Zusammenfassung
Die in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMICs) vorherrschenden Bedingungen, zum Beispiel ein schlechter Gesundheitszustand der Bevölkerung und eine unzureichende Gesundheitsinfrastruktur, können dort enorme menschliche und wirtschaftliche Schäden eines Covid-19-Ausbruchs hervorrufen. Aus diesem Grund haben LMICs mehrere präventive Maßnahmen ergriffen und folgen dabei häufig der Politik von Ländern mit hohem Einkommen. Unterschiede in der Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung, im Zugang zu sozialer Sicherheit und in den Lebensbedingungen könnten jedoch bedeuten, dass diese Maßnahmen für LMICs nicht geeignet sind. Nitya Mittal, Rupa Viswanath und Sebastian Vollmer untersuchen die in LMICs vorherrschenden Bedingungen, die sich auf die Morbidität und Mortalität im Zuge eines Covid-19-Ausbruchs auswirken könnten, und erörtern die Eignung der weit verbreiteten Präventionsmaßnahmen für LMICs.
1 Einleitung
Covid-19 ist eine Infektionskrankheit, die durch das neuartige Corona-Virus SARS-CoV-2 verursacht wird. Seit die ersten Fälle im Dezember 2019 in Wuhan, China, gemeldet wurden, hat sich Covid-19 in aller Welt verbreitet. Die WHO hat am 11. März 2020 eine globale Pandemie ausgerufen. Seit dem 27. April 2020 betrifft Covid-19 etwa 210 Länder (WHO 2020a), darunter die Vereinigten Staaten und die Europäische Union derzeit am stärksten. Am 26. März modellierten Walker et al. (2020), dass es in diesem Jahr ohne Interventionen in aller Welt 7 Milliarden Infektionen und 40 Millionen Covid-19-Todesfälle gegeben hätte. Obwohl diese Schätzungen mit großer Unsicherheit behaftet sind, beschreiben sie doch die Bedrohung durch eine globale Pandemie mit einem enormen Verlust an Menschenleben. Während Wissenschaftler hart daran arbeiten, die Krankheit besser zu verstehen und einen Impfstoff oder ein Heilmittel zu finden, haben die betroffenen Länder mehrere präventive Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, angefangen bei der Förderung von guter Hygiene über die Erkennung und Isolierung infizierter Menschen bis hin zu Grenzschließungen, Kontaktsperren und der vollständigen Einstellung aller nicht lebenswichtigen Aktivitäten (Burdorf et al. 2020). Letztere Maßnahmen sind mit enormen wirtschaftlichen Konsequenzen verbunden (Fernandes 2020).
Bislang ist die Zahl der bestätigten Fälle in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen (LMICs) deutlich niedriger als im globalen Norden (WHO 2020a). Die Entdeckungsrate unter LMICs ist jedoch viel niedriger als der globale Durchschnitt, was bedeutet, dass die Infektionszahlen möglicherweise viel höher sind als die Zahl der bestätigten Fälle (Bommer und Vollmer 2020). LMICs sind oft dicht besiedelt, haben eine Bevölkerung mit schlechterem Gesundheitszustand und eine schwächere Infrastruktur des öffentlichen Gesundheitswesens – Bedingungen, die eine schnellere Ausbreitung des Virus begünstigen und es fast unmöglich machen, einen Ausbruch sowohl medizinisch als auch wirtschaftlich zu bewältigen. Viele dieser Länder haben daher drastische Präventionsmaßnahmen ergriffen, obwohl die Zahl der festgestellten Infektionen noch viel geringer war als in reichen Ländern. Die Präventionsstrategien von LMICs orientieren sich dabei häufig an der Politik von Ländern mit hohem Einkommen, die jedoch für LMICs möglicherweise nicht geeignet sind. Wir konzentrieren unsere Analyse auf Indien. Es ist das zweitbevölkerungsreichste Land der Welt, mit mittlerem Einkommen, der größten Zahl armer Menschen in aller Welt (Weltbank 2017) und Heimat eines Viertels der unterernährten Weltbevölkerung (FAO 2019).
2 Rahmenbedingungen in LMICs und Covid-19
LMICs ist es bei früheren Pandemien und Epidemien viel schlechter ergangen als Ländern mit hohem Einkommen. Während der Spanischen Grippe, der tödlichsten Pandemie des vergangenen Jahrhunderts, hatte Indien allein etwa ein Drittel der Todesopfer in aller Welt zu verzeichnen (Johnson und Mueller 2002), etwa 5 Prozent der damaligen Bevölkerung des Landes. Auch Epidemien wie Ebola und HIV haben LMICs besonders stark getroffen. Fehlender Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, schwache öffentliche Gesundheitsinfrastruktur, ungünstige soziale Bedingungen wie Wohnverhältnisse und Bevölkerungsdichte sowie der Gesundheitszustand der Bevölkerung (Oshitani et al. 2008, S. 875) wurden als Ursachen der hohen Sterblichkeit in LMICs identifiziert. Diese Bedingungen sind leider immer noch relevant und könnten zu einer höheren Morbidität und Mortalität aufgrund von Covid-19 in LMICs beitragen.
