Der Lieferant
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Hannes Böhringer
Abstract
Die Musealisierung sollte sammeln und bewahren. Aber es entgleitet ihr, was sie bewahren soll: die Geschichte und die Kunst. Darum greift die Musealisierung immer weiter und vergeblich aus. Sie hält die Verpackung fest und lässt den Inhalt fahren. Im kontinuierlichen Lieferservice der Ästhetisierung und Musealisierung sind Kunst und Geschichte nicht mehr da. Als unzustellbare Ereignisse tauchen sie überraschend von irgendwoher auf.
Sammeln: Wer geht schon in seiner eigenen Stadt ins Museum? Höchstens der seine Freunde dorthin begleitet, die ihn besuchen kommen. Museen sind für Touristen und Schulklassen. Die Museen in der eigenen Stadt laufen mir nicht weg. Vielleicht besuche ich einmal eine umstrittene Sonderausstellung, damit ich mitreden kann.
Die Touristen sind die zahlreichen Abkömmlinge der jungen englischen Adeligen, die eine Bildungsreise durch Europa machten: the grand tour. Sie führte durch Frankreich nach Italien und manchmal auch durch Deutschland den Rhein hinauf zurück. Tour heißt die Kurve kriegen können, wenden, französisch tourner. Sonst kommt man nicht zurück. Die Tour schlägt einen Kreis um das, was man gehört, gelesen und gesehen haben muss, wenn man zu den Gebildeten gehören will. Altertümer, Sammlungen, Museen, Städte und Kulturlandschaften, Sprachen. Die große Tour schließt die humanistische Bildung und ihre Enzyklopädie (egkyklia paideia) als Reise ab.
Die Fahrt soll Erfahrung werden. Dazu muss man sich drehen und wenden, beweglich sein: Hinwendung zu dem, was einem begegnet, Anwendung auf spätere Begebenheiten und Zurückwendung zu sich selbst. Die Touristen versammeln ihre Erlebnisse um sich herum, sammeln Erfahrung und sammeln sich selbst in der Begegnung mit dem Erlebten. Eine Wunderkammer entsteht. Sie enthält Curiosa und Mirabilia, Mitbringsel von den Reisen, Zeichnungen, Postkarten, Photographien, Andenken, Erinnerungen. Die gesammelte Erfahrung reicht vom Staunen zum Wissen, umfasst Anekdotisches und Allgemeines.
Die Reise unterbricht den Alltag und öffnet eine Lücke für das Unerwartete: andere Sitten und Gebräuche. Die Route der grand tour folgt den Stätten der Antike und ihrer Wiedergeburt (Renaissance) in der frühen Neuzeit. Das in der Verwunderung noch nicht erfasste Wunderbare wird bewundertes Vorbild und damit klassisch. Die Bewunderung überwindet die Kluft zwischen dem hohen Vorbild und dem eigenen begrenzten Vermögen, ihm gleichzukommen. Bewunderung kann aber auch in Ablehnung umschlagen. Anstelle der klassischen Antike wird so das Gotische bewundert, anstelle des Abendlandes das Morgenland oder die archaischen Kulturen der Südsee. Entsprechend ändert sich die Reiseroute. Zeit und Geld sind sowieso knapper und die Verkehrsmittel schneller geworden. Die großen Touren dauern nicht mehr so lange.
Der Kreis, der alles Wissenswerte umfassen soll, schließt sich nicht. Jede Enzyklopädie braucht immer weitere Supplementbände. Im Verlauf der grand tour verlagert sich der Mittelpunkt des Kreises, der Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Neue Interessensfelder tun sich auf. Die Reiseroute richtet sich danach. Man macht eben Erfahrungen. Das Sammeln strebt nach Vollständigkeit und erreicht sie nicht. Ein Glück, dass sich der Kreis nie schließt! Aus dem Lesen, Auflesen, Sammeln (colligere) wird zu leicht ein Zusammenzwingen, ein forciertes Denken (cogitare) (Heidegger 1963, S. 100).
Die Erfahrung neigt zur Routine, zur Selbstbestätigung und damit zur Gewohnheit. Wie von selbst kommt sie immer wieder auf die ihr geläufigen Routen zurück. Doch sie muss wendig bleiben, offen für das, was ihr Wissen stört, was eine Sammlung umstürzen und das Wahrnehmungsfeld neu ordnen, komplexer und einfacher machen kann. Die Verwunderung, die Lust auf Überraschungen, das Bewusstsein für die Grenzen des Wissens dürfen nicht verloren gehen.
