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Steve Ayan: Rätsel Mensch – Expeditionen im Grenzbereich von Philosophie und Hirnforschung

  • C. G. Galizia
Published/Copyright: November 23, 2017
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Steve Ayan: Rätsel Mensch – Expeditionen im Grenzbereich von Philosophie und Hirnforschung


Im letzten Jahrhundert hat der damalige amerikanische Präsident die 90er Jahre zur „decade of the brain“ aufgerufen – Hirnforschung wurde gefördert und in der breiten Öffentlichkeit präsentiert.

Dieses goldene Jahrzehnt hat Früchte getragen: Die Neurowissenschaften wurden von vielen als die neue Leitwissenschaft angepriesen (wobei mir scheint, dass die Neurowissenschaftler und Neurowissenschaftlerinnen selber mit diesem Begriff eher Schwierigkeiten hatten). Forschungsmittel haben zugenommen und auch das öffentliche Interesse. Der Diskurs über die Neurowissenschaften wuchs über die Fachgrenzen hinaus, sowohl über die nahen Grenzen, die heute kaum noch als Grenzen zu erkennen sind (etwa zur Psychologie), als auch über weiter entfernte. Insbesondere die Philosophie, deren Überlappung mit den Neurowissenschaften früher allein in der Erkenntnistheorie und Wissenschaftsphilosophie zu suchen war, beschäftigt sich inzwischen stark mit den Begriffen der Hirnforschung, eine Beschäftigung, die bis in die Definition einzelner Begriffe hineingeht. Im Oktober 2004 haben elf Neurowissenschaftler „Das Manifest“ in der Zeitschrift „Gehirn & Geist“ veröffentlicht, unter ihnen Gerhard Roth, Hannah Monyer, Heiko Luhmann, Angela Friederici und Randolf Menzel. Eine Bestandesaufnahme der damaligen Zeit und eine Projektion in die Zukunft, was noch von der Neurowissenschaft zu erwarten sei. „Das Manifest“ hat in der öffentlichen Diskussion Furore gemacht: Die Feuilletons der Zeitungen haben über lange Zeit dieses Thema als wiederkehrende Diskussion aufgegriffen – mit Urteilen von „Meisterwerk“ bis zu „Anmaßung“ war alles dabei. Die Neurowissenschaften waren mitten in der Gesellschaft angekommen, und quer zu den Disziplinen präsent. Der Zeitschrift „Gehirn und Geist“ ist es damit gelungen, sich stark in dieser Diskussion zu positionieren.

Tatsächlich hatte die Zeitschrift schon seit ihrer ersten Ausgabe 2002 immer wieder den Grenzbereich zwischen den Disziplinen thematisiert und insbesondere auch philosophische Fragen aufgegriffen. Was ist Bewusstsein? Wie steht es mit dem freien Willen? Sprache? Moral? Tierversuche? Diese Beiträge sind nun in einem redigierten Sammelband erschienen: 45 kurze Artikel aus der Soziologie, der Psychologie, der Philosophie, von Wissenschaftlern oder Fachjournalisten geschrieben. Die Themen sind breit gefächert: Julian Nida‐Rümelin fragt „Was ist gerecht?“, John Searle gibt ein Interview und liefert die Erkenntnis „Wir sind biologische Apparate“, Joachim Retzbach befasst sich mit Neuroenhancement, Jan Slaby spricht in „Ein Organ allein denkt nicht“ über die Konflikte zwischen Neurowissenschaften und Philosophie. Katrin Amundts und Gerhart Roth überlegen, was aus dem „Manifest“ geworden ist, und ziehen das Fazit: viele Kontroversen seien durch überspitztes Lesen des Textes entstanden, der Text selber sei demgegenüber eher zahm gewesen. Schade, dass „Das Manifest“ selber nicht in den Sammelband aufgenommen wurde – vielleicht wäre das eine Anregung für die nächste Auflage. Übersichtsartikel zu den neurowissenschaftlichen Grundlagen sind oft von Wissenschaftsjournalisten verfasst – es fällt auf, dass die Neurowissenschaftler selber kaum zu Wort kommen, und wenn, dann eher in einer Metaebene, also bei der Reflektion über die Diskussion zu den Themen, die durch die Forschung aufgeworfen und in den Medien aufgegriffen werden. Beiträge zu der (eigenen) neurowissenschaftlichen Forschung wären da willkommen gewesen.

