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Das Paradoxon der Dissimulation – Über die Notwendigkeit der Täuschung zur Gestaltung von Natürlichkeit in Marivauxʼ Le Jeu de l’amour et du hasard

  • Kirsten Dickhaut EMAIL logo
Published/Copyright: November 13, 2024
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Abstract

Dissimulation of the human being can never be fully achieved by an actor, as the actor’s body always remains present as a medium. This knowledge of the non-fictional character of the actors and actresses on stage makes the audience accomplices to the performed play. In his Le Jeu de lʼamour et du hasard, Marivaux creates a specific procedure of his poetics based on dissimulation by simply addressing the apparent impossibility of bringing a theater audience into a complete illusion. This way, he can paradoxically use the spectators’ knowledge and exploit it for his own purposes. With this procedure of addressing the purpose in the dialogue, which originates from rhetoric, the play as a procedure is reinforced and naturalized. Marivaux thus cures the deficiency of dissimulation and additionally binds it to an ethical premise that legitimizes the procedure itself and thus also dignifies and intensifies the simulation of the play itself.

1 Einleitung

Some conjurors use an excessive amount of gesture in order to conceal their manipulations. This is wrong. Genuine conjuring demands perfect simplicity of execution. The more simple and natural the movements of the performer, the less likely is the spectator to detect the trick.

A young performer often imagines that the ease of manner and ready flow of language possessed by his seniors are more or less spontaneous in origin ... But the fact is that practically every word and action has been mostly carefully rehearsed, before the presentation was ever put before the public. (Smith 2015, 330)[1]

Was für den Auftritt eines Magiers und seine magische Schau absolut notwendig ist, beschreiben die Showexperten Jean-Eugène Robert-Houdin und Nevil Maskelyne hier treffend. Beide Künstler traten im frühen 20. Jahrhundert auf und fassen in ihren Werken die Effekte der Zauberei zusammen, die gerade dann erfolgreich sind, wenn sie eine gewisse Spontaneität oder Natürlichkeit zeigen, die aber trotzdem einstudiert sind.[2] Natürlichkeit und Einfachheit sind, so die beiden, Garanten dafür, dass die Zuschauer die Kunst bewundern.[3] Zugleich ist es aber essentiell, dass sie in der Regel diese nicht als solche wahrnehmen, weil sie von den Kunststücken bezaubert oder schlicht abgelenkt werden.

Das von den Zauberern nicht namentlich benannte Prinzip ist die Dissimulation, die das Verbergen eines Zustands, einer Technik, einer Kunst oder auch der Wahrheit meint, um eine entsprechende Wirkung entfalten zu können, die vorzugsweise als natürlicher, spontaner oder authentischer Effekt wahrgenommen werden soll. Dabei ist ein bewusstes Verbergen der Technik, eine Naturalisierung des Verfahrens oder ein Überspielen von Tatsachen notwendig, um den Effekt hervorbringen zu können, der schließlich magisch oder jedenfalls bewundernswert wirkt, weil schlicht der Trick oder die Technik nicht erkannt werden. Gelingt dies, dann taucht der Rezipient in die Illusion oder die Fiktion vollends ein. Die Dissimulation setzt dabei Training voraus, um eine künstliche Natürlichkeit zu erzeugen, die sodann verkannt wird und nur in ihrer spektakulären Wucht eindrucksvoll wirken kann, wenn die Kunst gar nicht erst entdeckt wird.

Das Prinzip der Dissimulation ist dabei weit über die Kunst hinaus gängig und gehört als Komplement zur Simulation, die durch künstlerische oder auch computergestützte Verfahren eine Als-ob-Darstellung erzeugt. In der Antithese wird es deutlich: Die Machtposition zu dissimulieren,[4] ein Leiden oder den eigenen Glauben zu verstecken,[5] sind geläufige Beispiele, die jeweils ein gewisses Training voraussetzen, also eine Naturalisierung.[6] Während der Simulant vorgibt, krank zu sein, behauptet der Dissimulant, nicht leidend zu sein, auch wenn er es ist.[7]

Das Verstecken, Kaschieren und Verbergen sind zentral für das Verfahren der Dissimulation, das die Künste gerne nutzen, um ihre eigene Kunstfertigkeit zu verschleiern, um eben besonders natürlich zu wirken. Die dissimulatio artis ist folglich nur ein besonderer Fall, der in den bildenden Künsten wie in der Rhetorik genutzt wird, um Effekte auszugestalten und um zu gefallen, indem auf ihre natürliche Wirkung gesetzt wird und ihre Kunst verborgen bleibt. So zeigt etwa die Grisaille-Malerei[8] beides, insofern sie sowohl behauptet, Skulptur zu sein als auch keine Malerei. Beide Verfahren, Simulation und Dissimulation, stehen in vielen Fällen in einem Bedingungszusammenhang und sind miteinander verwoben.

Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Theater zum Vergleich. Die dem 17. Jahrhundert entstammende, sogenannte Bühnenmaschinerie erlaubt es, Menschen fliegend zu zeigen oder Götter herab- oder hinaufschweben zu lassen.[9] Diese quasi-natürliche Wirkung setzt voraus, dass die Apparatur nicht wahrgenommen wird. Der Effekt, sei es ein Flug oder ein Wetterphänomen, wird hergestellt, also simuliert, wobei dieser ohne Dissimulation nicht denkbar ist. Genau wie wir im Film die grafischen Elemente, die Special Effects, nicht sehen wollen oder sollen, so trägt auch die Theatermaschinerie dazu bei, dass Effekte gestaltet werden, ohne ihre Prämissen sichtbar werden zu lassen.[10] Denn nur, wenn das Technische verborgen bzw. dissimuliert wird, gelingt die ästhetische Täuschung.[11]

Noch frappierender ist die Technik der Schauspielkunst selbst, denn sie behauptet ja eine Natürlichkeit, eine Naturhaftigkeit des handelnden und sprechenden Menschen, die eigentlich erst durch die Kunst des Auftritts hervorgebracht wird.[12] Da der Schauspieler keine technische Apparatur wie die Bühnenmaschinerie hat, ist bei diesem Beispiel die Künstlichkeit besonders schwierig zu erkennen.[13] Eigentlich sind es besonders die schlechten Akteure, die aufgrund scheiternder Dissimulation ihren eigenen Auftritt so gestalten, dass sie mehr als Mensch denn als Träger eines Als-ob wahrgenommen werden.[14] Schauspielkunst und Dissimulation sind deshalb unabdingbar miteinander verbunden.

Gerade wenn man in der Rede seine eigentliche Absicht versteckt, eben dissimuliert, aber die Intention dennoch aufscheint, wird ein Prinzip bemüht, das der Ironie eignet. Deshalb wird die dissimulatio artis in der Rhetorik tatsächlich der Ironie untergeordnet[15] und meint „das gezielte Zurückhalten von Wissen, um den Gesprächspartner durch Fangfragen zu entlarven.“[16] So liegt es nahe, dass gerade im Theater die Dissimulation gerne auch im Dialog eingesetzt wird. Jedoch gibt es auch hier Varianten, denn das Sprechen erlaubt bekanntlich unterschiedliche Intonationen – d. h., je nach Interpretation und Akzentuierung der Schauspieler:innen kann das eine oder andere leichter verheimlicht werden. Die Problematik der Zeichenhaftigkeit des Körpers ist mit der Nutzung von Simulation und Dissimulation nicht aufgehoben, im Gegenteil.

Im Theater des 18. Jahrhunderts hat sich kaum ein Dichter mit der Frage der Dissimulation mehr beschäftigt als Pierre Carlet de Marivaux. Er hat sich auf die Frage der Natürlichkeit des Ausdrucks in seinen Werken konzentriert, die sicherlich für ihn auch schauspielerisch wichtig waren, was wir jedoch historisch nicht rekonstruieren können. Durchaus greifbar ist jedoch, mit Plessner gefasst, die Frage der eigenen Abständigkeit.[17] Also, inwieweit thematisieren die Figuren auf der Bühne ihre eigene Rolle? Selbstverständlich ist das Rollenkonzept historisch nicht im Sinne einer sozialen Rolle gemäß Goffmans[18] zu verstehen, gleichwohl wird gerade in Marivauxʼ bekanntester Komödie, Le Jeu de l’amour et du hasard, der soziale Rollentausch praktiziert, um Liebesprüfungen zu ermöglichen. Dieser Tausch muss dabei Simulation und Dissimulation zugleich leisten, damit das jeweilige Gegenüber nicht die Täuschung erkennt. Meister ist dabei aber nur, wem es gelingt, die Dissimulation zu beherrschen. Nicht die Kunst der Simulation ist folglich entscheidend, sondern diejenige der Dissimulation. Denn ein Vorgaukeln durch Namensänderung oder auch Gestik kann nur gelingen, wenn das eigene Ich nicht dominiert, also die eigene Identität erfolgreich versteckt wird. Bemerkenswerterweise differenziert Marivaux dabei die Kompetenz der Dissimulation sowohl auf der sozialen als auch auf der Genderebene. Paradoxerweise, so die im Folgenden zu erläuternde These, gelingt durch die Dissimulation auch erst eine Identitätsausbildung. Das heißt, erst wenn die Dissimulation des eigenen Ich im Schauspiel gelingt, kann auch ein Bewusstsein für das eigene Ich reifen. Wie ist dies möglich? Die Abständigkeit lässt sowohl die Dissimulation erst erdenklich werden, als auch ein Bewusstsein für das eigene Ich sich entwickeln.

Die These antwortet damit auf eine Problematik, die mit der Dissimulation im Theatertext einher geht. Zunächst gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass zwar nur die vollständige Verschleierung oder Verblendung eine dissimulatio artis auszeichnet, aber dieses Verfahren ist freilich im Theater nur bedingt realisierbar, weil es immer eine Komplizenschaft der Zuschauer gibt, die zu berücksichtigen ist. Entsprechend ist dort die Dissimulation nie in Gänze gegeben. Das Vergnügen wird deshalb gerade durch das Zusammenspiel von Simulation und Dissimulation in der Komödie ermöglicht. Das ist auch der Unterschied zum Auftritt eines Magiers, der gerade nicht möchte, dass das Publikum informiert wird. In der Komödie hingegen ermöglicht die Komplizenschaft der Intriganten mit den Zuschauer:innen, dass diese nicht staunen, sondern sich trefflich amüsieren. Dazu gehört ein weiteres Problem, jedenfalls in Marivauxʼ Le Jeu de l’amour et du hasard, dass nämlich die Protagonist:innen sich dazu verabreden – ohne es voneinander zu wissen – sich gegenseitig etwas vorzuspielen.[19] Diese Verabredung bedingt, dass das Wissen um die Simulation auch zugleich eine Dissimulation als gegenläufiges Verfahren notwendig macht, also ein bewusstes Trainieren des Rollenspiels und des Verbergens des Schauspielkörpers. Dies hat nun rhetorische Gründe. Denn genau wie der Rhetor sein eigenes Ethos thematisiert und adressiert, um das Vertrauen der Zuhörer zu gewinnen, wird in Marivauxʼ Komödie die Rolle thematisiert, damit paradoxerweise das Spiel im Spiel Plausibilität erhält. So, wie „das Ethos des Redners (widergespiegelt wird)“[20], wird in der Rede der SchauspielerInnen das Rollenspiel benannt. Dies ist der Schlüssel, um die in Teilen misslingende Dissimulation zu heilen. Gerade weil sie adressiert wird und aufscheint, gelingt ihre Kunst auf der Bühne. Voraussetzung hierfür ist die Abständigkeit der Simulation zur Dissimulation, also einem Bewusstsein für Ich und Rolle, um paradoxerweise die Rolle zu plausibilisieren. Damit bewegt sich Marivaux mit seinem Konzept eng an dem wesentlich späteren Schauspieldialog Diderots, seinem Paradoxe sur le comédien[21], der genau diese Problematik von der Praxis der Aneignung einer Rolle her beleuchtet.

