Home Nietzsche und der lange Flug des „guten Europäers“
Article Open Access

Nietzsche und der lange Flug des „guten Europäers“

  • Susanna Zellini EMAIL logo
Published/Copyright: August 23, 2023

Abstract

Nietzsche and the Long Flight of the “Good European”. The question of “the good European,” as Nietzsche conceives it, refers to a complex process of cultural transformation that starts from the critical relationship toward the European Christian heritage. The three volumes discussed in this review single out three different aspects of this cultural process: a “new Enlightenment,” which refers to the gradual liberation from the European tradition “in search of good Europeans” (Crescenzi / Gentili / Venturelli 2017), the early twentieth-century debate around “European identity” (Crescenzi / Gentili / Venturelli 2018), in which the good European takes on a precise role, and contemporary Europe and the current relevance of the good European (Brusotti / McNeal / Schubert / Siemens 2020). This review discusses and reflects critically on these three volumes, examining how they contribute to contemporary debates about Nietzsche and the question of a European culture.

  1. Luca Crescenzi / Carlo Gentili / Aldo Venturelli, Alla ricerca dei „buoni europei“. Riflessioni su Nietzsche. Bologna: Pendragon 2017, 140 S., ISBN 978-8865988312.

  2. Luca Crescenzi / Carlo Gentili / Aldo Venturelli (Hg.), Letteratura e identità europea. Per una storia dei ‚buoni europei‘. Rom: Istituto Italiano di Studi Germanici 2018, 264 S., ISBN 978-8895868318.

  3. Marco Brusotti / Michael McNeal / Corinna Schubert / Herman Siemens (Hg.), European / Supra-European. Cultural Encounters in Nietzsche’s Philosophy. Berlin / Boston: De Gruyter 2020, 384 S., ISBN 978-3110605044.

Obwohl die Frage nach dem „guten Europäer“ in der langen Geschichte der Nietzsche-Rezeption mit einer gewissen Konstanz auftaucht, mangelt es an Monografien zu diesem Thema. In diesem Zusammenhang ist das Erscheinen von drei Sammelbänden zum guten Europäer bei Nietzsche in den letzten Jahren von Bedeutung: Sie haben die Aufmerksamkeit wieder auf ein Thema gelenkt, das in der Vergangenheit vor allem mit dem „politischen Nietzsche“ und seinen kontroversen Interpretationen in Verbindung gebracht wurde und das heute – in einer bezogen auf den europäischen Aufbauprozess so komplexen Zeit – stattdessen als kulturelles und pädagogisches, sogar als stilistisches und musikalisches Projekt wiederentdeckt wird. Die kollektive Gestaltung dieser Bände ermöglicht es, die vielfältigen Implikationen des Projekts angemessen zu thematisieren: Was bedeutet der gute Europäer? Gibt es bei Nietzsche philosophische Ansätze zum guten Europäer, die über die für sein Werk grundlegende Hinterfragung der europäischen Kultur und Tradition hinausgehen? Wer ist der gute Europäer: ein konkreter, aktueller Menschentyp oder ein zukünftiges Idealmodell? Wie hat sich diese Reflexion auf das europäische Projekt ausgewirkt?

1. Der Band Alla ricerca dei „buoni europei“. Riflessioni su Nietzsche (2017) hält – wie der Titel schon anzudeuten scheint – diese Fragen bewusst offen. Es geht nicht darum zu definieren, wer der gute Europäer ist, sondern darum, diese Frage in eine Methode zu verwandeln: eine „neue Aufklärung“ (12), wie es in der Einleitung heißt, die mit einem Vergleich zwischen der deutschen und der französischen Kultur beginnt, und die tiefgreifende Wende, die sich abzeichnet, die Experimente und die Gefahren, die sie eröffnet, andeutet. Unter diesem Gesichtspunkt bietet das Buch keine Definition des guten Europäers, im Gegenteil ist es sicherlich sein Verdienst, dass es diese konsequent ignoriert. Es zeigt, dass sich die Frage nach dem guten Europäer nicht auf einen bestimmten Moment in Nietzsches Denken eingrenzen lässt, sondern vielmehr die Instanzen und möglichen Konsequenzen eines langen Prozesses der geistigen Befreiung von der christlich-europäischen Tradition zusammenfasst.

Die Arbeit an einem Thema, das sich nicht klar eingrenzen lässt, ist besonders schwierig. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel für eine Analyse, die es versteht, präzise zu sein und dennoch den vielfältigen Richtungen, in die sich das Thema verzweigt, zu folgen – und auch den subtilen Verästelungen von Nietzsches Denken nachzugehen, die nur durch eine genaue Analyse des Nachlasses sichtbar werden.

Der Eröffnungsaufsatz von Aldo Venturelli (bereits 2010 in den Nietzsche-Studien veröffentlicht) ist diesbezüglich eines der besten Beispiele. Seine sorgfältige philologische Analyse von FW 377 zeigt, dass der Text „Höhepunkt und Abschluss“ (19) einer Reflexion ist, die auf den Gai Saber der provenzalischen Dichter und die italienische Renaissance zurückgeht. Venturelli nimmt dabei Fäden der soliden Forschungstradition von Giuliano Campioni[1] auf und untersucht ihren Einfluss auf den guten Europäer. Venturellis Beitrag ist beispielhaft für einen klugen Umgang mit Quellen. Sein Verdienst besteht insbesondere darin, dass er die Tradition nicht nur rekonstruiert, sondern versucht, ihre Funktion in der Metamorphose des guten Europäers zu verstehen. Unverkennbar zeichnet Venturelli einen langen Weg der Befreiung nach, der den guten Europäer sowohl durch seine Beziehung zur Tradition als auch durch seine Fähigkeit, sie in eine „zukünftige Philosophie“ zu integrieren, auszeichnet. Der gute Europäer ist also sowohl Erbe als auch Vorläufer, modern und unzeitgemäß, Beobachter und Interpret, nicht mehr europäisch und noch nicht über-europäisch, eine Übergangsfigur, die – im Gegensatz zu den Figuren des Schattens oder des Wanderers, mit denen sie gleichgesetzt wird – ihr Ziel genau kennt (27). Diese Überlegung führt zu einer These, die als Schlüssel zur Lektüre nicht nur dieses Beitrags, sondern des gesamten Bandes verstanden werden kann: Der Befreiungsprozess, den der gute Europäer einleitet, hat eine doppelte Bedeutung. Er ist nicht nur Befreiung von einer Tradition – von Nietzsche als „große Loslösung“ bezeichnet –, sondern zugleich die Übung einer „reifere[n] Freiheit“ und „große[n] Gesundheit“: das Experimentieren mit einer neuen Synthese (31). Der Beitrag bietet nicht den Raum, sich mit den vielen Implikationen und Konnotationen dieser „zweiten Befreiung“ zu befassen („unpolitisch“: eine Anmerkung, die Aufmerksamkeit verdient), aber – und das dürfte die schwierigere Aufgabe sein – er zeigt die Komplexität ihrer Verflechtungen auf, wobei die folgenden Beiträge eine Reihe von Spuren (oder erste Antworten) bieten.