Jeder sammelt Erfahrungen in seiner Wunderkammer. Darin wirken sie aufeinander und verwandeln sich alchemistisch, gären, gerinnen, faulen, verwesen und verfeinern sich. Erinnerungen mit Empfindungen scheiden sich von pragmatischen Erfahrungen. Der Sammler scheint zu sammeln. Doch die Erfahrungen sammeln sich von selbst an. Sie lassen sich nicht abweisen und ihre Bedeutungen sich nicht vorschreiben. Der Sammler kann sie nur auflesen. Menschen suchen sich ihre Geschichte nicht aus. Das Sammeln ist medial und reflexiv. Es sammelt nicht nur etwas, sondern sich selbst. Es wird ein Denken, Nachsinnen und Empfinden dessen, was sich angesammelt hat. Sammelnd versuche ich, mich zu sammeln und komme dabei ab, wenn ich die Sammlung vervollständigen will.
Die Wunderkammer der Erinnerung bewahrt meine Fahrten durch die Geschehnisse. Manche bleiben oder verblassen, ohne sich zu verändern, manche verändern sich, laufen aus und bilden unbestimmte vieldeutige Flecken. Das sind die von Empfindungen getränkten und eingefärbten Erinnerungen, die auf andere Ereignisse chemisch reagieren. Photographien zeigen Personen, Landschaften, Städte, Dinge und rufen darin für die Beteiligten Empfindungen hervor, auslaufende Flecken.
Die Wunderkammer tut sich dem Einzelnen in der Einsamkeit auf, in der Begegnung mit sich selbst. Doch einsam ist er nicht isoliert. Er folgt den Konventionen und Traditionen einer Gesellschaft, ihren Wegen, Karrieren und Reiserouten, wenn auch manchmal in Gegenrichtung, auf Umwegen und Nebenstrecken. Auch eine Gesellschaft sammelt und versammelt sich als Volk zur Wahl und Willensbildung. Zugleich sammelt sie sich um eine gemeinsame Kultur, Geschichte, Sprache, gemeinsame Mythen und Heroen, Sänger, Dichterinnen. In einer gemeinsamen Kultur kann man andere Meinungen leichter verstehen und aushalten, meistens jedenfalls.
Meinen: Ich meine, du meinst, sie oder er meint, wir meinen. Alle Welt hat Meinungen. Das ist kommunikativ. Man kommt miteinander ins Gespräch, kann sich unterhalten und streiten. Der Streit darf nur nicht zu weit gehen. Jeder schleppt in seinem Rucksack Meinungen mit auf seiner Tour durchs Leben. Sie sind gepflegt, ausgebessert, gewaschen und gefaltet, aber auch abgetragen, verschwitzt und löchrig, können bewahrt, aber auch gewechselt und weggeworfen werden. Irgendetwas zum Anziehen, Sichüberziehen, damit man sich äußern, sich behaupten kann, braucht man in jedem Fall.
Die Menschen haben unterschiedliche Meinungen, Meinungsverschiedenheiten, unterschiedliche Ansichten, verschiedene Interessen. Ihre Welt ist so offen, dass sie mehrere Meinungen zulässt. Und die müssen nicht alle falsch sein bis auf eine. Die Menschen sind so frei, dieses oder jenes zu meinen. Das ist oft schon zu viel. Die öffentliche Moral einer Gesellschaft lässt nicht alle zu und ächtet bestimmte Meinungen als unziemlich. Das Stimmengewirr soll sich in Grenzen halten. Nicht alle Meinungen sind erwünscht oder opportun. So hat der Einzelne in seinem Rucksack auch Ansichten, die er nicht vor allen ausbreitet. Bei manchen Meinungen ist er nicht sicher, ob er sie selbst eingepackt hat oder ob sie ihm mitgegeben oder zugesteckt worden sind von den Eltern, Lehrern, Freunden, von Zeitungen und Medien.