2 Das Rollenspiel in Le Jeu de l’amour et du hasard

Marivaux hat noch vor dem Tod Ludwigs XIV. begonnen, Dramen unter anderem in Paris aufzuführen – besonders solche, die von der italienischen Theatertruppe gezeigt wurden, und auch Essays wie Erzählungen publizierte er bereits in dieser Zeit. Über dreißig Dramen hat er verfasst und eine sogenannte moralische Wochenschrift, die unter dem Titel Le Spectateur eigentlich vor allem moralistische Beobachtungen festhält,[22] veröffentlicht. Was sein frühes Werk kennzeichnet, ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Sensualismus, etwa der Sympathie,[23] und mit dem Maskentheater der Commedia dell’arte, die er ob ihrer Professionalität als Modell sieht[24] und für die er arbeitet, die er zugleich aber insofern neu konfiguriert, als er das Maskentheater im anthropologischen Sinne versteht.[25] Damit berühren seine Dramen die Frage der Kalokagathia, also inwiefern die Seele des Menschen durch sein oder ihr Äußeres zum Ausdruck kommt oder ob dieses ein Maskenspiel ist.

So beginnt bereits die zu analysierende Komödie mit einer Auseinandersetzung zwischen Dienstmädchen und Herrin, die sich an der Frage der Hochzeit entzündet. Während die Dienerin es als selbstverständlich ansieht, dass der Vater den Zukünftigen bestimmt, legt die Herrin Wert darauf, ihren Gemahl zunächst zu kennen und vor allem auch selbst über ihre Zukunft entscheiden zu können. Die Auftaktszene von Le Jeu de l’amour et du hasard wirkt so, als ob das Allianzdispositiv von den Figuren selbst diskutiert würde. Dabei ist das Komische, dass die Dienerin den Mann als natürliche Kreatur begreift, während die Herrin ihn durchschaut und seine Simulations- und Dissimulationspraxis offenlegt. Die Dienerin bemerkt daraufhin kritisch, dass dies nicht natürlich, also ‚unmenschlich‘ sei:

Akt I, Szene 1: Silvia, Lisette

Silvia.

Ergaste s’est marié; sa femme, ses enfants, son domestique ne lui connaissent encore que ce visage-là, pendant qu’il promène partout ailleurs cette physionomie si aimable que nous lui voyons, et qui n’est qu’un masque qu’il prend au sortir de chez lui.

Lisette.

Quel fantasque avec ces deux visages! (Marivaux I, 1, 887)

Während Silvia noch betont, dass Ergaste, der ihr hier als erzähltes Beispiel für einen recht ruchlosen Ehemann dient, zwar höflich auftrete, kritisiert sie vor allem, dass dies nur Maskerade sei. Denn tatsächlich zeige er sein freundliches Gesicht nur außerhalb des Hauses, weshalb sie diese Höflichkeit für eine Maske hält und ihm damit unterstellt, falsch bzw. unehrlich zu sein. Nur zuhause zeige er sein wahres Gesicht, das er entsprechend in der Gesellschaft verberge. Auch hier kommen Simulation und Dissimulation nicht ohne einander aus. Die Zofe Lisette jedoch deutet den Zusammenhang ein wenig anders, insofern sie Ergaste unterstellt, er habe zwei Gesichter. Erst später wird sie im Rückbezug auf diesen Austausch präzisieren, dass die Maske der Gesellschaft vorbehalten sei, also die Simulation das soziale Instrument sei, während die Grimasse als wahres Gesicht, der jeweiligen Ehefrau gezeigt werde. So gesehen, sind es tatsächlich die zwei Gesichter des Theaters, nämlich das Lachen für die Gesellschaft und das unwirsche, traurige Gesicht für die eigene Frau, die hier den skizzierten Mann auszeichnen. Er lacht, wenn er ausgeht, und zeigt kein Lächeln im Hause. Dass er somit in der Gesellschaft sein wahres Gesicht dissimuliert, ist offensichtlich. Wie tatsächlich die Maskerade im Hause funktioniert, bleibt hingegen offen; er wirkt jedenfalls quasi animalisch mit seiner Grimasse:

Akt I, Szene 2: Monsieur Orgon, Silvia, Lisette

Lisette.