Der Beitrag Griechische Gelassenheit und Dekadenz. Sokrates, Bizet und die guten Europäer von Luca Crescenzi enthält eine der originellsten Antworten. Die Überlegungen, die er zum Thema Dekadenz anstellt, erlauben es, den Prozess der Befreiung von der Dekadenz – die „Aufgabe“ des guten Europäers – genauer zu definieren: Es handelt sich nicht um eine Überwindung, die aus den alten Modellen eine tabula rasa macht, sondern vielmehr um „eine neue Art, sie zu betrachten“, nicht um ihre Negation, sondern um die Fähigkeit zur Reaktion (54). Die Befreiung des guten Europäers – so die These von Crescenzi – betrifft also die Art der Reaktion und nicht deren Ergebnis. Diese These ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil sie im Einklang mit Venturellis Beitrag den Fokus des Diskurses um den guten Europäer von einem Zukunftshorizont auf eine Vergangenheit und Gegenwart im Niedergang verschiebt, an der man sich messen lassen muss, sondern auch, weil sie nahelegt, dass, um den guten Europäer zu verstehen, zunächst die „Figuren der Dekadenz“ – Sokrates und Wagner – und ihre Metamorphosen in Nietzsches Denken verstanden werden müssen.

Diese Bemerkung wirft zwei interessante Fragen auf. Die erste – vielleicht offensichtliche, aber nicht unbedeutende – lautet, dass Wagner, der die Dekadenz verkörpert, als notwendiger Antagonist verstanden werden muss, um eine Reaktion reifen zu lassen – und dies erklärt ein nie erlahmendes Interesse Nietzsches: Der Philosoph braucht die décadence, um sich ihr entgegenzustellen (56). Noch interessanter ist die erneute Lektüre von Sokrates beim späten Nietzsche. In der Götzen-Dämmerung (1889), so Crescenzi, erscheint die Betrachtung von Sokrates im Vergleich zur Geburt der Tragödie (1872) umgekehrt. Er ist nicht länger ein Gegner, sondern vielmehr „ein Verbündeter“ (53). Mit Nietzsche teilt er den Willen, auf die décadence zu reagieren, einen Weg der kritischen und selbstkritischen Befreiung einzuschlagen (auch wenn das Ergebnis unterschiedlich ist), so dass Nietzsche für Sokrates fast die Sympathie hegt, die Dante für jenen Odysseus verspürt, den er in der Göttlichen Komödie verurteilt. Crescenzis Hinweis ist bedeutsam: Um auf den Niedergang der eigenen Zeit zu reagieren, muss Wagner verstanden werden, und um die Wege der Reaktion zu verstehen, muss Sokrates gefolgt werden. Das ist der Weg, der zu Bizet führt, zu jener musikalischen Ästhetik der „Heiterkeit“, die die guten Europäer zu einer „zweiten Synthese“ zwischen Nord und Süd inspiriert – die erste, die tragische, hatte bereits „der musiktreibende Sokrates“ erahnt (63).

Karl Löwith sei ein Beispiel für jemand, der diesen Weg eingeschlagen, aber seine Bedeutung missverstanden habe. Dies zeichnet Carlo Gentili in seinem Beitrag (zuvor bereits auf Deutsch erschienen) nach.[2] In seinem Text über den europäischen Nihilismus (1939) greift Löwith zwar Nietzsches Überlegungen zu Europa auf, führt sie aber ausschließlich auf den Begriff des „aktiven Nihilismus“ zurück. Dieser sei, so Löwith, geschichtlich gescheitert: Aus der geschichtsphilosophischen Perspektive (Hegel’scher Herkunft), durch die er Nietzsche neu liest, hat der aktive Nihilismus nämlich zu einer „noch stärkeren Verfestigung des Nihilismus selbst“ geführt, die historisch mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus zusammenfällt (71). Mit anderen Worten: Nietzsche sei ein Vorläufer dessen, was nach ihm geschah.

Gentilis Analyse hilft zu verstehen, dass auch die Reflexion über Europa nicht gegen solche Ambivalenzen immun war, die die problematische Nietzsche-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert kennzeichneten. Es überrascht nicht, dass dies auch im Falle Löwiths auf eine partielle Lektüre zurückzuführen ist: Gentili stellt zu Recht fest, dass Löwith die andere Idee von Europa, die Nietzsches Schriften durchzieht, nämlich die des guten Europäers, des Heimatlosen, überhaupt nicht berücksichtigt hat – obwohl das Thema der Heimatlosigkeit seine Reflexion zur Entwurzelung des modernen Menschen, insbesondere der Juden, durchzieht. Warum aber scheint Löwith in seinen Überlegungen zum europäischen Nihilismus das Thema des guten Europäers zu ignorieren? Gentili schlägt eine interessante Antwort vor, die viel über Nietzsches Exegese und die Interpretation des guten Europäers zu Beginn des 20. Jahrhunderts aussagt: Als deutscher Jude im japanischen Exil erkannte Löwith in dem heimatlosen guten Europäer eher einen persönlichen Zustand, den er mit Nietzsche teilte – eine existenzielle Klage, kein kulturelles (oder politisches) Modell.

