Am 28. August 2024 verstarb Gerd Wotjak, eine der herausragenden Persönlichkeiten der deutschsprachigen Romanistik und Übersetzungswissenschaft. Geboren am 12. Januar 1942 in Pürstein im heutigen Tschechien als Sohn des Lehrers Walter Wotjak und seiner Frau Hildegard, geborene Zebisch, hatte er an seine frühste Kindheit, die letzten Kriegsjahre, nur schöne Erinnerungen. Obwohl beide Eltern neben Deutsch auch Tschechisch sprachen und seine Mutter auch nach dem Krieg noch auf dem nun tschechischen Gemeindeamt als Sekretärin tätig war, siedelte die Familie nach einem Unfall des Vaters im Dezember 1945 nach Deutschland um. Die ersten Jahre lebte die Familie in der Nähe von Altenburg, wo die Mutter und die Großmutter die Familie durch Strickarbeit durchbrachten, da der Vater aufgrund des Unfalls noch arbeitsunfähig war. 1947 zogen die Wotjaks nach Ditfurt in der Nähe von Quedlinburg. Gerd Wotjak erinnerte sich an diese schweren ersten Jahre: „Wir waren Umsiedler, was nicht so ganz einfach war in einem Dorf, das also relativ unbeschadet war durch den Krieg, mit relativ wohlhabenden Bauern, und ich habe erfahren, was es heißt, Umsiedler zu sein, denn ein gewisses Misstrauen war gegenüber den Umsiedlern doch auch damals zu vermerken, muss ich sagen“. Er besuchte zunächst die Grundschule in Ditfurt. An die ersten schweren Jahre nach dem Krieg erinnerte er sich in dem besonderen Humor, der ihn charakterisierte: „Wir wohnten in einer ganz kleinen Wohnung dort mit meiner Oma zusammen und meinen Eltern und ich, in einer Wohnung über einer Bäckerei. Und da habe ich immer gut gerochen, was da gebacken und gebraten wurde, aber wir haben doch in der Regel so gut wie nichts davon gesehen, muss ich gestehen. Aber es war nicht so schlimm. Ich war auch relativ schlank, was sehr positiv war vielleicht damals“. Der Vater bekam wieder eine Anstellung als Lehrer, die Mutter als Schulsekretärin, und Gerd Wotjak besucht dann die Oberschule, das GutMuths-Gymnasium in Quedlinburg, wo noch bis in die 1990er Jahre auf einer Tafel im Schulgebäude sein Schulrekord im Kugelstoßen aufgelistet war.
Motiviert durch den faszinierenden Unterricht seines Deutsch- und Französischlehrers bewarb er sich im Laufe der elften Klasse für ein Lehrerstudium für Französisch und Russisch in Jena. Nur durch Zufall erfuhr er von der Möglichkeit eines Romanistikstudiums mit Französisch und weiteren romanischen Sprachen und nahm im Anschluss an das Abitur, das er 1959 ablegte, im selben Jahr das Studium der Romanistik in Leipzig auf. Die Wahl des Studienorts, so berichtete er selbst vergnügt, hatte nur damit zu tun, dass er dort bei einer mit seinen Eltern befreundeten Familie ein Zimmer bekommen konnte.