Oui, nous parlions d’une physionomie qui va et qui vient; nous disions qu’un mari porte un masque avec le monde, et une grimace avec sa femme. (Marivaux I, 2, 889)

Die Gesellschaft übernimmt hier im Sinne des Theaters die Rolle der Zuschauer dieses Maskenspiels. Nun kommt zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch ein weiteres Moment hinzu, das in den Dramen von Marivaux bis Beaumarchais thematisiert wird, nämlich die Frage des Verhältnisses zwischen Standeszugehörigkeit und individuellem Interesse. Auch hier ist die Frage des Selbstverständnisses berührt, die Marivaux mit seinem besonderen Stil, dem Marivaudage, sprachlich modelliert. Gerade der Marivaudage schafft es, die Frage von Öffentlichkeit und Privatheit, von innerer Emotion und äußerer Vernunft, von Maskenspiel und Entlarvung zu verbinden.[26] Was zeichnet nun ausgerechnet Le Jeu de l’amour et du hasard aus? Seine Bedeutung wird in den Literaturgeschichten immer wieder betont, wenn es als ein Marivaudage-typisches Stück gepriesen wird. Es kommt aber noch ein weiterer Moment hinzu: Le Jeu de l’amour et du hasard wurde nach seiner Premiere 1730 mit Abstand am häufigsten gespielt und hat den Theatern die meisten Einkünfte im Vergleich zu anderen Stücken von Marivaux beschert. So ist die literaturgeschichtliche Bedeutung hier nicht allein ästhetisch, sondern vielmehr zunächst vor allem ökonomisch begründet, was die Aktualität der Fragestellungen zeigt.[27] Der Erfolg gibt an, dass im Stück offensichtlich Themen verhandelt werden, die das Publikum selbst beschäftigte, wie etwa Fragen der Maskenhaftigkeit des Menschen, besonders der Adligen.

In Le Jeu de l’amour et du hasard haben wir es mit zwei Paaren zu tun, einmal mit den beiden Adelskindern und sodann mit den beiden Dienern, die am Ende jeweils heiraten werden. Das für die Dissimulation nun besonders Interessante dieses Stücks ist, dass die überkommenen Regeln hier nicht mehr – jedenfalls nicht mehr von den Adelskindern – als natürlich wahrgenommen werden. Natürlichkeit gewinnt eine kreatürliche Dimension, die besonders durch Dissimulation verborgen wird. Deshalb reflektieren die Figuren die eigenen Bedingungen und leiten daraus andere Handlungsoptionen für ihre je eigene Zukunft ab. Das heißt, dass Silvia, die Tochter des Hausherrn, eben nicht einfach in die von ihrem Vater vorgesehene Hochzeit mit dem Sohn des besten Freundes von Orgon einwilligt. Sondern sie besteht darauf, ihn unter der Maske einer Dienerin zunächst zu treffen, um zu sehen, ob er sie auch mag, ob er liebenswürdig ist und sie auch ihn für liebenswert erachtet. Dass dies keine Marotte dieses Mädchens ist, sondern Kennzeichen einer neuen Generation, vermittelt das Stück, indem es die identische Idee auch dem zukünftigen Gemahl eingibt, der anreist und sich deshalb als Diener ausgibt, ohne dass Silvia eingeweiht ist. Es sind also doppelte Maskeraden, die die Zuschauer sehen und die jeweils die Dissimulation nutzen, um ihre gewählten adligen oder nicht-adligen Identitäten darzustellen. Die jeweilige Dienerfigur wird so zur Adligen und umgekehrt, weshalb das Gesamttableau der Figuren jeweils schon beste Voraussetzungen bietet, um entweder die wissenden Figuren oder die Zuschauer in die Position der Beobachtung der Dissimulation zu versetzen. Das Bemerkenswerte hierbei ist nun, dass die Herrin Silvia gerade deshalb kein Problem darin sieht, mit einer Maskerade aufzutreten, weil sie dieses künstliche Verfahren selbst wählt und adressiert. Während der kritisierte Ergaste dies unternimmt, ohne ein ethisches Ziel zu verfolgen, organisiert Silvia dieses Spiel mit der Absicht, die Liebe des zukünftigen Ehegatten zu prüfen. Das höhere und vor allem ethisch unkritische Ziel verbürgt für sie also das Verfahren und macht den Unterschied. Hinzu kommt, dass sie ihre Dienerin, ihren Vater und Bruder einweiht, sodass auch hier das Rollenspiel abgesichert wird und eben nur für eine bestimmte Zeit als Probe nutzbar ist. Ergaste hingegen täuscht und verheimlicht seinen schlechten Charakter. Hier wird folglich deutlich, dass die Adressierung des Rollenspiels und das ethische Telos darüber entscheiden, ob das Rollenspiel als angemessen gilt.[28]

Die Adressierung nun zeigt sich als Spezifikum der Dialoge, insofern häufiger auf einer Metaebene die eigene Rolle reflektiert wird, um, wie oben erläutert, das Benennen der Rolle als Technik zu nutzen, die das Vertrauen in das Maskennspiel herstellen soll. So erkennt zwar etwa die Dienerin Lisette, dass ein Mann sich anders im Hause als außerhalb verhält und antizipiert damit das Maskenspiel, das im gesamten Stück zum Tragen kommt, wie die bereits zitierte Aussage verdeutlicht: „Lisette: un mari porte un masque avec le monde, et une grimace avec sa femme.“[29] Aber durch die dauerhafte und nicht zweckgebundene Praxis wird hier die Simulation wie die Dissimulation kritisiert.