Die ersten drei Beiträge von Venturelli, Crescenzi und Gentili lassen sich als separater erster Teil lesen, insofern sie Hinweise auf die korrekte Richtung der Suche nach den guten Europäern geben. Diesem Ansatz folgend bilden die drei weiteren Beiträge derselben Autoren den zweiten Teil des Bandes, der sich noch gewagter präsentiert als der erste: Er versucht zu klären, auf welche Weise und in welchen Formen sich das Thema des guten Europäers bei Nietzsche entwickelt. Ihr gemeinsamer Leseschlüssel ist derjenige, der in Venturellis Eröffnungsaufsatz vorweggenommen wird: jene doppelte Befreiung, die sich einerseits als kritische Befreiung von der christlich-europäischen Tradition und andererseits durch diese hindurch als „neue Synthese“ dekliniert.

Die Beiträge korrespondieren darin, diese beiden Momente (oder Dimensionen) in der besonderen Kombination von Philosophie und Poesie zu identifizieren, die die Reflexion und Komposition der späten Texte Nietzsches bestimmt. Dabei werden drei unterschiedliche, aber eng miteinander verbundene Textbezüge berücksichtigt. Um ihre Kontinuität zu erfassen, wäre eine chronologische Lesart – anders als im Band vorgeschlagen – angemessener. Ausgehend vom neunten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse (1886), Gegenstand des letzten Beitrags des Bandes, hebt Venturelli zwei Merkmale der von Nietzsche skizzierten intellektuellen Aristokratie hervor. Diese nehmen Züge des guten Europäers im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft (1887) vorweg. Es handelt sich dabei um eine gewisse kritische Härte und ein Gefühl der Liebe, das auf den Gai Saber der provenzalischen Dichter verweist. Die Härte deutet hin auf „die anstrengende intellektuelle Übung“, die es ermöglicht, sich dem Nihilismus zu widersetzen (132). Gleichzeitig bereitet sie eine „neue sentimentale Energie“ vor (sichtbar in der bedeutungsvollen Wiederkehr des Dionysos in JGB 295), die für Nietzsche einen Prozess der „Überwindung“ und „Selbstüberwindung“ hervorbringen kann (139). Diese doppelte Bedeutung des Aristokratischen eröffnet neue Fragen, die die enge Verbindung zwischen Jenseits von Gut und Böse und der Fröhlichen Wissenschaft erhellen können: Nimmt der aristokratische Geist das vorweg, was der gute Europäer zur Vollendung bringt?

Das von Venturelli analysierte Begriffspaar Härte / Liebe ist sicherlich mit den bekannteren Begriffen „Besonnenheit“ und „Fröhlichkeit“ verwandt, die der Fröhlichen Wissenschaft Gestalt geben, wie die Analyse von Gentili mit großer Klarheit zeigt. Die wechselseitige Integration zwischen diesen Dimensionen bewirkt eine „Veränderung der Bedeutung von Wissenschaft“ (93). Sie emanzipiert sich von der materialistisch-positivistischen Konzeption der modernen Wissenschaft (und von ihren stillschweigenden metaphysischen Voraussetzungen, ihrem Wahrheitsanspruch) und wird durch eine nicht-logische, poetisch-musikalische Dimension (provenzalischen Ursprungs) ergänzt, die sich von allen metaphysischen Prinzipien distanziert: eine Fröhlichkeit, die – gerade wegen der kritischen Instanz, die sie annimmt – alles andere als leicht ist. Auch wenn das Projekt einer Weisheit durch Fröhlichkeit oder einer fröhlichen Wissenschaft für den Leser nicht neu ist, ist doch die Perspektive Gentilis originell, indem er es auf die Aufgabe des guten Europäers zurückführt. In ihrer oxymoronischen Komposition stellt Die fröhliche Wissenschaft – in Übereinstimmung mit Venturellis einleitender Analyse von FW 377 – den Höhepunkt von Nietzsches Überlegungen zur doppelten Befreiung dar, die der gute Europäer hervorbringt: einerseits eine Emanzipation von den metaphysischen und intellektuellen Hinterlassenschaften der europäischen Kultur, andererseits die Fähigkeit, diese Tradition zu einem neuen Wissen, einer neuen Aufklärung zurückzuführen.

Die Lektüre des Essays ist erhellend, auch wenn das Versprechen, jene Verbindung von Philosophie und Poesie zu untersuchen, durch die die neue Aufklärung verwirklicht werden soll, aufgrund der fehlenden näheren Analyse der Texte der Fröhlichen Wissenschaft nicht ganz eingelöst wird. Die Frage nach der konkreten Realisierung dieser Synthese von Philosophie und Poesie – und insbesondere die spezifische Funktion der poetischen Form im Projekt des guten Europäers – bleibt hier somit noch unbeantwortet.

Vielversprechend ist in dieser Hinsicht Crescenzis Vorschlag, eine Antwort eher in den Idyllen aus Messina (1882–1887) und insbesondere in den Liedern des Prinzen Vogelfrei (1887) zu suchen, die Nietzsche nicht zufällig als Anhang zur zweiten Auflage der Fröhlichen Wissenschaft hinzufügt. In seinem Beitrag La mobile verità delle poesie zeigt er, dass Nietzsches Lieder in ihrer „sentimentalen“ Auseinandersetzung mit dem deutschen Volkslied einen kritischen, entmystifizierenden Charakter gegenüber der Tradition bewahren. Sie sind antithetisch zu dieser „eindeutigen und universell legitimierenden“ Perspektive der epischen Prosa und zu der geordneten und regelmäßigen Welt, die sie darstellt. Vielmehr zeigt der ironisch-parodistische Ton des Liedes ein fragmentiertes, uneinheitliches Bild, das gerade deshalb, weil es keine Totalität legitimiert, eine Entzauberung zum Ausdruck bringt, die zugleich seine kritische Kraft ist. Deshalb ist Dichtung für Nietzsche eine Tätigkeit, die alles andere als anti-philosophisch ist (123). Aber diese kritische Kraft ist nicht der einzige Charakter der Poesie, den Crescenzi hervorhebt. Nach der „ersten Befreiung von der Moral, von der Vernunft“ vollzieht der Prinz Vogelfrei eine „zweite Verwandlung“ (113). Seine Flucht führt ihn nicht nur weg von Europa, sondern auch – gerade durch die gewonnene Distanz – hin zu einer „europäischeren“ Dimension, übereuropäisch, südlich und östlich: eine progressive Erweiterung jenes „Griechischen“, das die erste große Synthese war.

