Abstract
Which Books by Teichmüller Did Nietzsche Have Access to? An Attempt at a Reconstruction. The question of which books by Gustav Teichmüller Nietzsche had available has not been satisfactorily clarified to this day. Drawing on sources not considered so far, including the correspondence between Teichmüller and Franz Overbeck and a list that Teichmüller kept about copies of his writings he had sent to colleagues and friends found in his Nachlass, I conclude that Nietzsche only had four books by Teichmüller at his disposal (apart from the opusculum Ueber die Reihenfolge der platonischen Dialoge). Three of these were loans: Aristotelische Forschungen I from the University Library of Basel in the summer semester of 1870, Die Wirkliche und die scheinbare Welt, from Overbeck between late summer 1882 (at the earliest) and November 1885, and the Neue Studien zur Geschichte der Begriffe III also from Overbeck from October 1883 to November 1885. Only the Aristotelischen Forschungen II seem to have been Nietzsche’s personal property (since 1869). Although it is often assumed that Nietzsche also read other books by Teichmüller – e. g., the Studien zur Geschichte der Begriffe, the Neue Studien zur Geschichte der Begriffe II, and the two volumes of the Literarische Fehden im vierten Jahrhundert v. Chr. – they were most likely not available to Nietzsche.
Die Auseinandersetzung mit Gustav Teichmüller war für die Entwicklung der theoretischen Philosophie Nietzsches bedeutsam.[1] Zudem scheinen Teichmüllers Darstellungen anderer Philosophen Spuren in Nietzsches Schriften hinterlassen zu haben.[2] Bis heute ist aber die für die Erforschung der Teichmüller-Rezeption Nietzsches grundlegende Frage, welche Bücher Teichmüllers Nietzsche vorlagen, nicht befriedigend geklärt.
In Nietzsches persönlicher Bibliothek findet sich als einzige Schrift Teichmüllers nur ein ungebundenes Exemplar der lediglich 19 Seiten Text umfassenden Abhandlung Ueber die Reihenfolge der platonischen Dialoge (1879).[3] Deshalb gehe ich davon aus, dass Nietzsche Exemplare von Teichmüllers Büchern nur leihweise zur Verfügung hatte, sofern keine entgegenstehende Evidenz vorliegt.
Teichmüller selbst hatte Nietzsche ausweislich seines Verzeichnisses Versendung der verschiedenen Schriften an Gelehrte und Freunde,[4] das er seit dem 1873 erschienenen dritten Band der Aristotelischen Forschungen[5] führte, nur seine Rezension von Ingram Bywaters Edition der Fragmente Heraklits zugeschickt.[6] Ein Grund, warum Teichmüller diesen Beitrag Nietzsche zukommen ließ, könnte darin liegen, dass er ihn darin (in einem Bywater-Zitat) namentlich erwähnt.[7] Die Tatsache, dass Teichmüller Nietzsche überhaupt nur diesen philologischen Beitrag zusandte, wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass er Nietzsche vor allem als Philologen sah, wie dies aus seinem Brief an seinen Nachfolger in Basel, Rudolf Eucken, vom 25. Januar 1874 hervorgeht:
Nietzscheʼs „Unzeitg. G.“ [sic] habe ich noch nicht in die Hände bekommen, da die Postverbindungen mit Deutschland sehr schwerfällig sind; doch habe ich ein Vorurtheil gegen seine philosophischen Versuche, weil ich die Gränzen seiner Begabung sehr wohl kenne u. den geistreichen Mann lieber auf dem Gebiete der Philologie fruchtbar sähe, wo der Geist grade nicht zu üppig wuchert.[8]
Nietzsches Name steht in der Versendung auch auf der Liste der Empfänger der philologisch ausgerichteten Ueber die Reihenfolge der platonischen Dialoge, ist aber durchgestrichen.