Von 1959 bis 1964 studierte er an der Karl-Marx-Universität Leipzig Romanistik mit den Sprachen Französisch, Spanisch und Rumänisch. In dieser Zeit lernte er auch Barbara Dahm kennen, seine zukünftige Frau, die von 1959 bis 1961 an der Karl-Marx-Universität das Lehrerstudium für Französisch und Deutsch und bis 1964 das Studium der Romanistik mit Französisch und Portugiesisch und Germanistik absolvierte. Von 1964 bis 1967 war Gerd Wotjak dann am Dolmetscher-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig als wissenschaftlicher Aspirant tätig, 1967 bis 1968 dann ebendort als wissenschaftlicher Assistent und Lehrbeauftragter für Romanistik. Am 17.7.1968 wurde er mit der Arbeit Untersuchungen zur Struktur der Bedeutung: Ein Beitrag zu Gegenstand und Methode der modernen Bedeutungsforschung unter besonderer Berücksichtigung der semantischen Konstituentenanalyse an der Philologischen Fakultät der Karl-Marx-Universität zum Dr. phil. promoviert; Betreuer der Arbeit war der Mitbegründer der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Schule, Professor Dr. phil. habil. Albrecht Neubert, das Zweitgutachten der Arbeit fertigte Prof. Dr. phil. habil. Werner Bahner von der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin an. Von 1968 bis 1969 war er dann Wissenschaftlicher Oberassistent mit Lehrauftrag für Romanistik am Dolmetscher-Institut der Karl-Marx-Universität, 1969 bis 1975 dann Wissenschaftlicher Oberassistent am Bereich Romanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft an der Sektion Theoretische und Angewandte Sprachwissenschaft (TAS). Am 14.2.1973 erhielt er die Facultas docendi für Romanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Im Mai 1975 erfolgte die Berufung zum Hochschuldozenten für Romanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Es folgte dann am 10.9.1975 zusammen mit Dr. phil. Wolfgang Lorenz die Gemeinschaftspromotion B mit der Arbeit Zum Verhältnis von Abbild und Bedeutung: Überlegungen im Grenzfeld zwischen Erkenntnistheorie und Semantik vor dem Wissenschaftlichen Rat der Karl-Marx-Universität Leipzig. Die Arbeit wurde begutachtet von Prof. Dr. phil. habil. Albrecht Neubert und Prof. Dr. phil. habil. Klaus Wittich von der Karl-Marx-Universität Leipzig sowie Prof. Dr. phil. habil. Werner Bahner von der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR. Die 1968 nach sowjetischem Vorbild in der DDR eingeführte Promotion B zum Doktor der Wissenschaften (Dr. sc.) war eine akademische Qualifizierungsform, die nach der Wiedervereinigung als habilitationsgleichwertige Leistung anerkannt wurde.
Gerd Wotjaks Tätigkeit an der Karl-Marx-Universität wurde dann in der zweiten Hälfte der Siebziger Jahre durch eine Gastprofessur an der Universität Havanna in Kuba unterbrochen. Mit Gerd Wotjak befreundete Menschen erinnern sich gerne daran, wie er, mit vor Lachen tränenden Augen, vom Umzug der Familie Wotjak nach Kuba berichtete, wie er spitzbübisch ergänzte, „Familie Wotjak – samt Trabant, mit dem wir dann durch Kuba fuhren“. Die Jahre in Kuba, in denen er sich um den Aufbau der Germanistik in Havanna kümmerte, waren für Gerd Wotjak von besonderer Bedeutung: Die Zeit mit der Familie, die in der Rückschau unbeschwerten Jahre auf der Insel, die persönlichen Freundschaften und die akademischen Leistungen dieser Zeit waren ihm mit die liebsten Erinnerungen. In Kuba, wo er gemeinsam mit seiner Frau wichtige germanistische und translatologische Aufbauarbeit leistete, hinterließ Gerd Wotjak nachhaltige Strukturen, Materialien, Arbeitsweisen und Arbeitsethik, welche die Deutschabteilung der Facultad de Lenguas Extranjeras der Universität Havanna noch nach Jahrzehnten zu einer Besonderheit nicht nur in der Karibik, sondern im ganzen spanischsprachigen Raum macht. Und er hinterließ die Erinnerung an einen – körperlich, fachlich wie moralisch – großen Deutschen, an den man sich in Kuba und all den Orten der Emigration, an die es ehemalige Wegbegleiter und Schüler dieser „kubanischen Jahre“ inzwischen verschlagen hat , mit viel Emotion und Dankbarkeit erinnert.
1980 erhielt er für seinen Einsatz für die Germanistik in Kuba die Ehrenmedaille der Universität Havanna anlässlich ihres 250-jährigen Bestehens. Mit der Rückkehr aus Kuba erfolgte am 1.9.1980 die Berufung zum Professor für Spanische Sprache an die Karl-Marx-Universität Leipzig; bis 1992 war er daraufhin ordentlicher Professor für Spanische Sprache an der Sektion TAS. Im Rahmen der Umstrukturierung der Leipziger Universität wurden auch die Stellen neu besetzt und Gerd Wotjak wurde am 1.6.1992 zum C4-Professor für Romanische Sprach- und Übersetzungswissenschaft ernannt. Die Professur hatte er zuerst 1992 bis 1993 am Fachbereich Theoretische und Angewandte Sprachwissenschaft inne, dann von 1993 bis 1999 am Institut für Sprach- und Übersetzungswissenschaft (ISÜW) und anschließend von 1999 bis zu seiner Emeritierung am 1. April 2007 am Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie (IALT), dessen Gründungsdirektor er auch war.