Europäisch / übereuropäisch ist somit das letzte einer Reihe von Begriffspaaren – Härte / Liebe, Besonnenheit / Fröhlichkeit –, anhand derer sich die Analyse im zweiten Teil dieses Bandes entfaltet. Jeder dieser Begriffe verweist auf die Eroberung einer neuen Dimension durch die Kritik und die Umkehrung dessen, was ihr vorausgeht, und markiert somit die Momente eines langen Fluges zu einer neuen „kritischen und freien“ Musikphilosophie, deren Richtung dieser brillante Band aufzeigt – auf der Suche nach den guten Europäern.

2. Der Band Letteratura e identità Europea. Per una storia dei ‚buoni europei‘, herausgegeben von Luca Crescenzi, Carlo Gentili und Aldo Venturelli (2018), versammelt die Beiträge einer Tagung, die dem Band Auf der Suche nach den guten Europäern (2017) gewidmet war. Es handelt sich also um die natürliche Fortsetzung dieses Bandes, allerdings nicht linear, sondern durch Erweiterung. Die zwölf Beiträge, aus denen er sich zusammensetzt, stellen ein Symposium dar, das den Kern der Diskussion, die der erste Band eröffnet, beträchtlich amplifiziert. Nietzsches guter Europäer, dem der erste Teil des Bandes gewidmet ist, markiert hier nur den Anfang der Untersuchungen. Er wird selbst Teil der komplexen kulturellen Schichtung, mit der man sich immer wieder auseinandersetzen muss, um neue Hypothesen aufstellen zu können. Dies wirft die Frage auf, welche Bedeutung der gute Europäer in der breiteren Diskussion um das europäische Projekt einnimmt: Inwieweit kann der Rückgriff auf Nietzsche Orientierung in der komplexen Debatte bieten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die mögliche Definition einer europäischen Identität geführt wurde?

Der Band ist ehrgeizig, und obwohl er mitunter von einer klareren Forschungsorientierung und einer tieferen Integration profitieren könnte, bringt die Vielfalt der verschiedenen Themen und Forschungswege, die er bietet, eine bemerkenswerte Lebendigkeit in die Diskussion.

Der Aufsatz von Marco Brusotti geht auf die Komplexität der Synthese des guten Europäers ein. Unter Bezugnahme auf das vierte Buch von Also sprach Zarathustra (1885) zeigt Brusotti auf, dass diese Synthese bei weitem keine einfache „Summe“ oder „Vereinigung“ verschiedener Elemente, ein Europa der Heimatländer (nach Schweizer Vorbild) ist. Vielmehr ist Nietzsches Europa die Dimension der Heimatlosen, der Wanderer, die bereits „übernational“ sind, was einen laufenden Emanzipationsprozess impliziert, der an einer kritischen und supra-europäischen Sichtweise ausgerichtet ist. Diese Prämisse führt zu vielversprechenden Betrachtungen. Die Synthese ist nicht das Ergebnis eines Prozesses, der, sobald er erreicht ist, ein alternatives Modell zur europäischen Tradition definiert. Es ist irreführend, eine vergangene Tradition einer zukünftigen Synthese gegenüberzustellen. Vielmehr handelt es sich um einen schrittweisen Prozess, der sich durch kontinuierliche Emanzipationen, Überwindungen und Synthesen vollzieht. Es gibt also nicht eine Synthese, sondern eine Verkettung von Synthesen unterschiedlichen Grades, Knotenpunkte, an denen sich der Weg des guten Europäers herausbildet. So schlägt Brusotti vor, „östlich“ als eine Intensivierung zu interpretieren, einen höheren Grad als „südlich“, und ebenso den Schatten als einen niedrigeren Grad als Zarathustra, der als „Osteuropäer“ oder „beste[r] Europäer“ bezeichnet wird (36).

Diese von Brusotti eingeführte „Gradualität der Synthese“ eröffnet interessante Perspektiven, die jedoch in den anderen Beiträgen nicht immer aufgegriffen werden. Eine Ausnahme ist Luca Crescenzi, der scharfsinnig zwischen dem Übermenschen, dem freien Geist und dem guten Europäer als drei verschiedenen Graden des komplexen Befreiungsprozesses unterscheidet (128). Es lässt sich sagen, dass ein weiterer Grad – unter denen, die dem guten Europäer vorausgehen – von der jüdischen Kultur repräsentiert wird. Carlo Gentilis Beitrag zeigt nämlich, dass die Juden für Nietzsche (der auf die bereits integrierten Juden der gebildeten Klasse Mittelwesteuropas verweist)[3] in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Assimilation und Synthese nur von den Griechen übertroffen werden.