Ein schlechter Gesundheitszustand beeinträchtigt das Immunsystem und erhöht die Anfälligkeit für Virusinfektionen (Bhaskaram 2002). Im Jahr 2016 betrug der Anteil der LMICs an den verlorenen Disability Adjusted Life Years (DALYs) etwa 87 Prozent (Abbildung 1). Im Jahr 2013 entfielen auf LMICs etwa 90 Prozent der globalen Belastung im Zusammenhang mit Anämie (Kassenbaum et al. 2016), ein Viertel der Kinder unter fünf Jahren hatte eine zu geringe Körpergröße und etwa 13 Prozent waren untergewichtig (Kinyoki et al. 2020). In Indien gingen im Jahr 2017 486 Millionen DALYs verloren, von denen etwa ein Drittel auf übertragbare Krankheiten und Mangelernährung zurückzuführen ist (Menon et al. 2019).

Anteil der verlorenen DALYs durch verschiedene Krankheiten, nach WHO-Einkommensklassifikation Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf GBD 2017, online verfübar unter http://ghdx.healthdata.org/
Ein weiterer Faktor ist die zunehmende Belastung durch Überernährung und nicht übertragbare Krankheiten, die sich in LMICs neben der Unterernährung zunehmend ausbreiten. Einige nicht übertragbare Krankheiten wie Diabetes können das Infektionsrisiko erhöhen (Critchley et al. 2018). Darüber hinaus wurden Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und chronische Erkrankungen der Atemwege als Komorbiditäten identifiziert, die oft zu einem schweren Verlauf von Covid-19 bis hin zum Tod führen (Guan et al. 2020, Wang et al. 2020 sowie Yang et al. 2020). Im Jahr 2016 ist etwa ein Drittel der globalen Belastung mit chronischen Atemwegserkrankungen allein auf Indien entfallen (Salvi et al. 2018). In den Jahren 2012–14 litten 7,5 Prozent der indischen erwachsenen Bevölkerung an Diabetes und ein Viertel an Bluthochdruck (Geldsetzer et al. 2018). Obwohl diese Prävalenzen geringer sind als in vielen Ländern mit hohem Einkommen, besteht das Problem darin, dass Diabetes und Bluthochdruck in den LMICs im Durchschnitt schlecht behandelt werden. Global werden weniger als die Hälfte aller Fälle diagnostiziert und nur ein kleiner Bruchteil wird angemessen kontrolliert (Manne-Goehler et al. 2019 sowie Geldsetzer et al. 2019). Dasselbe gilt auch für Indien (Prenissl et al. 2019a, b). Critchley et al. (2018) zeigen, dass eine schlechte Kontrolle von Diabetes das Risiko einer Hospitalisierung in Folge einer Infektionskrankheit im Vergleich zu Patienten mit optimaler Diabetes-Kontrolle stark erhöht.
LMICs geben im Durchschnitt einen geringeren Prozentsatz ihres Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus als Länder mit hohem Einkommen. Im Jahr 2017 gaben Länder mit hohem Einkommen durchschnittlich 3.024 Dollar pro Kopf aus, 75-mal mehr als Länder mit niedrigem Einkommen (WHO 2018a). Darüber hinaus spielt der öffentliche Sektor in Ländern mit hohem Einkommen eine wichtigere Rolle. Im Jahr 2017 wurden hier etwa 70 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben vom Staat getragen, während der Anteil in Ländern mit niedrigem Einkommen nur 23 Prozent betrug (WHO 2018a). Die Hauptlast tragen die Menschen hier aus ihren eigenen Ressourcen. Die Gesundheitsinfrastruktur in LMICs ist oft unzureichend, um auch nur Routineaufgaben zu erfüllen. Vergleicht man beispielsweise Deutschland und Indien, so gab Deutschland im Jahr 2017 pro Kopf 5.000 Dollar für die Gesundheitsversorgung aus, verglichen mit 69 Dollar in Indien (WHO 2018a). Deutschland hatte im Jahr 2017 42 Ärzte pro 10.000 Einwohner, gegenüber 8 Ärzten pro 10.000 Einwohner in Indien (WHO 2018b). Deutschland verfügte über 83 Krankenhausbetten pro 10.000 Einwohner, während es in Indien nur 7 gab (WHO 2018b). Mit einer derart unzureichenden Infrastruktur werden es LMICs sehr schwer haben, eine Pandemie zu bewältigen.
Der Ebola-Ausbruch in Westafrika ist ein Beispiel dafür, wie schwerwiegend die Folgen eines schwaches Gesundheitssystem sein können (WHO 2015). Murthy et al. (2015) berichten über einen gravierenden Mangel an Betten auf Intensivstationen in Entwicklungsländern, die dort meistens nur in großen Krankenhäusern in Städten zur Verfügung stehen. Darüber hinaus könnten Covid-19-Fälle zu hohen Belastungen durch Gesundheitsausgaben der armen Bevölkerung von LMICs führen. Ein schwerer Fall von Covid-19 erfordert oft intensivmedizinische Betreuung, die für viele Menschen entweder gar nicht bezahlbar ist oder sie verarmen ließe. Die Notwendigkeit solcher Zahlungen aus eigener Tasche ist wahrscheinlich auch ein Hindernis für die Eindämmung der Pandemie, da sich die Menschen aufgrund der Kosten scheuen, zum Arzt zu gehen und sich testen zu lassen.