Der Herausgeber und Redakteur von Gehirn und Geist, Steve Ayan, hat die Artikel redigiert und in drei große Bereiche gegliedert: Sprache und Denken, Bewusstsein und Willensfreiheit, Gut und Böse. In „Sprache und Denken“ lesen wir über „das Denken“ an sich (inklusive Ratgeber: 10 Tipps um besser zu denken). Christian Wolf, Philosoph in Berlin, betrachtet die Sprache der Hirnforscher und attestiert ihr, eine Mischung aus Fachjargon und Alltagssprache zu sein. Das geht z. T. in Richtung „Wortpolizei“ – also der Forderung, dass Hirnforscher bestimmte Begriffe nicht nutzen sollten (so sollte man nicht davon sprechen, dass das Gehirn „Informationen verarbeitet“, weil damit die Assoziation an einen Computer geweckt wird). Das mag übertrieben sein, aber die Feststellung, dass sprachliche Begriffe das Denken beeinflussen, ist richtig – denn die Wörter führen zu Assoziazionen, die Fragen aufwerfen. Er zitiert Bennett und Hacker: Wenn man (bildlich gesprochen) vom Fuß eines Berges spricht, dann benutzt man eine Metapher. Diese wird zu einem Problem, wenn man nach dem Schuh des Berges sucht – was aber durchaus passieren kann, wenn man sich von der Metapher nicht lösen kann. Allein, am Ende wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, wenn nicht nur die Begriffe, sondern auch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften abgelehnt werden. In der Gesamtschau der Artikel bin ich mir letztlich nicht sicher, ob die Kritik und die Missverständnisse, die in den Beiträgen aus der Philosophie erscheinen, nicht darauf beruhen, dass die neurowissenschaftliche Originalliteratur nicht als Quelle verwendet wird, sondern die Sekundärliteratur. Der „Hype“ mit seinen Überbewertungen entsteht vielleicht stufenweise, vom Artikel, über den „News and Views“, zur Tageszeitung. Auch aus diesem Blickwinkel ist das hier rezensierte Buch interessant: Ich erfahre, wie die Neurowissenschaft und deren Begriffe durch den Bezug auf die Sekundärliteratur (die notwendigerweise oberflächlich ist) missverstanden werden und überlege, ob mir das vielleicht in die andere Richtung gerade auch passiert, wenn ich in dem Buch die Beiträge der Philosophen lese, die ihre Sprache für ein breiteres Publikum vereinfacht haben? Solche Perspektivwechsel erzeugen bei der Lektüre so manche erfrischende Einsicht. Der Band enthält einen Artikel mit „9 Ideen für eine bessere Neurowissenschaft“, die nach mehr Transparenz, strengeren Qualitätskriterien, bis hin zu „wir brauchen eine umfassende Theorie des Gehirns“ reichen. Am Ende des Buches wird in mehreren Artikeln die Problematik der Tierversuche aufgegriffen – inklusive eines Streitgesprächst zwischen dem Philosophen Klaus Peter Rippe (der, wenn ein Hund und ein Mensch am ertrinken sind, je nach Situation auch den Hund als erstes retten würde), und Wolf Singer (der in der menschlichen Fähigkeit, Kathedralen zu bauen, einen kategorialen Unterschied zu den Tieren sieht).

Zusammenfassend kann man sagen, dass dies ein spannender Sammelband ist, vor allem, weil Fragen zusammengestellt wurden, die aktuell diskutiert werden, und durch die vielfältigen Blickwinkel die Widersprüche in den Diskussionen erkennbar werden. Von Tierversuchen, über freien Willen, zur Sprachregelung und den Begrifflichkeiten – bei der Lektüre der Beiträge versteht man, warum diese Themen spannend sind und warum wir uns so oft missverstehen. Als Neurowissenschaftler lernen wir in dem Buch nicht viel Neues über das Gehirn, aber viel darüber, wie wir von anderen Disziplinen, insbesondere von der Philosophie aus, gesehen werden – und dass der Dialog vertieft werden muss. Als Laie lernt man aber doch einiges über das (menschliche) Gehirn, über die Faszination, nach den Mechanismen des Denkens zu suchen, und über die Komplexität des Nervensystems: Es gibt noch viel zu erforschen.

Steve Ayan (Hrsg.): Rätsel Mensch – Expeditionen im Grenzbereich von Philosophie und Hirnforschung.

Springer, Heidelberg: 2017, 353 Seiten

ISBN: 978-3-662-50326-3 (Softcover) 19,99 €

ISBN: 978-3-662-50327-0 (eBook) 14,99 €

Published Online: 2017-11-23
Published in Print: 2017-11-27

© 2017 by De Gruyter

Downloaded on 28.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/nf-2017-0004/html
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