen die ästhetischen Potenziale der dissimulatio. Den Anfang macht hier Jörn Steigerwald, dessen Text einen Aspekt der frühneuzeitlichen Theoriegeschichte der dissimulatio untersucht. Er geht davon aus, dass die dissimulatio artis in der Antike in mindestens zwei unterschiedliche Traditionen eingebettet ist: Einerseits wird sie, insbesondere bei Aristoteles und Quintilian, in der Tradition der Rhetorik entfaltet, andererseits fungiert sie, bei Ovid, als Bestandteil der ars amatoria. Der Beitrag macht weiter deutlich, dass die dissimulatio bereits in der Antike weder als theoría noch als práxis im aristotelischen Sinne beschrieben werden kann, sondern dem Bereich der poíesis angehört. Ihre doppelte Genese in der Rhetorik wie in der Liebeskunst macht sich, zusammen mit ihrem Charakter als poíesis, Ariost in seinem Orlando furioso zunutze, insbesondere in der Rocca du Tristano-Episode. Ariost betont dabei das Potenzial der dissimulatio zur Veredelung bestimmter künstlerischer Techniken und schafft eine ars fabula narrandi, die ihre eigenen Fähigkeiten demonstriert, indem sie das Verbergen dieser Fähigkeiten, die dissimulatio artis, anwendet.
Der Text von Selina Seidel interpretiert die dissimulatio artis als Bindeglied zwischen politischer Rhetorik, frühneuzeitlicher höfischer Verhaltenstheorie und dem Theater des 17. Jahrhunderts. Am Beispiel von Pierre Corneilles La mort de Pompée wird gezeigt, dass die dissimulatio artis auf zwei Wegen Eingang in das klassische französische Theater fand: Zum einen wird die dissimulatio artis als Grundlage der höfischen Verhaltenstheorie (im Mort de Pompée vor allem in Form der Galanterie) zu einem dramaturgischem Interaktions- und Dialogmodell, zum anderen wird sie zu einer Bewertungskategorie in den dramentheoretischen Debatten. Dazu werden zunächst die im dramatischen Dialog selbst erfolgenden Beobachtungen und Bewertungen der politisch-rhetorischen und galanten dissimulatio artis der einzelnen Figuren untersucht. Schließlich werden Corneilles dramentheoretische Schriften daraufhin befragt, welche poetologische Rolle sie der dissimulatio artis einräumen.
Kirsten Dickhaut befasst sich in ihrem Beitrag ebenfalls mit der Rolle, die die dissimulatio artis in der neuzeitlichen Schauspieltheorie und -praxis spielt, hier speziell im Schauspiel des frühen 18. Jahrhunderts. Aus der Perspektive Marivaux’ kann die dissimulatio von einem Schauspieler niemals vollständig erreicht werden, da sein Körper als Medium seiner Darstellung immer präsent bleibt und den Schein daran hindert, sich zu totalisieren. Das Wissen um den nicht-fiktionalen Charakter der Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne macht die Zuschauer:innen zu Kompliz:innen des aufgeführten Stücks. In seinem Le Jeu de l'amour et du hasard entwickelt Marivaux eine spezifische Poetik der Verstellung, indem er die scheinbare Unmöglichkeit thematisiert, ein Theaterpublikum in eine vollständige Illusion zu versetzen. Auf diesem Weg kann er auf paradoxe Weise das Wissen der Zuschauer nutzen und für seine eigenen Zwecke ausbeuten. Mit diesem aus der Rhetorik stammenden Verfahren der offenen Adressierung der Redeabsicht wird die dissimulative Strategie des Stücks verstärkt und zugleich verborgen.
Literaturverzeichnis
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- Einleitung
- Produktives Täuschen. Dissimulatio artis zwischen Rhetorik und Philosophie
- Simulatio/dissimulatio – Stellung/Verstellung: Rhetorik, höfische Verhaltenslehre, Ethik (mit Überlegungen zur Rezeption von Balthasar Graciáns Handorakel in Deutschland)
- Die Macht der Dissimulation
- Täusch-Verhältnisse. Der „Große Austausch“ als rhetorisches Manöver der Neuen Rechten
- Ars est celare artes. Zur Rocca di Tristano-Episode in Ariostos Orlando furioso
- Vers pompeux – cadavre oratoire. Rhetorische, galante und dramaturgische Ausformungen der dissimulatio artis im frühneuzeitlichen Theater am Beispiel von Corneilles Pompée
- Das Paradoxon der Dissimulation – Über die Notwendigkeit der Täuschung zur Gestaltung von Natürlichkeit in Marivauxʼ Le Jeu de l’amour et du hasard
- Melanie Möller: Rhetorik zur Einführung, Hamburg 2022.
- Ramón Reichert: Selfies – Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur, Bielefeld 2023.
- Janosik Herder: Kommunizieren und Herrschen. Zur Genealogie des Regierens in der digitalen Gesellschaft, Bielefeld 2023.
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