Im Gegensatz zur deutschen hat sich die jüdische Kultur von ihren Wurzeln gelöst – was Symbol der Emanzipation von jeglichem Nationalismus ist – und durch vielfältige Impulse neue und verschiedene Elemente entwickelt, die sie in immer höheren Synthesen integriert hat. Aus diesem Grund ist der jüdische Intellektuelle, wie Gentili argumentiert, nicht nur Vorläufer und „Modell des europäischen Intellektuellen“, sondern „entspricht dem, was [Nietzsche] das Profil des freien Geistes genannt hat“ (60), und schließlich dem „guten Europäer“, mit dem er den Charakter des „Gemischten“ und „Heimatlosen“ teilt (64). Besonders interessant ist die Analyse dieser gemeinsamen Eigenschaften wie der Heimatlosigkeit, deren komplexe Entstehungsgeschichte Gentili nachzeichnet, von ihrer Verwendung in der antisemitischen Propaganda bis zu Nietzsches Umkehrung in eine positive Eigenschaft des guten Europäers (und seiner selbst). Die Korrespondenz zwischen dem jüdischen Intellektuellen und dem freien Geist – der sich in Gentilis Analyse mit dem guten Europäer zu überschneiden scheint – bleibt jedoch im Text etwas unscharf. So lässt sich der Bezug auf die jüdische Kultur nicht eindeutig auf dem Weg der allmählichen Befreiung von der europäischen Kultur hin zu einer übereuropäischen Perspektive verorten.

Auch in den Beiträgen von Vivetta Vivarelli und Maria Cristina Fornari wird der gute Europäer nicht erwähnt. Sie konzentrieren sich vielmehr auf den freien Geist (Vivarelli) und das (politische) Projekt zum individuellen Perfektionismus (Fornari) hin zu einer „zukünftigen Menschheit“ (92). Die fehlende Annäherung an den guten Europäer unterbricht die Diskussion, obwohl die Kapitel der beiden Autorinnen originelle Perspektiven bieten, um die Diskussion mit neuen Elementen anzureichern. Dem Beitrag von Fornari kommt das Verdienst zu, zwei grundlegende Aspekte hervorzuheben, die in der Forschung über den guten Europäer gewöhnlich am Rande behandelt wurden: Erstens kann der graduelle Syntheseprozess hin zu einem „neuen Menschentyp“ zuerst als ein Bildungsprozess verstanden werden, der nicht ausschließlich die individuelle Dimension betrifft, sondern vor allem die komplexe Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft.[4] Zweitens zeigt Fornari, dass dieser Weg alles andere als friedlich ist. Er richtet sich gegen die „homologisierenden Instanzen“ der Gesellschaft, obwohl gerade Individualität und Vielfalt einzige Mittel für die Entwicklung und das Wachstum der Gesellschaft sind – das Gegenmittel zur Homologisierung und Entkräftung eines untergehenden Europas (93). Die These, die sich daraus ergibt, ist vielleicht vorhersehbar, aber durchaus bedeutend: Die Fähigkeit, Distanz zu gewinnen, sich von einer sozialen, kulturellen, historischen Dimension zu emanzipieren, ist keineswegs ein ruhiger und linearer Flug, sondern eine Übung des Kampfes, des Widerstandes, der „Konstriktion und Konstruktion“ (108).

Diese bildende Disziplin betrifft bestimmte Eigenschaften, die Vivarelli in ihrem überzeugenden Beitrag hervorhebt: geistige Unabhängigkeit, einen antidogmatischen Skeptizismus, Einsamkeit und „alkyonische Ruhe“, die Philosophie des Wanderers, den Stil und einen gewissen Gebrauch der Rhetorik (ein Aspekt, der in der Literatur über den guten Europäer oft übersehen wird). Durch erhellende Analogien und präzise Textvergleiche zeigt Vivarelli nicht nur, wie diese Eigenschaften durch die Lektüre von Montaigne, dem Modell des freien Geistes, Gestalt annehmen, sondern auch, wie die starke Übereinstimmung zwischen den beiden Autoren ihre Rezeption maßgeblich geprägt hat. Nietzsche und Montaigne erscheinen zusammen – fast als eine einzige Referenz – für viele jener deutschen emigrierten Intellektuellen (wie Heinrich Mann, Stefan Zweig und Erich Auerbach), die zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Rolle des europäischen Intellektuellen und die Entstehung des modernen Europas nachdenken.

Die hier vorweggenommene Perspektive leistet es, in jenes „offene Laboratorium der Reflexion“ (11) – nämlich die Diskussion über das Europa des frühen 20. Jahrhunderts – einzuführen, das Gegenstand der Beiträge des zweiten und dritten Abschnitts ist. Diese bieten ein besonders buntes Bild zahlreicher Gesprächspartner und Interpretationen, die sich in den unterschiedlichsten literarischen Kreisen um Nietzsches Schriften gesammelt haben: vom George-Kreis bis zum revolutionären Syndikalismus von Georges Sorel, von Ernst Jünger bis zu Altiero Spinelli. Das zeigt die internationale und interdisziplinäre Dimension der Diskussion, aber auch eine (wenig überraschende) Instrumentalisierung der Schriften Nietzsches, die – insbesondere wenn seine Begriffe aus philologisch und historisch fundierten Lesarten extrapoliert werden – zu einem gefährlichen Arsenal von Aphorismen werden, die sich für die unterschiedlichsten Interpretationen eignen. Bei der Rekonstruktion einiger dieser Lesarten scheint sich der Band jedoch in zwei Forschungsrichtungen aufzuspalten, die nicht immer in einem gemeinsamen Projekt zusammenlaufen: Einerseits findet sich eine Rekonstruktion der komplexen Nietzsche-Rezeption (in der die europäische Frage bisweilen am Rande bleibt) und andererseits eine Darstellung der Entstehung des europäischen Projekts (von den reaktionären Verschlingungen des Paneuropäismus bis zu den ersten Formulierungen des europäischen Föderalismus), bei der nicht immer klar ist, ob Nietzsches guter Europäer mehr als eine einfache Analogie darstellt.