Natürlich sind da immer Querköpfe und Eigensinnige. Aber gewöhnlich wollen die Menschen keinen Ärger, vertrauen dem Üblichen und schließen sich mit Einschränkungen einer der gängigen Meinungen an. Die Macht lockt, eine Meinung zur herrschenden zu machen und einen Meinungsdruck zu erzeugen. Dagegen anzukommen, ist nicht leicht.
Die Menschen meinen (Groethuysen 1995, S. 275ff.). Das heißt, sie verbinden Behauptungen mit Überzeugungen, mit empfindsamen Erfahrungen. Über sie lässt sich nicht streiten. Jeder wird hier empfindlich. In der Meinung vermischt sich Widerlegbares mit Unwiderleglichem. Beides ist aufeinander angewiesen. Überzeugungen brauchen Argumente, und Behauptungen gewinnen ihre Kühnheit am Ende aus Überzeugungen. Wären Meinungen nichts anderes als Behauptungen, könnte man sich leicht einigen. Doch ein Meinungsstreit nimmt kein Ende, höchstens ein vorläufiges durch Erschöpfung, überlegene Wortgewandtheit und Schlagfertigkeit von einer Seite, durch Druck oder ein Machtwort, das Meinungen zum Schweigen bringt. Meinungen werden weniger widerlegt als abgelegt. Vorübergehend verschwinden sie und tauchen in einem etwas anderen Schnitt oder Muster wieder auf.
Wir bilden uns Meinungen über das, wovon wir etwas zu verstehen glauben, überschaubare Sachgebiete, Alltägliches, aber auch auf Grund von Erfahrungen zweiter Hand, vom Hörensagen, Fernsehen oder wissenschaftlichen Untersuchungen. Auch Wissenschaftler haben Meinungen. Ihre Aussagen können sich nicht lösen von tief sitzenden Empfindungen über Gott und die Welt, die sich einer Widerlegung entziehen.
Mit allerlei Meinungen im Gepäck zieht der Tourist seines Wegs und muss immer wieder Pausen einlegen, Halt machen, das Gepäck ablegen, das ununterbrochene Meinen, Behaupten und Sichbehaupten anhalten. Philosophische epoché, Einkehr in die Wunderkammer, den Kristall seiner Welterfahrung. Dieses Sichsammeln und Anhalten (inhibition) ist nötig für das Herhalten und Vorzeigen (exhibition) von haltbaren Aussagen, die sich hoffentlich behaupten können. Was meine ich mit meinen Behauptungen? Worum geht es mir überhaupt? Der Halt ist die Umwandlung einer Ansammlung von Erfahrungen und allgemeinen Meinungen in die eigene Meinung. In der Pause, Muße, scholé, an einer Haltestelle (inhibition) bildet sie sich heraus: exhibition.
Platon, der wie die Philosophen vor und nach ihm nicht viel auf Meinungen gab und eigentlich nur Wissenschaft und Weisheit gelten lassen wollte, musste doch die Bedeutung der „richtigen Meinung“ anerkennen (Menon 97a ff.). Sie neige zum Wegfliegen, schreibt er, weil sie an den Grund nicht festgebunden sei. Sie hat keinen Grund, höchstens Gründe, meist ist sie nur plausibel. Für Platon war die Meinung noch nicht die eigene, sondern die gängige über das, was gut und schön ist. Das Übliche kann auch nicht ganz schlecht sein. Immerhin scheint es sich bewährt zu haben. Aber es bleibt in der Routine unbedacht. Nachfolgende Philosophen sahen in der Meinung den rationalen Kern eines Affekts (Cicero, Gespräche in Tusculum III, S. 24): Ich leide an Fehlurteilen, Meinungen. Ich habe Angst, weil ich den Tod für ein Übel halte. Doch das ist er nicht, sagen die Philosophen. Als falsche wird die Meinung persönlich.
Das deutsche Wort meinen hat ursprünglich wenig mit behaupten zu tun. Meinen ist verwandt mit Gemeinde, Gemeinschaft, Allgemeinheit und mit Minne, Liebe, Treue (Trier 1998, S. 143ff.). Die Meinung in diesem Sinne war im Kern ein kundiger Vorschlag für die gemeinsame Sache. Die Meinung ist der sensus communis, der Sinn, der sich auf die Lösung gemeinsamer Aufgaben richtet. Diesen common sense spannt die Meinung zusammen mit Liebe und Treue. Was meine ich persönlich gegenüber einer Gemeinschaft, der ich mich verbunden fühle? Was ist mir lieb und teuer? Ich muss anhalten und mich sammeln: inhibition, exhibition.