Die demographische Struktur von LMICs ist hingegen recht günstig. Die Covid-19 Case Fatality Ratio (CFR) der 40- bis 49-Jährigen lag in China bei 0,4 Prozent und in Italien bei 0,7 Prozent. Für die über 80-Jährigen lag die CFR jedoch in China bei 14,8 Prozent und in Italien bei 27,7 Prozent (Dowd et al. 2020). Selbst in Südkorea, wo in größerem Umfang getestet wurde, lag die CFR für die über 80-Jährigen bei 18,3 Prozent (Dowd et al. 2020). Während die wahre Fatalität (Sterblichkeit pro Infektion) noch nicht sicher bekannt ist, kann die CFR einige Einblicke in das relative Risiko verschiedener Altersgruppen geben. Sie sollte jedoch mit Vorsicht interpretiert werden, da sie unentdeckte Fälle nicht einschließt. Erste modellgestützte Schätzungen der Fatalität deuten ebenfalls darauf hin, dass die Sterblichkeit für ältere Menschen wesentlich höher ist (Verity et al. 2020). Viele LMICs haben einen relativ hohen Anteil an jüngerer Bevölkerung (UN 2019). Auch Indien ist ein relativ junges Land, nur 8 Prozent der Bevölkerung sind älter als 60 Jahre (Census 2011).
Als weiteres Argument wird vorgebracht, dass die Bevölkerung in LMICs möglicherweise besser in der Lage ist, SARS-CoV-2-Infektionen zu widerstehen. Singh (2020) argumentiert zum Beispiel, dass die Exposition gegenüber Virusinfektionen wie Dengue, Chikungunya und eine viel geringere Prävalenz von Grippeimpfstoffen zu einer weitgehenden Immunität in LMICs geführt haben könnten. Eine weit verbreitete Immunität würde zu niedrigeren Infektions-, Morbiditäts- und Mortalitätsraten führen. Gegenwärtig sind dies jedoch nur Vermutungen, und es gibt keine klare Evidenz. Auch falls sich das Immunsystem möglicherweise so entwickelt hat, dass es gegen bekannte Virusinfektionen resistent ist, würde dies nicht bedeuten, dass sich die Immunität auf ein bisher unbekanntes Virus überträgt.
3 Präventions- und Eindämmungsstrategien
Hale et al. (2020) haben die Maßnahmen zusammengestellt, die Länder bis zum 31. März 2020 zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ergriffen haben. Die meisten Länder haben Einreisebeschränkungen verhängt, Schulen geschlossen und größere Veranstaltungen abgesagt. 90 Prozent der Länder haben die interne Bewegungsfreiheit in gewissem Umfang eingeschränkt, 83 Prozent haben Arbeitsräume geschlossen und 60 Prozent den öffentlichen Verkehr eingestellt. Die Schärfe, in der diese präventiven Maßnahmen verhängt wurden, war von Land zu Land unterschiedlich. Nach Einschätzung von Hale et al. (2020) haben viele LMICs wie Indien, Mexiko und Vietnam strengere Maßnahmen verhängt als Länder mit hohem Einkommen. Einerseits ist dies rational, da die Kapazität der Gesundheitssysteme viel geringer ist als in Ländern mit hohem Einkommen und die Regierungen daher handeln müssen, solange die Fallzahlen relativ niedrig sind. Andererseits wirken sich Kontaktsperren und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens besonders stark auf arme Menschen aus und setzen diese einem Risiko aus, welches das durch das Virus verursachte Risiko übersteigen könnte.
Der erste positive Fall von Covid-19 in Indien wurde am 30. Januar 2020 gemeldet; es handelte sich um einen indischen Staatsbürger, der aus China zurückkam. Bis zum 1. März 2020 hatte Indien nur drei bestätigte Covid-19-Fälle gemeldet. Seitdem nimmt die Zahl der bestätigten Fälle allmählich zu, und bis zum 24. April 2020 wurden mehr als 23.000 Menschen positiv getestet.[1] Im Vergleich zu europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten und im Verhältnis zur eigenen Bevölkerungszahl sind diese Zahlen immer noch recht niedrig. Die Zahl der bestätigten Fälle sollte allerdings mit einer gewissen Vorsicht interpretiert werden, da die Zahl der bestätigten Fälle und die Zahl der tatsächlichen Infektionen zwei sehr unterschiedliche Dinge sind, insbesondere in Gesundheitssystemen, die nicht über große Testkapazitäten und ein gut ausgestattetes öffentliches Gesundheitswesen verfügen.
Indien hat schon früh reagiert, um einen möglichen Ausbruch zu verhindern. Am 21. Januar 2020 führte Indien für Fluggäste aus China Temperaturmessungen ein und spürte Passagiere mit Symptomen auf. Die Strategie des Testens, der Kontaktverfolgung und der Quarantäne wurde in die Praxis umgesetzt und wird noch immer gewissenhaft befolgt. Mit steigenden Fallzahlen hat Indien das Screening internationaler Passagiere an Flughäfen ausgeweitet, zunächst auf Passagiere aus schwer betroffenen Ländern und dann auf sämtliche. Mit steigenden Infektionszahlen mussten alle internationalen Reisenden 14 Tage in Quarantäne, unabhängig davon, ob sie Symptome zeigten oder nicht. Ab dem 13. März wurden bis auf wenige Ausnahmen alle Visa ausgesetzt. Und ab dem 23. März hat Indien alle internationalen Flüge unterbunden.