Demgegenüber ist das zeitlich begrenzte Spiel der Figuren im Stück ein anderes, weil es zweckgebunden und durch die Thematisierung eine garantierte Ethik erfährt. Dadurch wird deutlich, dass den Figuren ein Bewusstsein für ihr Sprachhandeln zugeordnet wird. So erläutert beispielsweise Mario, der Bruder von Silvia und zukünftiger Hausherr, dass Dorante als Diener sich nicht in der Anrede vertun darf, sondern tatsächlich seinen Herren duzen muss, während er ihn, obwohl er schon als Arlequin auftritt, als Adligen anredet. Damit ist die Identifikation der Figur mit ihrer neuen Dienermaske weder in der Produktion noch in der Rezeption vollzogen, zu sehr schimmert noch der eigentliche Charakter des Adligen durch. Dies bedeutet eben, dass die Dissimulation ganz offensichtlich misslingt, auch wenn ein Bewußtsein vorhanden ist, und deshalb auch die Simulation nicht überzeugen kann. Entsprechend erteilt Mario eine Lektion: Mario (frère de Silvia): „Votre serviteur! Ce n’est point encore là votre jargon; c’est ton serviteur il faut dire“[30]. Das bedeutet nicht, dass die Figuren an sich arbeiten müssen, sich etwa besser schminken müssen, um eben keinen Widerspruch zwischen Tat und Aussage zu produzieren. Sie müssen vielmehr glaubwürdig werden, indem sie ihre Rolle reflektieren und adressieren, weil die Simulation nicht gelingt, wenn die Dissimulation nicht in Gänze greift. Dazu gehört auch, dass es unfreiwillig geschieht, dass Tat und Sprachhandeln im Falle Arlequins auseinanderfallen, sodass die Zuschauer zu Komplizen werden, die sich über die Fehler der Figuren amüsieren dürfen, zugleich aber nur so in die Maskerade mit involviert werden und die Simulation während des Stücks mittragen.

Eine solche Doppeldeutigkeit findet sich auch in der Aussage Arlequins, als er sich Orgon vorstellt: Arlequin (à M. Orgon): „Vous êtes le maître et moi votre serviteur“[31]. Das Bemerkenswerte ist hier, dass auch die Implikatur, also das, was nicht gesagt wird, bedeutsam ist. Denn tatsächlich formuliert Arlequin nur das, was für einen Diener auch standesgemäß ist. Eigentlich tritt Arlequin hier aber eben nicht als Diener auf, sondern in der Verkleidung seines Herren Dorante und präsentiert sich dem Hausherrn als zukünftiger Schwiegersohn. Sowohl das Publikum als auch Orgon wissen aber über die Maskerade Bescheid. Deshalb wirkt es, als ob sich der Diener hier verplapperte, unfreiwillig seinen eigenen Status präsentierte und die Dissimulation scheitert – und so wirkt er eben unfreiwillig komisch. Zugleich adressiert er aber die Rollen, die so auch als komische gelingen. Die Doppelung von maître und serviteur ist sowohl doppeldeutig als auch aufschlussreich für Arlequins Selbstverständnis als Untergebener. Man mag es als eine konkludente Handlung deuten, die zeigt, was sein eigentlicher Wille ist. Die Diener fühlen sich nämlich nicht wirklich wohl mit dem aufoktroyierten Maskenspiel. So betont auch Lisette: „Pardi, Madame, je ne puis pas jouer deux rôles à la fois, il faut que je paraisse ou la maîtresse, ou la Suivante, que j’obéisse ou que j’ordonne.“[32] Man möchte beinahe einen Freudschen Versprecher annehmen, wenn hier beide Funktionen, Herrin und Dienerin als Rollen bezeichnet werden. Denn eigentlich spricht ja die Figur, die nicht über ihre eigene Rolle verfügt, nicht über eine solche Funktion, die einen Abstand bzw. die Plessnersche Abständigkeit voraussetzt. Zwei Alternativen zu benennen, bedeutet, dass die Figur selbst als Schauspielerin hier zur explizierten Prämisse wird, die conditio sine qua non ist. Zwar haben wir es nicht mit Pirandellos Masken zu tun, gerade eine solche Außenperspektive auf das eigene Selbst kommt in der Aussage Lisettes aber dennoch zum Ausdruck und zeigt exemplarisch, wie intensiv die Rationalisierung der eigenen Rolle hier genutzt wird, um die Dissimulation trotz offensichtlicher Transparenz gelingen zu lassen. Das jeweilige Rollenselbstverständnis ist über die Differenz zum anderen und aus der Außenperspektive zu erfassen. Eine Natürlichkeit der Rolle existiert für die Adligen nicht mehr, denn sie wird nur mehr über die Rolle hergestellt. Aus der Irritation folgt Selbstbeobachtung, die exzentrische Position, die es ermöglicht, eine Selbständigkeit im Sinne Plessners zu gewinnen und das bedeutet, gerade auch Sprach- und Körperhandeln kongruent zu praktizieren oder dies zu erlernen.

So zeichnet das Stück nicht einfach nur ein Spiel mit Simulation und Dissimulation aus, die Figuren thematisieren das Rollenspiel auch noch und kommentieren den Habitus der anderen, um die Verfahren zu adressieren und sie so glaubwürdig werden zu lassen. Dies zeigt, wie intensiv sie sich mit der Rolle befassen, diese reflektieren, zu ihrem ethischen Telos in Bezug setzen und zugleich das komische Scheitern und die Rollenverkörperung durch die fehlende Natürlichkeit der Dissimulation begründet ist. Wie in der Rhetorik verstärkt paradoxerweise gerade die Benennung des Illusionierungsmechanismus der Rollenhaftigkeit ihren Effekt. Dies zeigt das Paradoxon der Dissimulation.

3 Das Paradoxon der Dissimulation – gescheiterte Praxis als Erfolgsrezept

Zunächst beginnt Le Jeu de l’amour et du hasard mit der Begründung der Notwendigkeit der doppelten Maskerade über die geplante Hochzeit, die nämlich das Ziel hat, die Ehefähigkeit des jeweils anderen Geschlechts zu prüfen. Und damit die beiden Adligen nicht wirklich mit den Diener:innen über ihre Liebelei und Ambitionen sprechen müssen, verdoppelt Marivaux das Versteck- und Verkleidungsspiel, sodass alle vier Figuren amüsanter Weise sowohl düpiert werden als auch sich in der Position sehen, selbst andere zu täuschen und vor allem auf Standesebene weiterhin kommunizieren können, ohne dass sie dies indes wissen.