Ueber die Reihenfolge der platonischen Dialoge war Nietzsche vielmehr von Overbeck zugeschickt worden. Das geht aus dessen Brief an Nietzsche vom 2. August 1879 hervor (Nr. 1217, KGB II 6/2.1143). Overbeck sandte Nietzsche auch weitere Bücher Teichmüllers zu. Bislang ist es aber ungeklärt, wie viele und welche es waren. Für die Beantwortung dieser beiden Fragen wäre es gut zu wissen, wie Overbeck in den Besitz seiner Teichmüller-Bände kam. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass er sie alle von Teichmüller selbst erhielt. Teichmüller sandte ihm ausweislich der Versendung neben Ueber die Reihenfolge der platonischen Dialoge das 470 Seiten starke dritte „Heft“ der Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe von 1879,[9] den ersten und zweiten Band der Literarischen Fehden im vierten Jahrhundert v. Chr. (1881 und 1884),[10] Die wirkliche und die scheinbare Welt (1882)[11] sowie seine Selbstanzeige der Reihenfolge der platonischen Dialoge,[12] seine Rezension von Felice Toccos Ricerche Platoniche[13] und seine Erwiderung auf eine Rezension des ersten Bandes der Literarischen Fehden[14] zu. Overbeck schickte Teichmüller am 1. August 1881 einen Dankesbrief nach der „schon vor Monaten erfolgte[n] Übersendung“ der Literarischen Fehden I.[15] Overbeck schrieb weiter: „Es ist ja nicht die erste Sendung der Art, mit der Sie mich erfreut und zu Dank verpflichtet haben. […] Von Ihren Zusendungen kann ich nachgerade förmlich eine Geschichte erzählen.“ Sie hätten mit der „Parusie“ begonnen, also mit dem dritten Band der Aristotelischen Forschungen, der den Titel Geschichte des Begriffs der Parusie trägt. Er hätte von dem Buch „gleich Kenntnis“ genommen. Es habe ihn aber, „offen gestanden, damals keineswegs“ überzeugt. Overbeck nennt dann weiter die „höchst ansprechende Wegweisung über die Reihenfolge der platon. Dialoge“ sowie die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III. In letzteren habe er „eine Reihe von Erörterungen“ gefunden, die ihn „für die Geschichte des Christlichen Platonismus auf’s Höchste interessieren.“[16] Teichmüller schrieb am 18. August 1881[17] zurück, dass Overbeck wohl seine „größte Arbeit“, die Studien zur Geschichte der Begriffe (1874),[18] nicht kenne. Das Werk berühre auch viele Fragen des „christlichen Platonismus“. Er werde Overbeck das Buch „mit Vergnügen“ zusenden lassen, wenn dieser es noch nicht besitze. Overbeck reagierte darauf anscheinend nicht. In seinem Brief vom 1. August 1881 gibt er dann noch, mit Lob und Kritik, seine Eindrücke aus der Lektüre des ersten Abschnitts der Literarischen Fehden I[19] wieder. Er habe sich den folgenden Abschnitt über die Fehde zwischen Platon und Aristoteles[20] als „Ferienlektüre“ vorgenommen.
Die einzige hier bedeutsame Diskrepanz zwischen der Versendung und dem Briefwechsel Overbeck–Teichmüller vom August 1881 besteht darin, dass Overbeck den Empfang der Aristotelischen Forschungen III verdankt, obwohl er in der Versendung nicht als Empfänger verzeichnet ist. Der Irrtum liegt hier aber aller Wahrscheinlichkeit nach bei Teichmüller. Die Versendung beginnt mit den Aristotelischen Forschungen III, und Teichmüller scheint deren Empfänger überwiegend im Rückblick zu rekonstruieren. Das betreffende Register in der Versendung ist überschrieben: „Verzeichnis der Personen, welche die Parusie von mir empfingen“ (Hervorhebung Verf.). Zu Teichmüllers Brief vom 3. Dezember 1872 an den Verleger des Buches, Emil Barthel,[21] gibt es als Beilage ein Verzeichnis der Personen, denen die Parusie durch den Verleger als vom Autor überreicht zugeschickt wird. Darin wird Overbeck als Empfänger genannt. Der Druck des Bandes war aber von Verzögerung, Verwirrung und Ärger begleitet,[22] wodurch Teichmüller (zumindest zeitweise) zur Überzeugung kam, dass Barthel nicht die gewünschten Versendungen des Buches ausgeführt hatte.[23] Teichmüller zeigt sich im Brief an Overbeck vom 18. August 1881 jedenfalls nicht überrascht, dass dieser sich für die Zusendung der Aristotelischen Forschungen III bedankt, sondern geht in seiner Antwort ohne Umschweife auf dessen Kritik am Buch ein.