Am 5. März wurde bereits eine Beschränkung für Großveranstaltungen verhängt. Die Regierungen der Bundesstaaten gaben in den nächsten Tagen mehrere Ratschläge zur Kontaktvermeidung heraus. Bildungseinrichtungen wurden geschlossen, und die Menschen wurden aufgefordert, von zu Hause aus zu arbeiten und jede unnötige Bewegung zu vermeiden. Diese Schritte erfolgten auf der Ebene der Bundesstaaten, wobei Staaten mit einer höheren Zahl von Fällen strengere Maßnahmen ergriffen. Am 24. März wurde mit einer Ankündigungsfrist von vier Stunden eine Ausgangssperre für 21 Tage für das ganze Land verhängt. Alle nicht lebensnotwendigen Aktivitäten und Inlandsreisen wurden sofort eingestellt. Das bedeutete für viele Menschen, insbesondere für Tagelöhner, den Verlust ihrer Existenzgrundlage.
Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit im In- und Ausland hat die wirtschaftlichen Aktivitäten zum Stillstand gebracht. Solche Sperrmaßnahmen haben in aller Welt 2,7 Milliarden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betroffen und bedrohen deren Existenzgrundlage (IAO 2020). In LMICs ist ein erheblicher Anteil der Beschäftigten im informellen Sektor beschäftigt und hat keinen Zugang zu sozialen Sicherungssystemen. Es ist daher unerlässlich, diejenigen zu schützen, die durch den wirtschaftlichen Schock besonders gefährdet sind. In Europa sind fast 90 Prozent der Bevölkerung durch mindestens ein Sozialsystem abgedeckt und damit vor dem wirtschaftlichen Schock durch die Maßnahmen geschützt. In Afrika beträgt diese Deckung jedoch nur 17,8 Prozent und in der Region Asien und Pazifik etwa 40 Prozent (ILO 2017). Ausgangssperren und andere scharfe gesundheitspolitische Maßnahmen entziehen Menschen in LMICs ihre Existenzgrundlage und können ohne soziale Absicherung zu Armut, Unterernährung und als Folge davon möglicherweise zum vorzeitigen Tod führen.
Wir kommen auf Indien zurück. Die plötzliche Ankündigung der Abriegelung stellte eine große Herausforderung für einen beträchtlichen Teil der indischen Arbeitnehmerschaft dar. In den Jahren 2017-18 arbeiteten nur 22 Prozent der indischen Erwerbsbevölkerung in regulären Beschäftigungsverhältnissen und 25 Prozent als Gelegenheitsarbeiter, der Rest war selbständig (NSO 2019). Viele dieser Menschen leben von ihrem täglichen Verdienst, zum Beispiel durch den Straßenverkauf von Lebensmitteln oder das Ziehen von Rikschas. Während die Abriegelung die Gelegenheitsarbeiter am schwersten trifft, ist der Prozentsatz der Menschen, deren Lebensunterhalt betroffen ist, viel höher. Mehr als 40 Prozent der indischen Erwerbsbevölkerung waren in Bergbau, Fertigung, Baugewerbe, Groß- und Einzelhandel, Transport sowie Gastgewerbe tätig, deren Verdienstmöglichkeiten ebenfalls stark von der Abriegelung (NSO 2019) betroffen sind (siehe Abbildung 2). Weitere 45 Prozent sind in der Land-, Fischerei- und Forstwirtschaft tätig (NSO 2019), die aufgrund der Schließung der Transportwege und der Märkte in der Haupterntesaison ebenfalls stark betroffen sind. Afridi et al. (2020) haben in einer telefonischen Umfrage in Wohngegenden rund um Industriegebiete herausgefunden, dass 85 Prozent der befragten Erwerbstätigen seit der Abriegelung kein Einkommen mehr aus ihrer Haupttätigkeit erzielt haben.