Was meine ich, das nicht schon so oder anders, aber ähnlich gesagt worden ist? Die eigene Meinung braucht Mut und Bescheidenheit. Sie äußert sich eher im Tonfall als in der Behauptung, weniger im Was als im Wie. Den Tonfall färbt die Empfindung ein, die sublimierten Erfahrungen in der Wunderkammer. Die persönliche Meinung trübt nicht die Sicht auf die Geschehnisse, sie ist erhellend: Erkenntnis durch die Intensität einer Empfindung und einen Ton, der klingt.
Liefern: Ich brauche mich kaum noch zu bewegen. Alles wird mir gebracht, selbst Fahrten und Erfahrung. Ich brauche nur noch einzusteigen. Alles wird geliefert. Ich bewege mich nur, weil ich selbst liefern muss. Ich muss einem Empfänger etwas vorzeigen, herhalten: exhibition. Ich bin stolz. Ich habe etwas vorzuweisen.
Immer schon musste man Dinge oder Nachrichten von da nach dort transportieren, bringen oder holen. Jetzt wird alles geliefert, in die Nähe oder gleich nach Hause: Sachen zum Anziehen, Essen und Trinken, Geräte aller Art, Ersatzteile, Nachrichten, Unterhaltung, Nachwuchs, Partner, Abenteuer, Affären. Fernreisen werden geliefert, die große Tour dahin oder dorthin in großen oder kleinen Stücken. Die Lieferung bringt alles herbei.
Die Geschichte hört nicht auf. Weiterhin geschehen Ereignisse im Großen und Kleinen, schrecklich und wunderbar. Aber sofort werden sie eingepackt, als Nachricht, Bild und Meinung vervielfältigt und gesendet, versandt. Sie werden reproduziert oder simuliert und dann en masse geliefert. Die Lieferung erfolgt in Containern. Der Inhalt wird dem Format des Behälters angepasst. Wissenschaftliche Vermutungen, die noch erprobt werden müssen, werden ebenso als Meinung verpackt wie eine originelle philosophische Behauptung oder ein politischer Kommentar. Als Meinung ist alles plausibel und erzeugt die Lieferung von Gegenmeinungen.
Die späten Abkömmlinge der jungen Adeligen kombinieren die Bildungsreise mit einem Erholungsurlaub. Denn das Leben ist anstrengend geworden. Jeder hat irgendwie mit dem Produzieren, Verpacken und Ausliefern von Lieferungen zu tun. In den Erholungspausen merkt jeder, wie sehr er selbst den Lieferungen ausgesetzt ist, ob er will oder nicht. Er ist nicht nur Lieferant und Empfänger von Sendungen aller Art, sondern auch Lieferung. Mit ihm werden Gaststätten, Kaufhäuser, Hotels, Museen, Flugzeuge und Busse beliefert. Er liefert Daten über sich selbst für die nächsten Lieferungen, denen er ausgeliefert ist.
Menschen, Dinge, Informationen, Bilder, Meinungen touren um den Globus, liefern und werden geliefert. Liefern kann man nur, was lose ist, beweglich. Liefern, französisch livrer, geht auf das lateinische Verb liberare zurück: befreien, losmachen. Die Lieferung befreit das, was sie liefert, aus seinem Lagerplatz oder Ursprungsort, wo es festgehalten worden war. Die Befreiung wirkt ansteckend. Die Mobilisierung lockert immer mehr. Liefern geht mit der Liberalisierung der Wirtschaft einher, mit Offenheit von Handelswegen und Meinungsfreiheit. Die Distribution ist wichtiger geworden als die Produktion. Die Lieferung hat die Verteilung überholt. Sie kommt los von der Vorstellung eines endlichen Ganzen, das angemessen oder sogar gerecht verteilt werden soll.
Wenn alles locker ist, brauche ich irgendwo Halt. Aber auch der ist lose. Wie kann ich mich halten in der allgemeinen Lockerheit? Ich muss mich sammeln, bin aber zerstreut, will anhalten, muss aber weiter liefern. Wenn alles locker ist, kann nur Druck zusammenhalten. Der ist jedoch ambivalent. Er lockert und löst, vorübergehend aber hält er zusammen: als Zeitdruck und Anpassungsdruck.