Ich halte es somit für gesichert, dass Overbeck von Teichmüller an Büchern (neben der kaum als Buch zu zählenden Reihenfolge der platonischen Dialoge) die Aristotelischen Forschungen III, die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III, die Literarischen Fehden I und II sowie die Wirkliche und scheinbare Welt erhielt, auch wenn die Kataloge der Overbeck’schen Bibliothek die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III nicht ausweisen.[24] Es ist nicht anzunehmen, dass Overbeck weitere Bücher Teichmüllers erwarb. Sein überfälliger Dankesbrief nach insgesamt sechs Zusendungen im Verlauf von acht Jahren zeugt trotz lobender Worte eher von Höflichkeit als von nachhaltigem Interesse. Teichmüller hatte ihm, wie erwähnt, die Zusendung der Studien zur Geschichte der Begriffe angeboten, und wenn Overbeck diesen von der Thematik für ihn wohl durchaus interessanten Band noch nicht einmal geschenkt haben wollte, warum hätte er sich dann weitere Bücher Teichmüllers kaufen sollen?
Ich halte es zudem für wahrscheinlich, dass Nietzsche nur von Overbeck Bücher Teichmüllers zugeschickt bekam. Overbeck war einer der engsten Freunde Nietzsches und sandte diesem nach dessen Weggang aus Basel im Jahr 1879 regelmäßig Geld und Bücher. Teichmüller verschickte zwar laut der Versendung auch Exemplare von zweien seiner Werke an andere Freunde Nietzsches, nämlich die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe I (1876)[25] an Heinrich Romundt und die Literarischen Fehden II an Erich Rohde. Doch gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie Nietzsche diese Bücher zusandten. Rohde hatte sich zum Zeitpunkt des Erscheinens der Literarischen Fehden II bereits Nietzsche entfremdet.
Overbeck war nicht die einzige Quelle Nietzsches für eine Leihe von Teichmüllers Büchern. Bis zu seinem Weggang aus Basel 1879 konnte Nietzsche sie sich aus der Basler Universitätsbibliothek besorgen. Am 12. Mai 1870 lieh er dort den ersten Band der Aristotelischen Forschungen (1867) aus.[26] Eine Rezeption wurde allerdings bis jetzt nicht nachgewiesen. Die Ausleihe eines anderen Werkes von Teichmüller aus der Universitätsbibliothek Basel durch Nietzsche ist nicht verzeichnet.
