Liebe Leserin, lieber Leser,
der Lockdown ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz (vorerst?) beendet, die drei Volkswirtschaften beginnen sich zu erholen. Zugleich beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in aller Welt mit den Auswirkungen der Krise und den international sehr unterschiedlichen Maßnahmen zu ihrer Bewältigung. Dabei geht es nicht nur um die gesundheitlichen Folgen, sondern auch um die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen, die uns Ökonomen vor allem interessieren. Viele haben sich auch öffentlich in die Debatten um den besten Umgang mit der Krise eingebracht, oft in interdisziplinären Teams. Beispielhaft sei die von Ernst Fehr (Zürich), Oliver Hart (Harvard), Paul Romer (NYU) und anderen auf den Weg gebrachte Initiative „Test the World“ genannt (testtheworld.org), die sich für flächendeckendes, systematisches, randomisiertes Testen einsetzt.
Wie unterschiedlich der Umgang mit dem Testen auf der Welt ist, illustriert Abbildung 1 in unserer Rubrik Unsere Welt in Zahlen. Die Grafik zeigt die Anzahl der durchgeführten Tests in Relation zu den bestätigten Fällen von Covid-19 in ausgewählten Ländern im Zeitverlauf bis Anfang August 2020. Tabelle 1 zeigt dazu, dass die Letalität von Covid-19 im globalen Durchschnitt zwar mit weniger als 4 Prozent überschaubar ist, wobei aber die absoluten Zahlen gleichwohl erschreckend sind. Im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Corona-Virus sind in aller Welt bis Anfang August – trotz des Lockdowns im engeren und im weiteren Sinne vielerorts – schon mehr Personen verstorben als im Fall anderer Virenausbrüche. Solange kein Impfstoff vorliegt, dürfte das Spannungsverhältnis zwischen dem Infektionsschutz und der Möglichkeit, gesellschaftlich und wirtschaftlich aktiv zu sein, Gegenstand öffentlicher und privater Debatten bleiben.
Um Ihnen als Leserinnen und Lesern unserer Zeitschrift möglichst früh gehaltvolle Analysen zu den ökonomischen Aspekten der Corona-Krise anzubieten, hatten

wir bereits Mitte Mai rasch und deshalb bisher nur online ein Sonderheft publiziert. Die Beiträge dieses Online-Sonderheftes finden Sie im vorliegenden Heft nun auch in gedruckter Form. Zu berücksichtigen ist bei der Lektüre, dass die Autorinnen und Autoren ihre Arbeiten am 24. April und teils auch früher abgeschlossen haben.
Nicht Teil des Online-Sonderheftes war der Beitrag aus aktuellem Anlass von Peter Zweifel (Zürich), in dem er die Corona-Krise politökonomisch betrachtet und eine Modellierung des Wandels in der Interaktion zwischen den Bürgern und ihrer Regierung in Folge einer neuen Gesundheitsbedrohung vornimmt. In Zweifels Modell geht ein entscheidender Einfluss auf die Politik von der Zunahme der Zahlungsbereitschaft für eine Risikosenkung aus.
In der Rubrik Wissenschaft im Überblick skizziert das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank Johannes Beermann (Frankfurt) gemeinsam mit Michael Torben Menk (Hof) und Florian Neitzert (Köln) mögliche weitere institutionelle Reformen der Architektur des Europäischen Währungsverbundes. Ausgangspunkt ist der von den fünf Präsidenten der großen EU-Institutionen 2015 veröffentlichte Bericht, in dem mit der beabsichtigten Schaffung des Europäischen Hauses bis 2025 weitreichende Integrationsschritte zur Diskussion gestellt werden. Die Autoren beschreiben das Vorhaben im Detail und arbeiten die Herausforderungen der Zusammenführung von Banken- und Kapitalmarktunion zu einer Finanzunion heraus.