Halt fand Europa lange in einer Vergangenheit, die gegenwärtig bleibt in der Fähigkeit zur unaufhörlichen Wiedergeburt von Antike und Christentum. Um beide wurde ein Kreis gezogen. Beide sich überschneidende Kulturkreise wurden studiert und bereist. Man pilgerte zu alten Kirchen und antiken Tempeln.
Dann kommt die Industrialisierung und mit ihr das Bewusstsein, von ihr bedroht zu sein. Industriestädte und Industrielandschaften entstehen. Der Bestand der alten Stadtbilder und Landschaften gerät in Gefahr, die Sinnbilder der eigenen Geschichte. Was schützt vor der Bedrohung? Eine neue Museumskultur und Denkmalspflege. Der Historismus des 19. Jahrhunderts schien ein Gegengewicht zur industriellen Zerstörung zu bilden (Ritter 1974, S. 126ff.), erwies sich aber als ein Teil von ihr, als industrielle Ausbeutung der Vergangenheit, der historischen Bodenschätze. Neugotische und neoromanische Kirchen wurden in Serie überallhin geliefert, Museen im Stil der Renaissance und des Barock oder mittelalterliche Ritterburgen den Rhein entlang. Die architektonischen Behälter konnten konserviert oder in alter Form neu geliefert werden, aber nicht der lebendige Inhalt. Der wird durch Historisierung, Musealisierung und Ästhetisierung neutralisiert (Schmitt 1963, S. 79ff.). In den Burgen wohnen Industriebarone. Der Museumsbesucher fällt vor einem Altarbild nicht mehr auf die Knie. Lose geworden waren die Bilder schon früher.
Unterbrochen wird die zunehmende Industrialisierung der Geschichte für kurze Zeit von der Kunst der Avantgarde, die dem Historismus der alten Welt die Morgenröte einer ganz neuen, modernen entgegensetzt. Inzwischen ist auch diese Moderne historisiert, in ihrer Utopie neutralisiert und lieferbar geworden. Die Industrialisierung hat den Handel der zeitgenössischen Kunst erreicht. Ihre Sammlungen werden dahin und dorthin geliefert wie die Kollektionen von Modehäusern. Die Person des Sammlers, seine eigene Ansicht und Meinung, sein Empfinden und Geschmack sind in der großen Menge von Kunstwerken nicht mehr zu erkennen. Auch der Sammler ist beliefert worden. Die Meinung des Touristen kann sich nicht mehr an der des Sammlers bilden. Wie der Ausstellungskurator dem Druck des Marktes ist der Tourist der Menge und dem Sog des Gängigen ausgesetzt. Er selbst kommt in Mengen. Sie strömen in die Museen und danach in die zu Altstädten musealisierten Innenstädte und essen und trinken und kaufen ein.
Alles lose, nirgends Halt. Diesen Eindruck muss schon Platon im kleinen Athen gehabt haben. Die Sophisten, die klugen Leute von damals, demonstrieren, dass die Plausibilität einer Meinung der Sachkundigkeit immer überlegen ist. Je nach Interesse kann ihre Redekunst die schwächere Sache zur stärkeren machen und umgekehrt (Protagoras). Alles steht zur Verfügung, sogar die verbindlichen Schriften der Dichter. Sie können nach Belieben so oder anders ausgelegt werden. Wenn das Plausible zu einer Technik wird, die gelehrt und gegen Geld geliefert werden kann, dann verschwindet das Richtige und Vortreffliche, weil es selbst plausibel gemacht werden muss.
Platon dachte sich die Verfassung einer Stadt aus, die nicht auf die Plausibilität von Meinungen angewiesen ist, eine Verfassung ohne Freiheit. Die Wissenden allein haben das Sagen. Aber wer weiß, wer die Wissenden sind? In den nachfolgenden Zeiten ziehen sich die Philosophen mehr und mehr auf sich selbst zurück und versuchen, in sich selbst den Halt zu finden, der ihnen außen abhanden gekommen ist. Sie strengen sich an, affektfrei, leidenschaftslos, frei von Meinungen und damit unerschütterlich zu werden. Doch es reicht als Halt vielleicht schon eine Pause, ein Augenblick der Versenkung in die Wunderkammer, wo sich die eigene Welterfahrung und -anschauung zur theoria sublimiert.