Völlig im Dunkeln liegt bisher, wie der zweite Band der Aristotelischen Forschungen von 1869, dessen Titel Aristoteles Philosophie der Kunst lautet,[27] in Nietzsches Hände gelangt ist. Zu ihnen wurden bisher zwei Notate vom Herbst 1869 nachgewiesen;[28] mir ist noch ein weiteres aus dieser Zeit aufgefallen.[29] Aus der Basler Universitätsbibliothek hatte Nietzsche sein Exemplar nicht, von Overbeck ebenfalls nicht, denn sie lernten sich erst 1870 kennen. Es ist denkbar, dass Nietzsche das Buch käuflich erwarb. Da aber Teichmüller und Nietzsche im Herbst 1869 beide Mitglieder der Philosophisch-Historischen Abteilung der Philosophischen Fakultät Basel waren, ist es wahrscheinlicher, dass Teichmüller dem kunstsinnigen jungen Kollegen ein Exemplar überreichte. Dass Teichmüller seine Werke großzügig verschenkte, belegt die Versendung. Es gibt meines Wissens zwar keine direkten Belege dafür, dass es einen fachlichen Kontakt zwischen Nietzsche und Teichmüller gab. Dafür spricht aber nicht nur der Umstand, dass sie Kollegen mit sich überschneidenden Interessen waren, sondern auch Teichmüllers Bemerkung gegenüber Eucken, er würde (in Hinsicht auf die Philosophie) die „Grenzen“ der „Begabung“ Nietzsches „sehr wohl“ kennen, ein Urteil, dass er nach meiner Einschätzung nicht ohne einen näheren fachlichen Umgang mit Nietzsche ausgesprochen haben wird.[30] Gegen beide Hypothesen kann man zwar einwenden, dass das Buch nicht in Nietzsches persönlicher Bibliothek vorhanden ist. Ein dauerhafter Besitz der Aristotelischen Forschungen II ist aber dennoch wahrscheinlich, weil Nietzsche 1884, also 15 Jahre nach der ersten Lektüre, recht unvermittelt zwei (unmittelbar aufeinander folgende) Notate zu diesem Buch niederschrieb.[31] Dies geschah wohl zu der Zeit, als er gerade die Wirkliche und scheinbare Welt und die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III vorliegen hatte. Es scheint fast, als habe Nietzsche sein Exemplar der Aristotelischen Forschungen II, angeregt durch seine aktuelle Teichmüller-Lektüre, kurz wieder hervorgeholt. Ein zusätzliches schwaches Indiz für den Besitz der Aristotelischen Forschungen II ist Nietzsches Postkarte vom 12. November 1885 an Overbeck (Nr. 645, KSB 7.109). Dort stößt man auf die Wendung „Deine zwei Teichmüller“. Man könnte im „Deine“ mitschwingen hören, dass es auch ein „mein Teichmüller“ gab, dass Nietzsche also selbst mindestens ein Buch von Teichmüller besaß.
Insgesamt halte ich es angesichts der beschriebenen Quellenlage für am wahrscheinlichsten, dass Bücher, die Teichmüller nach seinem Weggang aus Basel im Frühjahr 1871 verfasste, nur über Overbeck an Nietzsche kamen, und zwar nur solche, die Overbeck von Teichmüller zugesandt bekommen hatte. Das schlösse beispielsweise die verschiedentlich behauptete Lektüre der Studien zur Geschichte der Begriffe durch Nietzsche aus.[32] Weiter schlage ich die Hypothese vor, dass Nietzsche von Overbeck genau zwei Bücher erhielt, wenn man das ungebundene Opusculum Ueber die Reihenfolge der platonischen Dialoge nicht als Buch zählt. Dafür spricht erstens der erwähnte Brief Nietzsches an Overbeck vom 12. November 1885: „Deine zwei Teichmüller liegen vor mir und folgen demnächst.“[33] Zweitens liegen auch nur zu zwei Werken Teichmüllers außer den schon vor Overbecks Ankunft in Basel rezipierten Aristotelischen Forschungen II eindeutige Nachweise für Nietzsches Lektüre vor, nämlich zur Wirklichen und scheinbaren Welt und zu den Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III.