Anteil der Erwerbstätigen in Bergbau, verarbeitender Industrie, Baugewerbe, Groß- und Einzelhandel, Transport und Lagerung sowie Unterkunft und VerpflegungQuelle: Eigene Berechnungen, basierend auf NSO 2019
Eine drastische Maßnahme wie ein vollständiger oder teilweiser Lockdown kann in einem einkommensstarken Land mit guten sozialen Sicherungssystemen wie Deutschland für eine gewisse Zeit durchgehalten werden, und selbst dort bereiten die Maßnahmen vielen Menschen Schwierigkeiten. Die Folgen in LMICs sind ungleich schwerwiegender. Sen, Rajan und Banerjee (2020) warnen vor Massenhunger, welcher zu einer massiven Missachtung der Abschottungsregeln und einer ernsthaften Gefahr für Recht und Ordnung führen kann. Um eine solch dramatische Situation zu vermeiden, sind sofortige und wirksame Reaktionen von entscheidender Bedeutung. Einen ersten Eindruck hat hierfür die Abwanderung von Millionen an Wanderarbeitern geliefert. Wie in fast allen LMICs, insbesondere in solchen mit hoher regionaler und individueller Ungleichheit, gibt es auch in Indien eine erhebliche Binnenmigration. Obwohl keine Arbeitsmarktdaten für die Binnenmigranten verfügbar sind, schätzt die Weltbank, dass sich die Abriegelung unmittelbar auf den Lebensunterhalt von etwa 40 Millionen Arbeitsmigranten in Indien ausgewirkt hat (Ratha et al. 2020). Wanderarbeiter sind in der Regel im informellen Sektor tätig und haben weder Arbeitsplatzsicherheit noch irgendeine Form von Absicherung. Viele von ihnen leben in überfüllten Slums ohne grundlegende Annehmlichkeiten und sind einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. Nach der Ankündigung der Abriegelung blieben sie ohne Einkommensquelle und ohne Hoffnung auf staatliche Unterstützung zurück. Da die öffentlichen Verkehrsmittel ihren Betrieb eingestellt hatten, machten sich Millionen von Wanderarbeitern zu Fuß auf den Rückweg in ihre Heimatstädte und -dörfer, die oft Hunderte von Kilometern entfernt waren. Mit der Schließung der Staatsgrenzen sind zudem Millionen von Menschen an den Grenzübergängen der Staaten gestrandet. Es ist nicht überraschend, dass die Abwanderung der Migranten in Delhi am stärksten war, wo sich die Arbeiter an den wichtigsten Bahn- und Busbahnhöfen versammelten, um zu warten. Diese Massenbewegung könnte zur Verbreitung von SARS-CoV-2-Infektionen im ganzen Land beigetragen haben. Es ist nicht möglich, eine so große Zahl von Menschen per Tracking zu verfolgen, und Indien hat auch nicht die Kapazität, eine so große Zahl an Menschen zu testen. Deshalb sind die Folgen dieser Politik für die Ausbreitung des Virus noch nicht bekannt.
Da ein großer Teil der Arbeitskräfte im informellen Sektor vom Tageslohn und ohne soziale Sicherheit überlebt, ist eine vollständige, von der westlichen Welt inspirierte Abschottungspolitik für ein Land wie Indien nicht angemessen. Eine Politik, die Millionen von Menschen wie Straßenverkäufer, Hausierer, Rikschafahrer und Bauarbeiter, die vom Tageslohn abhängig sind und auf kein Vermögen zurückgreifen können, die Existenzgrundlage entzieht, hätte nicht ohne Ankündigung von Unterstützungsmaßnahmen in die Praxis umgesetzt werden dürfen. Zwar haben die Zentralregierung und die Regierungen der Bundesstaaten später eingegriffen und versucht, Wanderarbeiter durch die Bereitstellung kostenloser Nahrungsmittel und Unterkünfte davon zu überzeugen, in den Staaten ihrer bisherigen Arbeitsstellen zu bleiben. Doch viele waren bereits zu weit auf dem Weg in die Heimat vorangekommen oder hatten ihr Zuhause erreicht. Für diejenigen, die geblieben sind, ist das Leben nach wie vor prekär, da Wanderarbeiter sich oft auch ethnisch und sprachlich von der einheimischen Bevölkerung unterscheiden und daher eine Reihe von sozialen und sprachlichen Barrieren beim Zugang zu Hilfeleistungen zu überwinden haben.
Indien ist ein dicht besiedeltes Land. Mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von 420 Menschen pro Quadratkilometer ist es um ein Vielfaches dichter besiedelt als Italien, Spanien und die Vereinigten Staaten, die zu den am stärksten von Covid-19 betroffenen Ländern gehören[2]. Die hohe Bevölkerungsdichte und die beengten Lebensbedingungen machen die Kontaktvermeidung in Indien zu einer schwierigen Aufgabe. Die Bevölkerungsdichte variiert stark zwischen den indischen Bundesstaaten (Abbildung 3), und es ist nicht überraschend, dass die am dichtesten besiedelten Bundesstaaten wie Delhi, Maharashtra und Uttar Pradesh auch mit einer höheren Anzahl von Covid-19-Fällen zu kämpfen haben.

Bevölkerungsdichte der indischen Bundesstaaten (Anzahl der Menschen pro Quadratkilometer)Anmerkung: Der Bundesstaat Telangana hat 2011 noch nicht existiert und ist daher in der Karte nicht separat dargestellt.Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf Census 2011
Die meisten Menschen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, brauchen keine Einweisung ins Krankenhaus, aber sie müssen trotzdem isoliert werden, um die Ausbreitung des Virus auf andere Menschen zu vermeiden. Jede Person mit Symptomen von Covid-19 wird zunächst gebeten, sich zu Hause selbst zu isolieren, bis ein Test durchgeführt werden kann, was angesichts des schlechten Zustands der Wohnverhältnisse in Indien sehr schwierig ist. In den Jahren 2015-16 verfügte etwa die Hälfte der indischen Bevölkerung über keine dauerhafte feste Unterkunft und etwa 40 Prozent hatten keine Toilettenanlage in ihren häuslichen Räumlichkeiten (National Family Health Survey NFHS-4, IIPS/India und ICF 2017). Die durchschnittliche Bodenfläche betrug 40 Quadratmeter pro Haushalt, was bedeutet, dass pro Person weniger als 10 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung standen (NSSO 2014). Im Durchschnitt schliefen 3 Personen in einem Raum (National Family Health Survey NFHS-4, IIPS/India und ICF 2017), und etwa 40 Prozent der Haushalte verfügten nur über einen einzigen Wohnraum (Census 2011). In Slums ist die Situation noch schlimmer. Gemäß der jüngsten Volkszählung lebten in Indien etwa 65 Millionen Menschen in Slumgebieten, die Zahl ist seitdem vermutlich gestiegen. Etwa 40 Prozent der Slumhaushalte haben keinen Zugang zu Wasser in ihren Räumlichkeiten (Abbildung 4). Daher stellt sich die wichtigere Frage, wie die in Slums lebenden Menschen physische Distanz und eine angemessene Hygiene praktisch umsetzen sollen, wenn ihre Lebensbedingungen dies nicht zulassen. Bisher haben die Regierungen der Bundesstaaten versucht, Isolationszentren für infizierte Menschen bereitzustellen, aber bei einem Massenausbruch mit Millionen von Infektionen

Anteil der Slumhaushalte ohne Zugang zu Wasseranlagen in den RäumlichkeitenAnmerkung: Der Bundesstaat Telangana hat 2011 noch nicht existiert und ist daher in der Karte nicht separat dargestellt.Quelle: Eigene Berechnungen, basierend auf Census 2011
wäre die Bereitstellung solcher Dienste nicht mehr möglich.