Meinungen sind Missverständnissen ausgeliefert. Meistens werden ihnen Behauptungen entnommen, die bestritten oder gut geheißen und verstärkt werden können. Das hält die Kommunikation in Gang. Nur mit Mühe dringt man vor zur Wunderkammer einer Meinung, in der auch die Irrtümer richtig sind.
Ich bin ein Tourist. Ich gehe auf Reisen. Ich gehe los. Ich bin lose. Indem ich mich bewege, kommt alles in Bewegung. Alles wird lose. Aber Bewegung heißt auch: Ich kann mich drehen und wenden. Ich kann kurven. Dabei komme ich ab. Ich komme weder zurück noch dorthin, wohin ich gelangen wollte. Der Kreis schließt sich nicht. Die Erfahrung muss offen bleiben. Aber in den Ausbuchtungen der Kurven kann ich vorübergehend fischen und Erfahrungen sammeln, bevor ihre Erkenntnisse durch die Öffnung entschwinden. Die Kurve ist meine Wendung, mein tropos, mein Tonfall in der Menge der Meinungen.
Ich bin lose. Es kann losgehen. Ich bin befreit, freigelassen, libertinus. Ich werde nicht mehr festgehalten, dafür jedoch den Lieferungen ausgeliefert. Ich bestelle, was geliefert werden kann. Fast alles wird ausgestellt, bereitgestellt und ist fertig für die Lieferung. Doch gerade in der Perfektionierung der Aus- und Zustellung entziehen sich Halt und Inhalt. Der Freigelassene hat alle Freiheiten. Aber mehr denn je wird er von den Erfahrungen zweiter Hand und Allerweltsmeinungen eingeschlossen. Das beunruhigt ihn und macht ihn misstrauisch. Er entkommt ihnen auch nicht, indem er sich Gegenmeinungen kommen lässt. Wie kann ihm die Verwandlung in einen freien Geist (esprit libre) gelingen, der offene Umgang mit der Überlieferung und den neueren Lieferungen, die Bildung eines Tons mit reicher Klangfarbe, einer Meinung?
Ich bin losgegangen, ich bin unterwegs. Ich bin nicht da. Ich bin nie ganz da. Darum entgeht und fehlt mir immer dies und das. Was mir fehlt, was mir nicht da zu sein scheint, lasse ich mir liefern. Die Lieferung liefert jedoch den Überdruss mit, das Ungenügen an der Lieferung, den Wunsch nach mehr, das uralte Immermehr-haben-wollen (pleonexia). Die Musealisierung sollte sammeln und bewahren. Aber es entgleitet ihr, was sie bewahren soll: die Geschichte und die Kunst. Darum greift die Musealisierung immer weiter und vergeblich aus. Sie hält die Verpackung fest und lässt den Inhalt fahren. Im kontinuierlichen Lieferservice der Ästhetisierung und Musealisierung sind Kunst und Geschichte nicht mehr da. Als unzustellbare Ereignisse tauchen sie überraschend von irgendwoher auf.
Aber ich brauche nur die kleinen Kreise der musealisierten Innenstädte zu überqueren und ich bin im gewöhnlichen Leben, im kruden Alltag, dessen Besonderheit darin besteht, nichts Besonderes zu sein. Dieses konkrete Allgemeine (Hegel) zu sammeln und zu meinen, ist die Befreiung von der Befreiung, Freiheit. Die Welt der Lieferungen findet keinen Halt in sich selbst. In der Unscheinbarkeit des gewöhnlichen Lebens hingegen ist alles da: Glück und Elend, Torheit und Weisheit, Härte und Zartheit, die Ereignisse, die Tricks, die Vergeblichkeit und das Wunderbare. Der fremde Alltag öffnet den Blick für den eigenen. Er enthält die ganze Welt, unergründlich in den Verästelungen, voller Überraschung in den Wiederholungen, alles das, was einem Lieferanten gemeinhin widerfährt: die notwendige Tinktur in der Chemie der Wunderkammer. Die Tour, der große Umweg, war nicht umsonst.