Das Gespräch hat Karen Horn diesmal mit Karl-Heinz Paqué geführt, der von 2013 bis 2018 federführender Herausgeber dieser Zeitschrift war. In dem Gespräch geht es um die Corona-Krise und ihre Folgen sowie die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Hilfsmaßnahmen, die Zukunft Europas, die Herausforderungen durch China, das Lieferkettengesetz und schließlich auch um den Zustand und die gesellschaftliche Rolle der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft – ein breites Themenspektrum also.
Auch in der Rubrik Beiträge aus der Forschung starten wir mit einem europäischen Thema. Bernd Lucke und Bodo R. Neumann (beide Hamburg) analysieren die ersten legislativen Vorschläge der EU-Kommission für die bis 2025 angestrebte Errichtung einer europäischen Fiskalunion. Obwohl makroökonomische Stabilisierung systematisch zur Wirtschafts- und Währungspolitik der Union zu rechnen ist, soll als deren Rechtsgrundlage die primärrechtliche Ermächtigung zur Kohäsionspolitik dienen. Lucke und Neumann argumentieren, dass dies stabilisierungspolitisch suboptimal und kohäsionspolitisch kontraproduktiv ist. Die semiautomatische Bestimmung von Darlehenshöhen und Zinssubventionen berge die Gefahr gravierender Fehlallokationen. Unter anderem könne der vorgeschlagene Mechanismus verteilungspolitisch regressiv wirken, unerwünschten Attentismus in der Stabilisierungspolitik zur Folge haben und negative budgetäre Externalitäten verursachen.
Den Anfang der Beiträge aus dem Online-Sonderheft zur Corona-Krise macht im Anschluss ein Aufsatz von Klaus Wälde (Mainz) und seinem interdisziplinären Autoren-Team. Sie erklären den Verlauf von Covid-19 in Deutschland durch Regressionsanalysen und epidemiologische Modelle. Sie quantifizieren den Effekt der gesundheitspolitischen Maßnahmen, die bis zum 19. April in Kraft waren, und berechnen den erwarteten Verlauf der Epidemie in Deutschland, hätte es diese Maßnahmen nicht gegeben. Wie der Beitrag zeigt, haben sie einen erheblichen Beitrag zur Reduktion der Infektionszahlen geleistet.
Gabriel Felbermayr und Holger Görg (beide Kiel) erörtern die weltwirtschaftlichen Implikationen von Covid-19. Ausgehend von der Beobachtung, dass sich die Globalisierung in den zurückliegenden zehn Jahren verlangsamt hat, stellen sie dar, wie sich die Pandemie auf China – das Herz vieler globaler Wertschöpfungsketten – auswirkt und welche Folgen dies für andere Länder in der Kette hat – auch für Deutschland. Zudem erörtern sie, ob und wie die Globalisierung resilienter gestaltet werden kann.
Ulrike Neyer (Düsseldorf) legt dar, warum die traditionelle Aufgabe der Geldpolitik, die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, in der Corona-Krise eine untergeordnete Rolle spielt. Die EZB könne jedoch verhindern, dass die Krise in der Realwirtschaft auf den Finanzsektor überspringe. Ihre beiden Maßnahmenpakete stellten die Liquiditätsausstattung des Bankensektors sicher und reduzierten eine mögliche Dysfunktionalität einzelner Finanzmarktsegmente. Das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP) sei jedoch unter dem Aspekt der demokratischen Legitimation auch kritisch zu sehen.
Thomas Czypionka, Martin Kocher und Alexander Schnabl (alle Wien) gehen auf die Situation in Österreich ein. Sie greifen auf die Einschätzungen von Fachleuten und eine multiregionale Input-Output-Analyse auf nationaler, sektoraler, und regionaler Ebene zurück. Dieser zufolge wird die Corona-Krise die österreichische Wirtschaftsleistung 2020 um rund 8,5 Prozent im Vergleich zum Referenzszenario reduzieren, vorbehaltlich weiterer politischer Maßnahmen, möglicher Konjunkturpakete oder einer zweiten Epidemiewelle im Herbst.