Ich vermute, dass es diese und nur diese beiden Bücher waren, die Nietzsche von Overbeck erhielt. Am 27. Oktober 1883 schrieb er an Overbeck: „Teichmüller II ist eingetroffen.“ (Nr. 470, KSB 6.449). Ich schlage die Hypothese vor, dass „Teichmüller II“ das – in zeitlicher Reihenfolge gesehen – zweite Buch Teichmüllers bezeichnet, das Nietzsche von Overbeck erhielt. Bei „Teichmüller II“ wird es sich aber nicht um die Wirkliche und scheinbare Welt handeln, da Nietzsche bereits vorher Notate zu diesem Werk verfasste. Nietzsche hatte zuvor, am 22. Oktober 1883, an Overbeck geschrieben: „[B]eim Lesen Teichmüllers bin ich immer mehr starr vor Verwunderung, wie wenig ich Plato kenne und wie sehr Zarathustra πλατωνίζει“ (Nr. 469, KSB 6.449). Nach den vorstehenden Überlegungen kann sich das nur auf die Wirkliche und scheinbare Welt beziehen.[34] Nietzsches Postkarte erreichte Basel ausweislich eines der drei Poststempel bereits am 23. Oktober 1883.[35] Die Post lief also nur einen Tag von Genua bis nach Basel. Overbeck, der sich bei Nietzsches Karte an Teichmüllers heterodoxe Deutung der platonischen Philosophie in den Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III erinnert haben wird, versorgte seinen Freund wohl deshalb postwendend mit diesem Band, dessen Ankunft am 27. Oktober 1883 von Nietzsche gemeldet wurde. Vor diesem Datum sind meines Wissens keine Spuren einer Lektüre dieses Werkes in Nietzsches Schriften nachweisbar.[36]
Eine alternative Lesart von „Teichmüller II“ ist, dass damit ein zweiter Band eines mehrbändigen Werkes Teichmüllers gemeint ist, also der zweite Band der Aristotelischen Forschungen, der Neuen Studien zu Geschichte der Begriffe oder der Literarischen Fehden. Die Aristotelischen Forschungen II enthalten jedoch keine Darstellung der Platon-Interpretation Teichmüllers. Wenn man davon ausgeht, dass „Teichmüller II“ von Overbeck als Reaktion auf Nietzsches Karte vom 22. Oktober 1883 verschickt wurde, wäre es rätselhaft, warum dabei die Wahl auf Aristoteles Philosophie der Kunst fiel. Das Buch befand sich ohnehin nach den verfügbaren Quellen nicht in Overbecks Besitz. KGB III 7/1.433 (Nachbericht) identifiziert „Teichmüller II“ mit dem zweiten Band der Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe, wogegen dieselben Einwände sprechen. Andreas Urs Sommer vermutet, „Teichmüller II“ beziehe sich auf den zweiten Band der Literarischen Fehden, der nach seiner Ansicht „vermutlich schon im Herbst 1883 erhältlich war“.[37] Doch erschienen die Literarischen Fehden II erst ein Jahr später. Das Vorwort ist auf Juli 1884 datiert, im Inhaltsverzeichnis findet sich eine in den Fahnen eingefügte Anmerkung vom 11. September 1884. Erschienen ist der Band wohl frühestens Ende Oktober 1884.[38] Elisabeth Flucher gibt an, „Teichmüller II“ beziehe sich auf das zweite Buch der Wirklichen und scheinbaren Welt.[39] Dieses Werk erschien jedoch in einem Band. Mit „Buch“ werden darin die beiden Hauptteile bezeichnet. Außerdem bezieht sich Nietzsche schon im Frühjahr bis Sommer 1883, also vor dem Erhalt von „Teichmüller II“, mit Namensnennung und Seitenangabe auf das zweite „Buch“ der Wirklichen und scheinbaren Welt.[40] Es kommt also kein zweiter Band eines mehrbändigen Werks von Teichmüller ernsthaft als „Teichmüller II“ infrage.