Ich fahre die Lieferungen aus. Das hält mich in Bewegung. In den Pausen (inhibition) spüre ich mein eigenes Gepäck, die Meinungen, mit denen ich mich selbst ausliefere. Sage ich überhaupt meine Meinung, oder gebe ich nur wieder, was mir zugesteckt worden ist? Der Rucksack lässt sich nicht ablegen. Nach hinten lange ich in ihn nicht tief genug hinein. Ich begreife nur, was obenauf liegt. Der Reiseführer, der mich lenkt, muss wohl tiefer in meinem Rucksack sein. Ich kann nicht lange stehen bleiben und nachforschen. Im Stillstand ist das Gepäck zu schwer. Wenn ich in Bewegung bin, auf Fahrt, wird es leichter.
So kurve ich herum und versuche, das Gepäck los zu werden, mich zu befreien. Unter die Bestellungen, die ich ausliefere, schiebe ich immer auch Gepäckstücke von mir. Ich liefere, was gar nicht bestellt war. Mein Gepäck wird trotzdem nicht weniger. Ich werde es einfach nicht los. Eine solche Lieferung, die man ausliefert, ohne sie loszuwerden, die nicht einmal bestellt war, ist eine Überlieferung, Tradition. Sie verschwindet nicht, wenn man sie abschafft, und geht andere Wege, als man meint, wenn man sie weiterreichen will.
Die Überlieferung wird man nicht los, man wird ihr nur inne. Wahrgenommen kann sie zur Sprache gebracht werden oder, besser noch, ihre Sprache finden und damit leichter werden. Leicht geworden gibt sie mich frei und hilft mir als Ratgeber, ein Reiseführer, den ich lesen kann. Musik, Gesang und Bilder zeugende Sprache bauen die große Wunderkammer, in der sich die Tradition erneuert.
Die Überlieferung ist mir auf den Rücken gebunden. In sie eingeschnürt, schleppe ich die Geschichte mit mir herum und werde sie nicht los. Geschichte ist das, was passiert ist, mich passiert hat, was über mich hinweg und durch mich hindurch gefahren ist, erzählte, aufgeschriebene, untersuchte, verfälschte, verschwiegene, vergessene, abgebrochene Geschichten. So sind Jahrtausende durch mich hindurch gefahren und haben ihre Spuren hinterlassen. Geschichte ist Leidensgeschichte.[1] Das Wenigste weiß ich von ihr. Aber sie hat meine Meinung gestimmt. Meine Meinung überliefert ihre Stimmen. Die Anderen hören sie eher heraus als ich selbst. Ich werde die Geschichte nicht los und kann sie nie richtig zur Sprache bringen. Was ich meine, ist einseitig, eine Meinung in der Gemeinschaft von Meinungen. Könnte ein Konzert der Meinungen und Gegenmeinungen die ganze Überlieferung zum Klingen bringen?
Die Tradition hält mich. Ich halte mich an sie und stoße mich von ihr ab. Unvermeidlich reiche ich sie weiter, unvermeidlich unzulänglich. Die Weitergabe geht daneben. Die Tradition, nie auf der Höhe ihrer selbst, verrät sich selbst, ist immer im Streit mit sich. Gebieterisch wird darum oft eine bestimmte Version der Geschichte, zumindest ein Teil von ihr, zur richtigen Meinung und für endgültig erklärt. Das sind die dogmatischen Legenden in den Familiengeschichten, in den Religionen und Wissenschaften, der vorgeschriebene Halt.
Ich will das Bündel auf meinem Rücken losschnüren. Aber ich habe Angst vor der Auflösung, dass alles locker und lose wird, nichts mehr haltbar ist, nichts, woran ich mich halten kann. Wo ist eine Lösung, die hält? Zwischen Auflösung und Dogmatisierung bewegt sich das Sammeln von Erfahrung. Es strebt nach Vollständigkeit und muss doch offen und unabgeschlossen bleiben. Lose sammelt sich die Erfahrung um Brennpunkte, die sich mit den Erfahrungen mitbewegen.