Unter den in diesem Band versammelten Fallstudien ist die Diskussion über den „revolutionären Syndikalismus“ von Georges Sorel (der später von Curzio Malaparte aufgegriffen wurde) eine der am wenigsten bekannten: Andrea Orsucci illustriert, wie Sorel seine Narrative ausgehend von einer (aller metaphorischen Werte beraubten) Aktualisierung bestimmter Begriffe (z. B. Gefahr, Kraft, Abenteuer) konstruiert, die Nietzsche als Voraussetzungen für die Geburt der „Europäer der Zukunft“ vorgestellt hatte. Es wäre interessant, sich zu fragen, inwieweit solche revolutionären Narrative, die Nietzsches Konzepte verzerren, die Diskussion um das europäische Projekt, insbesondere in Frankreich, beeinflussen. Der Beitrag geht jedoch nicht in diese Richtung und unterbricht die durch den Band angestoßene Diskussion, deren Ziel es ist, über die Nietzsche-Rezeption hinauszugehen und zu zeigen, welche Rolle der Bezug auf den guten Europäer in der (politischen und kulturellen) Debatte um die europäische Identität zu Beginn des 20. Jahrhunderts gespielt hat.

Mario Zanucchis umfangreiche Studie über die Rezeption des guten Europäers im deutschen Expressionismus wird dieser Aufgabe eher gerecht. Sein Kapitel durchleuchtet sorgfältig das Spektrum der Bedeutungen, die der gute Europäer in drei verschiedenen historischen Phasen (vor, während und nach dem Krieg) annimmt. Er stellt die Referenz für einen ästhetischen Europäismus dar, später für einen politischen bis hin zu einem gemeinsamen Gefühl der Europa-Skepsis oder der Europa-Müdigkeit, was einen endgültigen Bruch mit der nietzscheanischen Kategorie des guten Europäers bedeutet. Die Lesart Nietzsches hat sich im Zuge dieser Verwandlung weiter differenziert: Der Krieg hat nicht nur eine Rückkehr zum Nationalismus hervorgebracht, sondern auch einzigartige Synthesen von Nationalismus und Europäismus (wie Franz Marcs „pangermanisches Europa“) oder elitäre Vorstellungen von einem Europa als „Kulturaristokratie“ wie Coudenhove-Kalergis Paneuropäismus, den auch Federico Niglia treffend wiedergibt.

Der abschließende Teil des Bandes fragt nach der Konstruktion der „europäischen Identität“ im Rahmen der Diskussion um den europäischen Föderalismus in den 1930er Jahren. Unter den Vertretern dieser neuen Konzeption spielt das Thema des guten Europäers keine Rolle, obwohl, wie die abschließenden Beiträge zeigen, weder Eugenio Colorni noch Altiero Spinelli der Nietzsche-Lektüre gleichgültig gegenüberstanden. Nietzsche scheint, wie vor allem der Beitrag von Geri Cerchiai zeigt, eine Lektüre zu bleiben, die mehr mit der persönlichen Dimension als mit der politischen Reflexion über eine europäische Identität verbunden ist. Dies schafft wiederum eine gewisse Verwirrung: Entwickelt sich die Geschichte des guten Europäers über eine einfache Nietzsche-Rezeption hinaus? Trägt Nietzsches Reflexion zum Europäismus (und zum Über-Europäismus) tatsächlich zu einer Diskussion des europäischen Projektes bei? Der Band schlägt mehrere mögliche Antworten vor, die zwar nicht vollständig in einer einheitlichen Diskussion zusammenlaufen, aber solide Ausgangspunkte bieten. Überdies wird deutlich, wie Nietzsches Reflexion über den guten Europäer einige der zugrunde liegenden Themen der komplexen intellektuellen und politischen Atmosphäre der 1930er Jahre vorwegnimmt und zu verstehen hilft: das Verhältnis zum Nationalstaat und zum Nationalismus, die notwendige Distanzierung (das Exil von Ursula Hirschmann in Paris und von der Gruppe der Föderalismusbefürworter in Ventotene, aber auch die „theoretische Distanzierung“ in den Analysen von Altiero Spinelli),[5] die Identität der Heimatlosen und schließlich vor allem die Schwierigkeit einer Synthese zwischen nationalen Identitäten und einem vereinten Europa. Unter diesem Gesichtspunkt kommt dem Band das Verdienst zu, eine zirkuläre Struktur vorzuschlagen, die die Diskussion einrahmt, die sonst mitunter ihren Kern verlieren könnte: So beginnt der Band mit der schwierigen Aufgabe, die Synthese des guten Europäers zu untersuchen, und endet mit der ebenso schwierigen Aufgabe, eine kommende Synthese zu definieren, die sich – wie Nietzsche vermutet – in Graden vollzieht.

3. Die letztgenannte Aufgabe wird von dem Band European / Supra-European: Cultural Encounters in Nietzsche’s Philosophy (2020) übernommen, der die Ergebnisse einer gemeinsamen Tagung der Nietzsche-Gesellschaft und der Friedrich Nietzsche Society in Naumburg 2016 sammelt. Der Titel bezieht sich auf ein Notat aus der Zeit von Jenseits von Gut und Böse (Nachlass 1885/86, 2[36], KSA 12.81), in der Nietzsche eine Reihe von Begriffen (oder Graden) des Befreiungsprozesses des guten Europäers notiert: Die Reihe beginnt mit dem Begriff „Loslösung“ – verstanden als geistige Befreiung von der europäischen Tradition – und schließt mit dem Hinweis auf die „[e]uropäisch[e] und über-europäisch[e]“ Dimension.

Die Ersetzung des Konnektivs „und“ durch den Schrägstrich im Titel des Bandes wird von den Herausgebern nicht erklärt, führt aber zwei interessante Aspekte ein: Sie deutet nicht nur eine tiefe Verbindung und einen gewissen Kontrast zwischen den beiden Dimensionen an (und verweist auf den keineswegs friedlichen Weg, der von der einen zur anderen führt), sondern erlaubt es auch, den scheinbar abschließenden Charakter von Nietzsches Formulierung zu umgehen und die „supra-europäische“ Dimension selbst als Zwischenmoment in einem allmählichen Prozess hin zu möglichen neuen Synthesen zu verstehen (XXIII).