Aufgrund des weit verbreiteten Widerstands gegen das kürzlich von der indischen Regierung verabschiedete Gesetz zur Änderung der Staatsbürgerschaft (Citizenship Amendment Act) kam es in den Wochen vor der Abriegelung zu extremen Unruhen im Land. In den Großstädten waren öffentliche Versammlungen bereits vorher eingeschränkt. Es kommt weiterhin zur Inhaftierung von Demonstranten,[3] trotz Warnungen von Gefängnisbeamten vor einer Überfüllung der Gefängnisse und der gerade dort drohenden Übertragung von Covid-19.[4] Verschwörungstheorien, wonach Muslime die Krankheit in böswilliger Absicht verbreiten, sind weit verbreitet. In vielen Teilen Indiens wurden Muslime angegriffen, ihre Geschäfte wurden gemieden und muslimischen Patienten verweigerte man die Behandlung in den Krankenhäusern.[5] Die Angst vor den möglichen Konsequenzen hat daher die Erkennung von Erkrankungen in armen muslimischen Vierteln erschwert und angemessene Kontaktverfolgung verhindert.[6]
Angehörige der niedrigsten Kasten Indiens, die Abwasser sammeln und entsorgen und mit biologischen Abfällen auf Krankenstationen arbeiten, besaßen nie Schutzkleidung und besitzen sie auch jetzt nicht. Diese Arbeiter und ihre Gemeinden, die jetzt an vorderster Front für die Sicherheit anderer sorgen, sind noch größeren Gefahren ausgesetzt als sonst.[7] In den Dörfern des ländlichen Indiens leben die Menschen dieser Kasten und andere, die in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen, in getrennten Siedlungen, in denen die Infrastruktur (Schulen, Kliniken, Geschäfte) und der Zugang zu Wasser bestenfalls unzuverlässig sind. Diesen Siedlungen mangelt es daher ebenfalls an den notwendigen Ressourcen, um Kontaktvermeidung und Hygiene aufrechtzuerhalten. Abgesehen von der Krise der Wanderarbeit und den Schwierigkeiten, denen sich städtische Slumbewohner bei der Aufrechterhaltung von Hygiene und Distanz gegenübersehen, ist es auch wichtig festzustellen, dass die Durchsetzung der Abriegelung in Indien nach sozialer Schicht sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Es gibt zahlreiche Berichte von Übergriffen auf Arme, die sich aus ihren Häusern wagen, um wichtige Einkäufe zu tätigen – während die Menschen in den besseren Vierteln Geschäfte besuchen und ungestört spazieren gehen. Diejenigen, die am wenigsten in der Lage sind, physische Distanz zu praktizieren, werden am härtesten bestraft, wenn sie die Regeln nicht einhalten.[8]
4 Was sollten Indien und andere LMICs tun?
Nach Angaben des Indian Council of Medical Research (ICMR) ist Indien noch nicht in die Phase der lokalen Übertragung von Infektionen eingetreten. Obwohl die Zahl der Covid-19-Fälle zunimmt, ist es Indien gelungen, die Ausbreitung der Fälle zu verlangsamen. Die Verlangsamung wird den Präventionsmaßnahmen der indischen Regierung zugeschrieben. Zum Beispiel haben das medizinische Personal und die Polizei lobenswerte Anstrengungen und Ressourcen in eine sorgfältige Kontaktverfolgung und in Tests fließen lassen. Allerdings sind wohl nicht alle von der indischen Regierung ergriffenen Maßnahmen erfolgreich. Oshitani et al. (2008) argumentieren, dass die Infektionsraten wieder steigen werden, sobald Kontaktbeschränkungen und Abriegelung beendet werden. Die Einschränkungen könnten erst dann aufgehoben werden, wenn nur noch so wenige Infektionen übrig blieben, dass die Erkennung durch Tests und konsequente Kontaktverfolgung wieder möglich sei. Es stellt sich die Frage, ob Indien die Maßnahmen so lange durchhalten kann. Die Abriegelung wirkt sich bereits nach relativ kurzer Zeit auf die Lieferketten im Land aus. Alle Transportmittel sind zum Stillstand gekommen, was zu einer regionalen Verknappung wichtiger Güter und Dienstleistungen führt. Daher erscheint eine komplette Abriegelung nicht als plausible Strategie für einen langen Kampf gegen eine Pandemie in einem Umfeld, in dem viele Menschen am Rand des Existenzminimums leben. Im Folgenden erörtern wir einige Vorschläge, die Alternativen zu einer vollständigen Abriegelung bieten könnten.