Die Musealisierung tränkt die Überlieferung mit der Empfindung für ein verlorenes Ganzes. Das einzelne erhaltene Bruchstück ruft im Museum eine untergegangene Welt, eine vergangene Zeit hervor. Aus der Last der Geschichte wird die Sehnsucht nach dem Verlorenen. Die Musealisierung übersetzt das Gewicht im Rücken nach vorn in suggestive, die Vergangenheit spiegelnde Bilder. Die Geschichte wird genießbar, konsumierbar, lieferbar. Das Paradox der Überlieferung entgleitet: los zu werden, was passiert ist; weiterzureichen, woran man festhält; etwas zu bewahren, indem man es verrät, weiter- und weggibt.
Gemeinhin wird die Geschichte in Büchern, Ausstellungen und Denkmälern überliefert. Diese Tradition zeigt vor (exhibition), was sie weiterreichen will. Sie will mich belehren und einsammeln, ich aber muss mich sammeln (inhibition). Um diese Überlieferung herum lebt eine unscheinbare Tradition, die Liturgie des Alltags, die guten Sitten, die richtigen Meinungen, die Antworten auf das, was einem täglich widerfährt. Hier ist alles da.
Literatur
Burckhardt, J. (1978): Weltgeschichtliche Betrachtungen. München.Suche in Google Scholar
Cicero, Marcus Tullius (1992): Gespräche in Tusculum. München.Suche in Google Scholar
Groethuysen, B. (1995): Les paradoxes de l’histoire de la philosophie. In: ders., Philosophie et histoire, S. 271-297. Paris.Suche in Google Scholar
Heidegger, M. (1963): Die Zeit des Weltbildes. In: ders., Holzwege, S. 69-104. Frankfurt/M.Suche in Google Scholar
Ritter, J. (1974): Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft. In: ders., Subjektivität, S. 105-140. Frankfurt/M.Suche in Google Scholar
Schmitt, C. (1963): Der Begriff des Politischen. Berlin.Suche in Google Scholar
Trier, J. (1981): Wege der Etymologie. Berlin.Suche in Google Scholar
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Einleitung: Ausstellungswert und Musealisierung
- I. Musealisierung
- Die Wahrheit der Kunst
- I. Musealisierung
- Der Lieferant
- I. Musealisierung
- Heterotopie des Museums
- I. Musealisierung
- Das Museum und die Feier: Vom ästhetischen Wert des Objekts zu einem Raum intensivierten Lebens
- I. Musealisierung
- Das ausgestellte Museum
- II. Ausstellung
- Das Kunstwerk im Zeitalter des general intellect
- II. Ausstellung
- Von der Kritik der Institutionen zur Institutionalisierung der Kritik
- II. Ausstellung
- Zehn Thesen zur Globalisierung der Kunst anhand der „Biennalen des Widerstands“
- II. Ausstellung
- Ausstellungsverwertung – Kunst zwischen Konserve und Kapital
- II. Ausstellung
- Die Jacke und die Tanten
- III. Zeit und Grenzen des Ausstellens
- Der Kultwert des Ausstellungswertes und die Zeitlichkeit musealer Gegenstände
- III. Zeit und Grenzen des Ausstellens
- Über Ausstellungszeit
- III. Zeit und Grenzen des Ausstellens
- Bliz-aard Ball Sale: David Hammons und die Grenzen der Ausstellung
- III. Zeit und Grenzen des Ausstellens
- Autorinnen und Autoren
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- Einleitung: Ausstellungswert und Musealisierung
- I. Musealisierung
- Die Wahrheit der Kunst
- I. Musealisierung
- Der Lieferant
- I. Musealisierung
- Heterotopie des Museums
- I. Musealisierung
- Das Museum und die Feier: Vom ästhetischen Wert des Objekts zu einem Raum intensivierten Lebens
- I. Musealisierung
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- II. Ausstellung
- Das Kunstwerk im Zeitalter des general intellect
- II. Ausstellung
- Von der Kritik der Institutionen zur Institutionalisierung der Kritik
- II. Ausstellung
- Zehn Thesen zur Globalisierung der Kunst anhand der „Biennalen des Widerstands“
- II. Ausstellung
- Ausstellungsverwertung – Kunst zwischen Konserve und Kapital
- II. Ausstellung
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- III. Zeit und Grenzen des Ausstellens
- Der Kultwert des Ausstellungswertes und die Zeitlichkeit musealer Gegenstände
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