Die zwei Momente dieses Prozesses – europäisch und supra-europäisch – spiegeln sich auch in der Struktur des Bandes wider: Er gliedert sich in zwei Teile, die – wie die Herausgeber erläutern – darauf abzielen, die beiden Begriffe europäisch / supra-europäisch anhand der „zwei Aufgaben“ zu deklinieren, die „Nietzsche sich stellt“ und die „heute noch nicht verwirklicht sind“: „die Einheit Europas zu fördern und die Grenzen des Westens zu überschreiten“ (XXV).

Angesichts des kontinuierlichen und allmählichen Prozesses der Befreiung und Synthese, den der gute Europäer vollzieht, wirkt diese Aufteilung in zwei Aufgaben jedoch etwas künstlich. De facto liegt eine gewisse Komplexität in Nietzsches Europabegriff, der keine begrenzte Realität (eine Summe oder Einheit) betrifft, deren „Grenzen überschritten werden müssen“, sondern einen kulturellen Prozess, der – wie wir in MA II, WS 215 lesen – mit der „Moderne“ selbst zusammenfällt: eine tausendjährige Tradition (zu der auch Amerika gehört),[6] deren aufklärerische Kritik die Entstehung einer neuen Kultur durch einen kontinuierlichen Prozess der Überwindung und Selbstüberwindung vorbereitet.

Die vorgeschlagene Definition der zwei Aufgaben vereinfacht nicht nur diesen Überwindungsprozess, sie übersieht auch seine kritische Grundlage und sein Ziel: nicht eine „Promotion der Einheit Europas“, sondern eine Richtung über Europa hinaus, einen „gespannten Bogen“ (JGB, Vorrede) zur Vorbereitung immer weiter reichender Synthesen. In diesem Prozess konfiguriert sich die „Aufgabe“ des guten Europäers als Vorbereitung jenes „jetzt noch so fernen Zustand[s] der Dinge“ (MA II, WS 87). Diese Formulierung, die die kreative Instanz mit dem kritischen Pathos der Distanz verbindet, führt zu dem, was Nietzsche in MA II, WS 87 als eine neue „große Aufgabe“ definiert: Der gute Europäer, so schreibt er, müsse die „Leitung und Überwachung der gesamten Erdcultur“ übernehmen.[7] Die Aufgabe des guten Europäers betrifft also die Vorbereitung eines in erster Linie kulturellen Prozesses hin zu jener „Umwertung der Werte“, die sich erst am Ende der Genealogie der Moral (1887) ankündigen wird (GM III 24–27): Das ist das „Schicksal von Aufgabe“ (GD, Vorwort).[8]

Diese fortschreitende Komplexität der Aufgabe des guten Europäers geht in der Definition verloren, die der Band als Einführung in die Diskussion vorschlägt. Allerdings muss bedacht werden, dass im Unterschied zu den von Crescenzi, Gentili und Venturelli herausgegebenen Bänden der Weg der „Kritik und Befreiung“ des guten Europäers hier nicht Mittelpunkt der Diskussion, sondern Prämisse eines ehrgeizigeren Projekts ist: Die Herausforderung – so erklären die Herausgeber – besteht darin, zu untersuchen, inwieweit Nietzsches „Philosophie, die einer völlig anderen historischen Situation angehört, ihr diagnostisches, kritisches und utopisches Potenzial für die aktuellen Herausforderungen Europas bewahrt hat“ (XXV). Im Unterschied zu den italienischen Bänden zielt dieser Band also darauf ab, die Gültigkeit von Nietzsches Überlegungen heute zu untersuchen. Das Vorhaben ist vielversprechend, obwohl die Diskussion an Kohärenz und Präzision gewonnen hätte, wenn deutlicher angegeben worden wäre, auf welches „Heute“ oder welche „aktuellen Herausforderungen“ Bezug genommen wird.

Diese Unklarheit spiegelt sich in einer gewissen Streuung der in den Beiträgen gelieferten Antworten wider: Paul Bishop betont die Relevanz einiger Begriffe Nietzsches für die Debatte über die europäische Schuldenkrise (19); William Winstead analysiert Nietzsches Kritik an der Lehre vom Gesellschaftsvertrag des 17. Jahrhunderts, wie sie im klassischen Liberalismus formuliert wurde (51); und Michael McNeal stellt interessante Ähnlichkeiten zwischen Bismarcks Einigung Deutschlands zur Zeit Nietzsches und der Europäischen Union heute fest (217). Mehrere Autoren reflektieren die Frage nach der europäischen Identität zu Nietzsches Zeiten, z. B. im Zusammenhang mit der modernen Föderalismusdebatte (Andrea Christian Bertino, 75) oder mit Bezug auf den französischen politischen und kulturellen Kontext (Daniel Rosenberg, 129). Einige Aufsätze (Katherine Graham, Allison Merrick, Andrea Orsucci) beziehen sich nur marginal auf die Frage nach Europa.

Vielversprechend ist die Absicht, auch eine politische Dimension zu thematisieren. Sie bereichert die Diskussion, obwohl sie – vor allem im ersten Teil des Bandes – so vorherrschend wird (etwa die von Winstead vorgeschlagene Interpretation von Ueber Wahrheit und Lüge, 51), dass sie die kulturelle Bedeutung des guten Europäertums – die primär ist – gänzlich ausklammert. Auch die erwähnten „aktuellen Herausforderungen“ spiegeln die Vorherrschaft einer politischen Lesart wider: z. B. die Wirtschaftskrise (36), die „entstehende globale Reichweite der europäischen Politik“ (86), die Beziehung zwischen Europa und den Mitgliedstaaten, die „fehlende[] politische[] Antwort auf die Migrationskrise“, der „Brexit“, der „Mangel an politischem Wagemut“ (139) oder die „Kräfte der Globalisierung“ (183).