Die erste Szene des ersten Aktes, in der die Handlung in medias res beginnt und in der die adlige Silvia ihrer Dienerin vorwirft, dass diese ihrem Vater – in der vorausgegangenen Handlung – stellvertretend zugestimmt habe, dass sie, also Orgons Tochter, gerne verheiratet werde, geht direkt auf die Frage des Selbstverständnisses ein. Darauf folgt die Problematisierung des Ehevertrags, des sogenannten Allianzdispositivs, und die Zustimmung des Vaters, dass Silvia mit Lisette die Rolle tauschen könne, um den Charakter des zukünftigen Gatten zu prüfen. Schließlich wird Silvias Bruder informiert, dass auch Dorante und Arlequin die Rollen gewechselt haben, sodass sich nun beide Figuren wieder auf der identischen Standesebene, aber in verkehrter Welt begegnen und, das ist entscheidend, ohne wechselseitig von dem jeweils anderen Tausch zu wissen. Informiert sind eben nur die Zuschauer und die beiden Oikos-Vertreter, Vater und Sohn, damit diese ihre Macht nicht verlieren. Die zweite Szene wird dann die Begegnung von Silvia und Dorante zeigen, die eben in Wirklichkeit die beiden Diener sind. Beide Szenen präsentieren unterschiedliche Formen der Dissimulation, die jeweils aber die Zuschauer als Komplizen mit einbeziehen.

Akt I, Szene 1: Silvia, Lisette

Silvia.

Mais, encore une fois, de quoi vous mêlez-vous? Pourquoi répondre de mes sentiments?

Lisette.

C’est que j’ai cru que, dans cette occasion-ci, vos sentiments ressembleraient à ceux de tout le monde. Monsieur votre père me demande si vous êtes bien aise qu’il vous marie, si vous en avez quelque joie: moi, je lui réponds que oui; cela va tout de suite; et il n’y a peut-être que vous de fille au monde, pour qui ce oui-là ne soit pas vrai; le non n’est pas naturel.

Silvia.

Le non n’est pas naturel! quelle sotte naïveté! Le mariage aurait donc de grands charmes pour vous?

Lisette.

Eh bien, c’est encore oui, par exemple.

Silvia.

Taisez-vous; allez répondre vos impertinences ailleurs, et sachez que ce n’est pas à vous à juger de mon cœur par le vôtre.

Lisette.

Mon cœur est fait comme celui de tout le monde. De quoi le vôtre s’avise-t-il de n’être fait comme celui de personne?

Silvia.

Je vous dis que, si elle osait, elle m’appellerait une originale.

Lisette.

Si j’étais votre égale, nous verrions.

Silvia.

Vous travaillez à me fâcher, Lisette. (Marivaux I, 1, 885–886 [Hervorhebungen von mir])

Die hier nicht in Gänze vorgestellte Szene präsentiert ein Zwiegespräch zwischen Vertrauten, Dienerin und Herrin, das zeigt, dass die Dienerin ihre Herrin gar nicht in Gänze kennt und eigentlich auch die Herrin sich selbst nur bedingt zu durchschauen scheint. Vorausgesetzt wird im Dialog, dass zuvor der Vater von Silvia mit Lisette über die geplante Hochzeit gesprochen hat und dass die Dienerin Auskünfte gegeben hat, die sie offensichtlich nicht vorher erfragt hat. Vielmehr ging sie aus bestimmten Gründen, die sie auch darlegt, konkludent davon aus, dass Silvia heiratswillig ist. Sie rechtfertig ihre Folgerung durch drei Argumente: Zunächst sei sie davon ausgegangen, dass Silvias Gefühle jenen anderer Menschen ähneln würden. Dann dreht sie den Spieß um, statt Verteidigung geht sie nun zum Angriff über und erklärt, dass Silvia wohl die Einzige sei, die solch einen emotionalen Haushalt habe, um sodann drauf zu setzen, eine Ablehnung sei unnatürlich, quasi nicht für Frauen typisch, ungewöhnlich.

Was hier verhandelt wird, sind mindestens zwei Fragen, die von Interesse sind: Zum einen stellt sich die Frage, was den Menschen auszeichnet. Also, wie kommt er oder sie zu einer auch emotionalen Erkenntnis, die Grundlage für Zukunftsentscheidungen ist, und wie entsteht ein Wissen darüber, ob man sich bezüglich dieser Erkenntnis täuscht. Zum anderen und komplementär dazu stellt sich die Frage, was eigentlich Ausweis des Standes ist. Ist es eine soziale Bedingung, deren Habitus anerzogen ist und welche Rolle spielt die Natur des Menschen dabei? Der Textausschnitt argumentiert in drei Phasen, zunächst verteidigt Lisette ihre Tat, sodann klagt sie Silvia an und zwar insofern raffiniert, als sie immer den Standesunterschied im Blick behält und dann geht es um den zukünftigen Ehemann, über den man sagt, dass er ein überdurchschnittlicher Galan sei.