Ein zentraler Bestandteil jeder Strategie zur Bekämpfung von Covid-19 besteht darin, Infektionsketten zu unterbrechen. Das Identifizieren und Isolieren infizierter Personen ist dabei ein wichtiger Aspekt. Das Gesundheitswesen ist aber nicht in der Lage, jedes Individuum zu testen, und muss sich darauf verlassen, dass sich Menschen mit Symptomen oder Exposition gegenüber Infizierten freiwillig beim öffentlichen Gesundheitsdienst melden. Mehrere Staaten wie Bihar haben Tür-zu-Tür-Umfragen gestartet, um Informationen über Menschen mit Symptomen oder potenziell infizierte Personen zu sammeln. Auf nationaler Ebene sind telefonische Umfragen geplant. Solche einmaligen Umfragen bieten allerdings keine langfristige Hilfe, und wiederholte Umfragen sind in einem Land mit der Bevölkerungszahl Indiens nicht realisierbar. Eine bessere Aufklärung über die Krankheit, einschließlich ihrer Symptome, ihrer Übertragung, der Rolle der persönlichen Hygiene und der verfügbaren Gesundheitsdienste kann die Zusammenarbeit der Menschen mit dem öffentlichen Gesundheitswesen aber möglicherweise verstärken und das individuelle Präventionsverhalten verbessern. Es ist auch wichtig, über die Quarantäne zu informieren und die Stigmatisierung und Ausgrenzung von Infizierten zu vermeiden (Banerjee und Duflo 2020). Die Angst vor Quarantäne hält Menschen davon ab, sich freiwillig zu melden, und Stigmatisierung stellt eine zusätzliche Belastung für die von der Krankheit Betroffenen dar. Die Verbreitung von Fake News, die Minderheiten für die Verbreitung von Infektionen verantwortlich machen, verursacht ähnlichen Schaden. Die ländlichen ASHA und ANM (lokale Gesundheitshelfer), die Tür-zu-Tür-Befragungen durchführen, können für Information und Aufklärung genutzt werden.[9] Ein weiterer Faktor, der die Entscheidung der Menschen beeinflusst, sich auf das neuartige Corona-Virus testen zu lassen, sind die Kosten der Tests und der Behandlung. Beides ist daher seit Mitte April für Arme gebührenfrei. Ein weiterer Vorschlag zielt auf die Auszahlung einer Quarantänebeihilfe (Ghosh 2020), was die Menschen wahrscheinlich dazu ermutigen würde, sich mit Symptomen freiwillig zu melden. In Odisha, Indien, wird dies bereits umgesetzt.
Die Abriegelung sollte als eine vorübergehende Zwischenstrategie betrachtet werden, die Infektionen verzögern und etwas Zeit für den Ausbau der medizinischen Infrastruktur und des öffentlichen Gesundheitswesens gewinnen kann (Ghosh 2020). Indien muss in großem Umfang in die Herstellung oder Beschaffung wesentlicher Güter wie Schutzkleidung, Verbrauchsmaterial für Tests und medizinische Produkte zur Sauerstoffversorgung investieren. Banerjee und Duflo (2020) schlagen vor, das Gesundheitspersonal in ländlichen Gebieten zu schulen, damit es auf die Ausbreitung von Covid-19 vorbereitet ist. ASHA und ANMs sollten zu Anlaufstellen für die Meldung von Symptomen und Fällen von Covid-19 gemacht werden, da die zuständigen nationalen Stellen keine ausreichende Kapazität hätten. Außerdem gelte es gut ausgerüstete, mobile medizinische Teams aufzubauen, die schnell in Gebiete mit hohen Infektionsraten mobilisiert werden können. Dies sind kurzfristige Maßnahmen zur Bekämpfung der aktuellen Pandemie, langfristig muss Indien jedoch in die Verbesserung seines Gesundheitssystems investieren.
Eine wichtige Folge der Abriegelung sind hohe wirtschaftliche Kosten. Dutzende oder Hunderte von Millionen Menschen in Indien haben ihre Lebensgrundlage verloren. Da die Weltwirtschaft unter großer Anspannung steht, werden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten wahrscheinlich auch nach Aufhebung der Beschränkungen fortbestehen. Die Regierung und die internationale Gemeinschaft werden den betroffenen Menschen nicht nur während der Abriegelung, sondern auch darüber hinaus Unterstützung gewähren müssen. Eine schwierige Aufgabe ist dabei, eine Strategie zu entwickeln, wodurch Bedürftige von Hilfsmaßnahmen erreicht werden. Hierfür wurden einige Vorschläge gemacht, welche die Nutzung existierender Programme wie das öffentliche Beschäftigungsprogramm MGNREGA oder das öffentliche Verteilungssystem PDS beinhalten (Ghosh 2020, Khera 2020 sowie Banerjee und Duflo 2020). Die Zentralregierung und die Regierungen der Bundesstaaten haben bereits angekündigt, den Armen gratis Lebensmittelrationen zur Verfügung zu stellen. Andere lebensnotwendige Dinge wie Hygieneprodukte könnten durch PDS-Zentren bereitgestellt werden. Schul- und Vorschulmahlzeiten, die derzeit als Folge der Schulschließungen ausfallen, könnten in Form von Trockenrationen nach Hause geliefert werden (Khera 2020). Bisher beläuft sich das von der indischen Regierung angekündigte Finanzpaket auf nur 1 Prozent des BIP. Es wird wahrscheinlich notwendig sein, die Industrie sowie mittlere und kleine Unternehmen zu unterstützen, um massenhafte Bankrotte zu verhindern (Ghosh 2020). Da die Lieferketten in aller Welt gestört sind, wäre eine solche Unterstützung wahrscheinlich auch ohne eigene Abriegelungsmaßnahmen notwendig gewesen.