Vera Eichenauer und Jan-Egbert Sturm (beide Zürich) beleuchten die Lage in der Schweiz, die sich zu Beginn der Covid-19-Pandemie aus einem konjunkturellen Tief in eine Aufschwungsphase bewegte, mit niedriger Arbeitslosigkeit und gesunden öffentlichen Finanzen. Während des sanften Lockdowns hatte Strukturerhaltung höchste Priorität, Arbeitsplätze wurden durch Kurzarbeit erhalten. Die Liquidität der Unternehmen wurde durch einfachen Zugang zu günstigen, staatlich garantierten Krediten gewährleistet. Doch aus Sicht der Autoren unternahm die Regierung zu wenig gegen eine Überschuldung der Wirtschaft. Sie rügen die mangelnde Unterstützung für Kapitalkosten.
Sebastian Vollmer, Nitya Mittal und Rupa Viswanath (alle Göttingen) betrachten Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMICs), in denen präventive Maßnahmen ergriffen wurden, die sich in weiten Teilen an die Politik in den Industrieländern anlehnen. Die Autoren warnen jedoch, dass die Maßnahmen aufgrund der anders zusammengesetzten Erwerbsbevölkerung, des schlechteren Zugangs zu sozialer Sicherung und der ungünstigeren Lebensbedingungen nicht unbedingt geeignet seien.
Im abschließenden Beitrag analysiert Wim Naudé (Maastricht und Aachen) die Rolle von Künstlicher Intelligenz (KI) und Big Data für eine intelligente Eindämmung der Pandemie. Aus seiner Sicht mindert der Mangel an Daten die Genauigkeit epidemiologischer Modelle. Infolgedessen sei auch die KI noch nicht in der Lage, bei der Vorhersage, dem Tracking und der Diagnose von Covid-19-Infektionen wirklich zu helfen.
Wie immer bin ich auch diesmal für Ihr Feedback jederzeit dankbar.
Justus Haucap
Twitter: @PerspektivenWP
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Wirtschaftspolitik in und nach der Corona-Krise
- Unsere Welt in Zahlen
- Im Griff der Viren
- Aus aktuellem Anlass
- Die Corona-Krise: Eine politökonomische Betrachtung
- Wissenschaft im Überblick
- Fertigstellung des Europäischen Hauses 2025
- Das Gespräch
- „In dieser Krise wirken alle Kräfte in Richtung einer Spaltung der Gesellschaft“
- Beiträge aus der Forschung
- Die europäische Fiskalunion – Analyse und Kritik der ersten legislativen Vorschläge der Kommission
- Covid-19 in Deutschland – Erklärung, Prognose und Einfluss gesundheitspolitischer Maßnahmen
- Die Folgen von Covid-19 für die Globalisierung
- Die geldpolitischen Maßnahmen des Eurosystems in der Corona-Krise
- Österreichs Wirtschaft in der Corona-Pandemie
- Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie
- Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien
- Intelligente Eindämmungsstrategien gegen Covid-19: Die Rolle von Künstlicher Intelligenz und Big Data
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Wirtschaftspolitik in und nach der Corona-Krise
- Unsere Welt in Zahlen
- Im Griff der Viren
- Aus aktuellem Anlass
- Die Corona-Krise: Eine politökonomische Betrachtung
- Wissenschaft im Überblick
- Fertigstellung des Europäischen Hauses 2025
- Das Gespräch
- „In dieser Krise wirken alle Kräfte in Richtung einer Spaltung der Gesellschaft“
- Beiträge aus der Forschung
- Die europäische Fiskalunion – Analyse und Kritik der ersten legislativen Vorschläge der Kommission
- Covid-19 in Deutschland – Erklärung, Prognose und Einfluss gesundheitspolitischer Maßnahmen
- Die Folgen von Covid-19 für die Globalisierung
- Die geldpolitischen Maßnahmen des Eurosystems in der Corona-Krise
- Österreichs Wirtschaft in der Corona-Pandemie
- Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie
- Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien
- Intelligente Eindämmungsstrategien gegen Covid-19: Die Rolle von Künstlicher Intelligenz und Big Data