Wenn „Teichmüller II“ ein anderes Werk als die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III bezeichnen würde, so würde das außerdem die Zahl der von Overbeck an Nietzsche gesendeten Bücher Teichmüllers auf drei erhöhen, denn in Bezug auf die Wirkliche und scheinbare Welt und die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III ist es kaum vorstellbar, dass sie auf einem anderen Wege als über Overbeck an Nietzsche gelangt sind, weil Teichmüller sie anscheinend keinem anderen Freund Nietzsches zugesandt hatte. Dies würde aber nicht zur Meldung „Deine zwei Teichmüller“ passen.[41] Das spricht gegen eine Identifizierung der Literarischen Fehden I mit „Teichmüller II“, die Thomas Brobjer anscheinend erwägt.[42] Zudem konnten bisher keine eindeutigen Bezugnahmen auf die Literarischen Fehden I in Nietzsches Schriften nachgewiesen wurden. Deshalb bleibt die These, es handele sich bei „Teichmüller II“ um die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III, die plausibelste.[43]
Damit ist auch der Zeitraum recht sicher bestimmbar, in dem Overbecks „zwei Teichmüller“ Nietzsche zur Verfügung standen. Die Wirkliche und scheinbare Welt erschien nicht viel früher als Mitte August 1882.[44] Nietzsche kann sie also kaum vor der zweiten Augusthälfte 1882 von Overbeck erhalten haben. Erste Notate wurden für die Zeit November 1882–Februar 1883 nachgewiesen.[45] Die Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe III erhielt Nietzsche nach meiner Rekonstruktion am oder unmittelbar vor dem 27. Oktober 1883. Beide Bände bereitete Nietzsche am 12. November 1885 für die Rücksendung an Overbeck vor;[46] meines Wissens deutet nichts darauf hin, dass er sie nicht auch abgeschickt hat.
Zu den vier Teichmüller-Bänden, die Nietzsche nach meiner Vermutung persönlich vorlagen, gesellt sich noch der indirekte Kontakt mit Darwinismus und Philosophie (1877),[47] die 90-seitige Schriftfassung eines Vortrags von Teichmüller, durch die ausführliche Rezension von Otto Caspari,[48] in der einige prägnante Teichmüller-Zitate geboten werden. Nietzsche las die Rezension nachweislich im Herbst 1881 und kam dadurch erstmals mit dem Perspektivismus Teichmüllers in Berührung.[49]
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Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Abhandlungen
- Im „Wirbel des Seins“. Die Geburt der Geburt der Tragödie aus dem Geiste Friedrich Hebbels
- Nietzsche’s Heraclitus: Historical Figure and Personal-Philosophical Archetype
- Quid est veritas? Skeptische Implikationen von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
- „Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden“. Der Leib als Entstehungsort der Sprache
- Antinaturalistische Strategien in Jenseits von Gut und Böse
- Hegel and Nietzsche on Self-Judgment, Self-Mastery, and the Right to One’s Life
- Affektivität und Hermeneutik der Macht. Ein Kommentar zum Aphorismus 13 der Fröhlichen Wissenschaft
- Nietzsches ästhetischer Umgang mit dem Politischen. Ein Versuch zu JGB VIII
- Love-Hate and War: Perfectionism and Self-Overcoming in Thus Spoke Zarathustra
- Novalis und Nietzsche. Analogien und Differenzen zweier Dichter-Denker
- Abhandlung zur Rezeptionsforschung
- Die Nietzsche-Rezeption in der deutsch-jüdischen Presse von 1892 bis 1918
- Diskussion
- Derrida hat Nietzsches Regenschirm verloren. Zu Philipp Felschs Buch Wie Nietzsche aus der Kälte kam
- Miszellen
- Die Glocken von Sewastopol. Zur ersten musikalischen Komposition Nietzsches
- Abhandlungen zur Quellenforschung
- On Liberty as a (Re-)Source for Nietzsche: Tracing John Stuart Mill in On the Genealogy of Morality
- Welche Bücher Teichmüllers lagen Nietzsche vor? Versuch einer Rekonstruktion
- Nachweis zur Quellenforschung
- NACHWEIS AUS ALFONS BILHARZ, DER HELIOCENTRISCHE STANDPUNCT DER WELTBETRACHTUNG (1879)
- Rezensionen
- Heidegger’s Nietzsche, and the Finite Repetition of Difference
- Nietzsche on Conflict and Agon
- Nietzsche und der lange Flug des „guten Europäers“
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