Bis ein Heilmittel oder ein Impfstoff entdeckt wird, sind die einzigen Instrumente, die der Welt zur Verfügung stehen, die Vermeidung von Infektionen oder zumindest die Verlangsamung der Ausbreitung. Komplette Abriegelung ist jedoch eine extreme Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, die nicht lange aufrechterhalten werden kann. Ray und Subramanian (2020) schlagen vor, dass Antikörpertest genutzt werden, damit jüngere Leute zur Arbeit zurückkehren können. Und statt erzwungener Kontaktbeschränkungen sollten die Menschen freiwillig auf Abstand zu Angehörigen gefährdeter Altersgruppen gehen. Angesichts der Lebensbedingungen in durchschnittlichen indischen Haushalten erscheinen diese Vorschläge für einen Großteil der Bevölkerung als unrealistisch. Auch breit angelegte Antikörpertests sind derzeit keine realistische Option, was sich aber hoffentlich in den kommenden Monaten ändern wird. In vielen Distrikten Indiens sind die Fallzahlen noch relativ gering. Dort erscheint das vollständige Herunterfahren aller nicht lebensnotwendigen Aktivitäten nicht angemessen; die Früherkennung und Kontaktverfolgung ist immer noch eine realistische Option, insbesondere wenn wegen der Reisebeschränkungen nur wenige Fälle von außen dazukommen. Die vollständige Abriegelung durch die indische Regierung wurde übereilt eingeleitet, obwohl man sich der Auswirkung auf ärmere Bevölkerungsgruppen hätte bewusst sein müssen. Diese Randgruppen, die am Existenzminimum leben und/oder Dienstleistungen erbringen, die sie einem besonders hohen Risiko aussetzen, benötigen jetzt die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger. Indiens schlechte Gesundheitsinfrastruktur und die vielfältigen Dimensionen der Ungleichheit machen das Problem besonders komplex und erfordern daher auch komplexe Antworten.
Die Covid-19-Pandemie entwickelt sich weiter, und auch das Wissen über die Krankheit entwickelt sich weiter. Die Politik muss mit dieser Entwicklung Schritt halten. Zwar lassen sich Erkenntnisse aus den Erfahrungen anderer Länder gewinnen, doch ist es keine gute Strategie, die Politik anderer Länder eins zu eins zu übernehmen, vor allem wenn sich Rahmenbedingungen grundlegend unterscheiden. Jedes Land sollte seine Politik an die eigenen sozioökonomischen Strukturen anpassen. Es gilt auch anzuerkennen, dass einkommensschwächere Schichten der Gesellschaft durch ihre Lebensbedingungen und Vorerkrankungen im Durchschnitt stärker als andere durch Covid-19 gefährdet sind und dass sie gleichzeitig auch mehr unter den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie leiden.
Literaturverzeichnis
Afridi, F., A. Dhillon und S. Roy (2020), How has Covid-19 crisis affected the urban poor? Findings from a phone survey, Ideas For India, 23. April, online verfügbar unter https://www.ideasforindia.in/topics/poverty-inequality/how-has-covid-19-crisis-affected-the-urban-poor-findings-from-a-phone-survey.html.Search in Google Scholar
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© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Editorial
- Wirtschaftspolitik in und nach der Corona-Krise
- Unsere Welt in Zahlen
- Im Griff der Viren
- Aus aktuellem Anlass
- Die Corona-Krise: Eine politökonomische Betrachtung
- Wissenschaft im Überblick
- Fertigstellung des Europäischen Hauses 2025
- Das Gespräch
- „In dieser Krise wirken alle Kräfte in Richtung einer Spaltung der Gesellschaft“
- Beiträge aus der Forschung
- Die europäische Fiskalunion – Analyse und Kritik der ersten legislativen Vorschläge der Kommission
- Covid-19 in Deutschland – Erklärung, Prognose und Einfluss gesundheitspolitischer Maßnahmen
- Die Folgen von Covid-19 für die Globalisierung
- Die geldpolitischen Maßnahmen des Eurosystems in der Corona-Krise
- Österreichs Wirtschaft in der Corona-Pandemie
- Die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Schweiz zu Beginn der Covid-19-Pandemie
- Covid-19 in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen: Das Beispiel Indien
- Intelligente Eindämmungsstrategien gegen Covid-19: Die Rolle von Künstlicher Intelligenz und Big Data
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