Ausgehend von der kulturellen Grundlage des guten Europäismus nach Nietzsche wäre es dagegen produktiver gewesen, über seine Relevanz für die nicht nur politisch-ökonomische, sondern vor allem kulturelle Verfassung des heutigen Europas und seiner Werte, über seine kosmopolitische Entwicklung jenseits eurozentrischer Vorurteile nachzudenken. Eine solche Diskussion hätte dem Band sicher gedient, der sich stattdessen bisweilen in der unproduktiven Feststellung der Unmöglichkeit erschöpft, „den Geist des guten Europäismus in die Sprache eines modernen politischen Programms zu übersetzen“ (wie McNeal zu Recht anmerkt, 208). Die Frage, ob der gute Europäer ein „normativer“ oder ausreichend demokratischer Begriff sei, um in einem kosmopolitischen Europa noch gültig zu sein (Armin Thomas Müller, Richard J. Elliott, Paul E. Kirkland), scheint ein begrenzter Ansatz.

Der zweite Teil des Bandes trägt dazu bei, die Diskussion zu erweitern: Er führt zwei neue Interpretationsansätze ein – eine anthropologische und eine interkulturelle Perspektive –, die die Aufmerksamkeit wieder auf die kulturelle Aufgabe des guten Europäers und auf die prekäre, mitunter ambivalente und immer experimentelle Definition der Begriffe lenken, die ihn konstituieren (Grenze, Identität, Einheit, Europa, Orientalismus usw.). Damit wird eine eurozentrische Sichtweise zugunsten einer breiteren Dimension der „kulturellen Begegnungen“, wie der Titel des Bandes vorschlägt, bereits aufgegeben.

Diese Richtung wird von McNeals interessantem Aufsatz vorweggenommen, der vorschlägt, den guten Europäismus als eine „Disposition“ zu verstehen, als ein Ethos, das nicht nur eine Aufgabe der „Leitung und Überwachung“ (MA II, WS 87), sondern auch der „Bildung“ (211) darstellt, die im neoliberalen Projekt des heutigen Europas – wie der Autor zeigt – ihre Relevanz wiederentdeckt. Aus einer anderen Perspektive kontextualisiert Johann Figl das Thema des guten Europäers ebenfalls durch die Dimension der „Bildung“: diejenige, die Nietzsche durch bestimmte Texte seiner Schul- und Universitätslaufbahn erhielt, von der Figl eine interessante Rekonstruktion bietet (226). Schließlich haben die letzten Kapitel des Bandes das Verdienst, der Diskussion eine Dimension des globalen Austauschs und der Kontaminationen hinzuzufügen. Sie erinnern daran, wie Nietzsches guter Europäismus eine kritische Übung ist (oder, um den von McNeal vorgeschlagenen Begriff aufzugreifen: ein transkulturelles Ethos), die gerade durch den Vergleich mit dem Nicht-Europäischen und seiner Perspektive reift. Von allen vorgeschlagenen Einsichten wäre das die aktuellste gewesen.

Literaturverzeichnis

Campioni, Giuliano: Les lectures françaises de Nietzsche, Paris 2001Search in Google Scholar

Gentili, Carlo: „Der Begriff Europas. Friedrich Nietzsche und Karl Löwith im Vergleich“, in: Marco Brusotti / Renate Reschke (Hg.), Einige werden posthum geboren. Nietzsches Wirkungen, Berlin 2012, 427–44210.1515/9783110260878.427Search in Google Scholar

Gentili, Carlo: Sulle radici culturali dell’Europa. Löwith, Heidegger e il nichilismo europeo, Bologna 2005Search in Google Scholar

Gori, Pietro / Stellino, Paolo: „Il buon europeo di Nietzsche oltre nichilismo e morale cristiana“, in: Giornale critico della filosofia italiana XCVII/1 (2016), 98–124Search in Google Scholar

Stegmaier, Werner: „Nietzsche, die Juden und Europa“, in: Werner Stegmaier (Hg.), Europa-Philosophie, Berlin 2000, 67–9210.1515/9783110830972Search in Google Scholar

Witzler, Ralf: Europa im Denken Nietzsches, Würzburg 2001Search in Google Scholar

Published Online: 2023-08-23
Published in Print: 2023-10-27

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Abhandlungen
  3. Im „Wirbel des Seins“. Die Geburt der Geburt der Tragödie aus dem Geiste Friedrich Hebbels
  4. Nietzsche’s Heraclitus: Historical Figure and Personal-Philosophical Archetype
  5. Quid est veritas? Skeptische Implikationen von Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
  6. „Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden“. Der Leib als Entstehungsort der Sprache
  7. Antinaturalistische Strategien in Jenseits von Gut und Böse
  8. Hegel and Nietzsche on Self-Judgment, Self-Mastery, and the Right to One’s Life
  9. Affektivität und Hermeneutik der Macht. Ein Kommentar zum Aphorismus 13 der Fröhlichen Wissenschaft
  10. Nietzsches ästhetischer Umgang mit dem Politischen. Ein Versuch zu JGB VIII
  11. Love-Hate and War: Perfectionism and Self-Overcoming in Thus Spoke Zarathustra
  12. Novalis und Nietzsche. Analogien und Differenzen zweier Dichter-Denker
  13. Abhandlung zur Rezeptionsforschung
  14. Die Nietzsche-Rezeption in der deutsch-jüdischen Presse von 1892 bis 1918
  15. Diskussion
  16. Derrida hat Nietzsches Regenschirm verloren. Zu Philipp Felschs Buch Wie Nietzsche aus der Kälte kam
  17. Miszellen
  18. Die Glocken von Sewastopol. Zur ersten musikalischen Komposition Nietzsches
  19. Abhandlungen zur Quellenforschung
  20. On Liberty as a (Re-)Source for Nietzsche: Tracing John Stuart Mill in On the Genealogy of Morality
  21. Welche Bücher Teichmüllers lagen Nietzsche vor? Versuch einer Rekonstruktion
  22. Nachweis zur Quellenforschung
  23. NACHWEIS AUS ALFONS BILHARZ, DER HELIOCENTRISCHE STANDPUNCT DER WELTBETRACHTUNG (1879)
  24. Rezensionen
  25. Heidegger’s Nietzsche, and the Finite Repetition of Difference
  26. Nietzsche on Conflict and Agon
  27. Nietzsche und der lange Flug des „guten Europäers“
Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/nietzstu-2023-0009/html
Scroll to top button