Für uns ist hier wichtig, dass die gesamte Handlung von diesem Dialog ihren Ausgang nimmt, ja die Grundlagen mit dieser Szene für alle Simuations- und Dissimulationsfragen geschaffen werden, die – das wird schon hier deutlich – in ihrer Grenzziehung eine Prämisse haben, die weniger hilfreich als problematisch ist, nämlich die Natürlichkeit. Gerade diese Natürlichkeit jedoch soll mit der Dissimulation erschaffen werden, die zwar eine künstliche Form nutzt, aber die dennoch auf das Ziel der Naturähnlichkeit hinarbeitet. Damit wird jedoch auch impliziert, dass die vermeintliche Natürlichkeit des Adels, der natürliche Habitus, eigentlich ebenso ein Werk der Dissimulation und damit der Erziehung und nicht der Geburt ist. Das Witzige des Stücks ist nun, dass ausgerechnet die Dienerin die Unnatürlichkeit erkennt („le non n’est pas naturel“) und damit eine Analogie zwischen Herrin und Dienerin behauptet, gegen die sich ja auch Silvia wehrt, aber die vor allem zeigt, dass hier eine Abständigkeit zwischen Handeln und Haltung erkannt wird, die gerade in der Natur des Menschen gründet und nicht in seiner Kultur. Lisette verweist dadurch unfreiwillig auf die Kultur bzw. die Künstlichkeit des Verhaltens und entlarvt die Simulation des adligen Habitus. Die Thematisierung der menschlichen Natur und der eigenen Herzensangelegenheiten dient also dazu, die Grundlage für die Urteilsfindung zu begründen. So, wie sich beide Frauen für die Simulation und damit auch Dissimulation der zukünftigen Ehemänner interessieren, ist es auch wichtig, die eigenen Herzensangelegenheiten adäquat beurteilen zu können. Erst wenn man weiß, dass das Herz sich nicht verschließt, im Sinne der Dissimulation oder Simulation, dann sind Einsichten möglich. Aber Silvia verweigert sich einer Analyse durch ihre Dienerin, die ihr sodann vorwirft, dass dies gegen die Natur sei, wenn sie sich dem Vergleich entziehe. Ganz offensichtlich gehen beide von unterschiedlichen Konzepten des Menschen aus: Während Lisette eine gemeinsame Natur annimmt, betont Silvia den Unterschied. Sie betont die andere, die soziale Kreatur, das Gemachtsein, das bereits modern anmutet. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich die Diskussion der beiden Frauen zu Beginn des Stücks noch weiter hinziehen wird, denn für das eigene Herz, Kerninteresse des Marivaudage, gibt es keinen objektiven Umstand, um die Argumentation zu plausibilisieren.

In der zweiten, hier näher zu analysierenden Szene treffen sich die beiden Diener:innen in der Rolle ihrer Herren. Dabei weiß das Publikum, dass beide, Lisette und Arlequin, nur so tun, als ob sie adliger Herkunft sind. Das simulierte Handeln sieht hier so aus, dass beide Figuren sich gegenseitig mit Madame oder Monsieur ansprechen, dass sie sich siezen und die galante Höflichkeitsform nutzen, die nicht nur die Anrede ist. Vielmehr ist sie der sprachliche Mantel, der dem Kommunikationspartner oder der -partnerin zu verstehen geben soll, dass sie ihren Code kennen und tatsächlich die Person sind, deren Maske sie tragen. Hinter dieser Maske nun scheint ein persönliches, eben nicht gespieltes Gefühl auf, das beide, also Dienerin und Diener, füreinander tatsächlich empfinden.

Um nun beieinander und füreinander da zu sein, wollen sie sich auch gegenseitig ihre Liebe versichern, ohne jedoch die Maske fallen zu lassen. Dadurch entsteht eine hybride Sprache, die eben Simulation und Dissimulation übereinanderlegt, was Komik produziert. Die Dienstboten müssen simulieren, während sie zugleich die Dissimulation scheitern lassen wollen, damit die wahre Liebe durchscheinen kann, was aber zwangsläufig die Simulation gefährdet, und die Zuschauer zuletzt trefflich unterhält.

Stellvertretend und im Kostüm der Adligen präsentieren sich die beiden Dienstboten, indem sie versuchen, durch Simulation, genauer durch die hier unterstrichenen Passagen der höflichen Anrede ihre eigentliche Identität zu verbergen und eine andere zu behaupten:

Akt II, Szene 3: Lisette, Arlequin

Arlequin.

Madame, il (Orgon) dit que je ne m’impatiente pas; il en parle bien à son aise, le bonhomme !

Lisette.

J’ai de la peine à croire qu’il vous en coûte tant d’attendre, Monsieur; c’est par galanterie que vous faites l’impatient; à peine êtes-vous arrivé! Votre amour ne saurait être bien fort; ce n’est tout au plus qu’un amour naissant.

Arlequin.

Vous vous trompez, prodige de nos jours; un amour de votre façon ne reste pas longtemps au berceau; votre premier coup d’œil a fait naître le mien, le second lui a donné des forces et le troisième l’a rendu grand garçon; tâchons de l’établir au plus vite; ayez soin de lui, puisque vous êtes sa mère.

Lisette.

Trouvez-vous qu’on le maltraite? Est-il si abandonné?

Arlequin.

En attendant qu’il soit pourvu, donnez-lui seulement votre belle main blanche, pour l’amuser un peu.

Lisette.

Tenez donc, petit importun, puisqu’on ne saurait avoir la paix qu’en vous amusant.

Arlequin, en lui baisant la main.

Cher joujou de mon âme! cela me réjouit comme du vin délicieux. Quel dommage de n’en avoir que roquille!

Lisette.

Allons, arrêtez-vous; vous êtes trop avide.

Arlequin.

Je ne demande qu’à me soutenir, en attendant que je vive.

Lisette.

Ne faut-il pas avoir de la raison?

Arlequin.

De la raison! hélas, je l’ai perdue; vos beaux yeux sont les filous qui me l’ont volée.

Lisette.

Mais est-il possible, que vous m’aimiez tant? je ne saurais me le persuader.

Arlequin.

Je ne me soucie pas de ce qui est possible, moi; mais je vous aime comme un perdu, et vous verrez bien dans votre miroir que cela est juste.

Lisette.

Mon miroir ne servirait qu’à me rendre plus incrédule.

Arlequin.

Ah! mignonne, adorable! votre humilité ne serait donc qu’une hypocrite!

Lisette.

Quelqu’un vient à nous; c’est votre valet. (Marivaux II, 3, 905 [Hervorhebungen von mir])

Ein kleines Tête-à-tête ermöglicht es Arlequin, seine angebetete Dame zu ehren, ihre Hand zu nehmen und ihr hier einen Handkuss zu geben. In der gegenseitigen Anrede erweisen sich die beiden Figuren als ausgesprochen höflich, aber auch als übertrieben galant, sodass sie in ihrer Unsicherheit und durch ihre hypertrophen Formeln („prodige de nos jours“) sich vor allem lächerlich machen. Der objektive Umstand hier ist der Handkuss, den Arlequin Lisette gibt und der deshalb möglich wird, weil sie ihm auf seine Bitte hin ihre Hand gibt. An anderer Stelle knien die beiden zukünftigen Ehemänner und zeigen so ihre Zuneigung. Diese Umstände sind für die Dissimulation grundlegend, weil solche Gesten als Erklärungszeichen dienen und die ausdrückliche Willenserklärung, hier die Liebeserklärung, konkludent ersetzen. So wird zwar simuliert, dass sich zwei Adlige austauschen, während zugleich die Liebe der beiden galanten Herzen die Kommunikation bestimmt, sodass – wie die komischen und übertriebenen Anredeformeln zeigen – die Dissimulation, die notwendig wäre, nämlich das Verstecken der fehlenden Adelserziehung, scheitert und die soziale Herkunft hervortritt. Dies ist deshalb notwendig, damit den Emotionen wahrhafter Ausdruck verliehen werden kann. Das Scheitern der Dissimulation bewirkt also Komik für die Zuschauer und ermöglicht zugleich für die Diener die Erkenntnis über die Wahrhaftigkeit der ihnen jeweils entgegengebrachten Emotionen. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Handreichung hier und die Erlaubnis, die Hand der Dame zu küssen, jenseits des komisch wirkenden Dialogs anzusetzen ist, der zeigt, wie wenig stabil die Kenntnis beider der eigentlichen Adelssprache ist und wie notwendig dies ist, um den Austausch liebevoller Zärtlichkeiten zu ermöglichen. Denn das Geben und das Zulassen wie das Nehmen und das Liebkosen sind Ausdruck einer Willenserklärung, einer Erklärung, die auch Rechtsfolgen hätte, quasi als Fiktion einer Willenserklärung funktioniert, die eben auch schon im Mittelalter das Liebesversprechen meint. Die Zuschauer lachen zwar trefflich über die simulierten Adelsgesten, was durch eine ungeschickte bzw. misslingende Dissimulation möglich ist. Zugleich erkennen aber Publikum wie Figuren, dass sie gerade durch die inadäquate Sprache wahrhafte Emotionen sehen bzw. zum Ausdruck bringen. Das ist ein weiterer Aspekt des Paradoxons der Dissimulation, die im Spiel scheitert und dadurch eine wahrhaftige Liebeserklärung provoziert, die zum Erfolgsrezept wird.

Nun könnte man annehmen, dass dieses paradoxe Verfahren für Marivaux in seinem Verständnis der Schauspielkunst gründet, wie es der Vergleich mit Diderot nahelegt. Allerdings steht zu vermuten, dass die Bedeutung der Paradoxie, die hier in einer Gedankenfigur der Inversion gründet, mit Marivauxʼ Konzept der Poetik zusammenhängt. Denn auch in L’Indigent Philosophe von 1727 hat Marivaux bereits diese Gedankenfigur bemüht, indem er den Philosophen als Bettler darstellt und damit „eine Metapher der nackten Wahrheit“ verwendet, um die Natur des Menschen offenzulegen, wie Christoph Miething gezeigt hat.[33] Berücksichtigt man dies für die hier angestellten Überlegungen zu Le Jeu de l’amour et du hasard, dann ist das Zusammenspiel von Simulation und Dissimulation nicht nur notwendig. Vielmehr ist das Paradoxon der Dissimulation eigentlich die Formel der Poetik Marivauxʼ, denn nur indem die Dissimulation erkannt wird, die Rolle adressiert wird und sie nur ungenügend realisiert wird, kann sie sowohl zum komischen Erfolg führen als auch den Marivaudage, mithin die Liebeskommunikation realisieren. Sie ist also notwendig, um jenseits ihrer Verfahren die Natur des Menschen zu entdecken und seine Haltung zu vermitteln. Erst wenn die Täuschung erkannt wird, kann auch das Trompe-l’œil geschätzt werden und das Eigentliche, wie hier die Liebe, gewinnt Kontur. Es ist sicher lohnenswert, das Paradoxon der Dissimulation, das in seiner Logik für viele Komödien greift, als Formel der Marivaux’schen Poetik weiterführend zu berücksichtigen, denn sie könnte Einsichten dafür liefern, weshalb die typischen Commedia dell’arte-Figuren auch in seinen Charakterstücken nie ganz aufgegeben wurden. Sie sind, so steht zu vermuten, die Allegorie der Simulation, die ebenfalls unumgänglich ist, um die Kunst der Figuren unsichtbar werden zu lassen. Die Natürlichkeit steht damit in einem paradoxen Bedingungsverhältnis zur Dissimulation in Marivauxʼ Komödie: sie ist notwendiges Ziel und versteckte Kunst zugleich.

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Online erschienen: 2024-11-13
Erschienen im Druck: 2024-11-09

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 26.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/rhet-2024-0008/html
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