2001 erhielt er in Anerkennung seiner Arbeit die Ehrenprofessur Cátedra honorífica „Juan de Valdés” an der Universidad de Valladolid (Spanien), 2005 wurde er mit dem Elio-Antonio-de-Nebrija-Preis der Universidad de Salamanca (Spanien) ausgezeichnet, und seit 2016 war er korrespondierendes Mitglied der Königlichen Spanischen Akademie.
Er widmete sein Berufsleben der Untersuchung der unterschiedlichsten Aspekte der Semantik, sei es im Rahmen der Untersuchungen zur Struktur der Bedeutung in der Promotion, in seiner Habilitationsschrift Zum Verhältnis von Abbild und Bedeutung, oder in den unzähligen Artikeln, Kapiteln und Vorträgen zu verschiedenen semantischen und translatologischen Aspekten der Sprache, mit denen er sich immer wieder auch aus kontrastiver Sicht auseinandersetzte. Eine besondere Passion Wotjaks waren die Studien zur Phraseologie. Wie er selbst in einem Interview mit Elia Hernández Socas erklärte, „infizierte“ er sich bei seiner Frau Barbara, einer großen Expertin und Vorreiterin der Phraseologismusforschung, mit dem Interesse für diesen Arbeitsbereich, und tatsächlich wurde er nie müde zu betonen, wie ungeheuer wichtig die Gespräche mit seiner Frau für seine Sicht auf die Phraseologie und die kontrastive Linguistik waren. Gerd Wotjak, der im Kontext der Leipziger Auseinandersetzung mit Sprache und Übersetzung ausgebildet war und „erwachsen“ wurde, hat sich zudem immer wieder für die Kenntnis und Berücksichtigung der Leipziger übersetzungswissenschaftlichen Schule und der Anerkennung ihrer Leistungen eingesetzt.
Gerd Wotjaks Interesse für die Sache stand schon in seiner Ausbildung in der DDR vor der Parteilinie und dem idiologischen Diktat, und so beschäftigte er sich mit strukturalistischer Sprachwissenschaft, obwohl diese in der DDR als Irrweg der kapitalistischen Sprachwissenschaft aufgefasst und entsprechend gemieden wurde. Somit ist es nicht verwunderlich, dass seine Arbeit auch andere Sprachwissenschaftler inspirierte. So erklärte Gerda Haßler 2025 in einem Interview im Rahmen des Oral-history-Projektes zur Translation am IALT, dass es sie beeindruckte, wie Gerd Wotjak seinen Weg gegangen war, sich der strukturellen Linguistik widmete, obwohl diese in den „sozialistischen“ Wissenschaften nicht angesehen war. Das wiederum bestärkte sie selbst in ihrer Themenwahl für die eigene Habilitation: „Daran hab ich mir ein Beispiel genommen. Er war in gewissem Sinne mein Vorbild!“. Diese Sicht auf Gerd Wotjak als wissenschaftlich und menschlich integre Person, als Vorbild, als Vorstreiter und als Förderer der nach ihm Kommenden prägt die Erinnerung seiner Wegbegleiter und seiner Schüler.
Er begründete mehrere bis heute erfolgreiche Kongressreihen, die seinem Interesse an der Sprachwissenschaft und am Sprachvergleich, der Liebe zum Spanischen und dem bemerkenswerten Verständnis für die Übersetzungswissenschaft geschuldet sind. Gerd Wotjak war ein Meister darin, Mitstreiter und Freunde aus aller Welt zu wissenschaftlichen Kolloquien in Leipzig zusammenzurufen. Wie es Violeta Demonte 2009 auf der 7. Internationalen Tagung für Hispanistische Linguistik am IALT sagte: „Dank Gerd muss man nach Leipzig kommen, um die wichtigsten Hispanisten der ganzen Welt an einem Ort zu treffen“. Seine Publikationsreihe zur Romanischen Sprachwissenschaft und interkulturellen Kommunikation wurden ein international stark rezipiertes Forum der aktuellen Forschung. Über Jahrzehnte prägte er so die internationale Kongress- und Publikationslandschaft. Dabei hatte er ein besonderes Gespür für neue, wissenschaftlich aufregende Themen ebenso wie für die notwendige Fundierung der Wissenschaft von heute in der Geschichte der Disziplin. Und dabei war er immer auch offen für neue Ideen, für mit der „akademischen Tradition“ brechende Vorschläge und innovative Herangehensweisen. Und er war ein „treuer“ Freund und Kollege: Über Jahrzehnte pflegte er die Kontakte nach Havanna und ganz besonders zu den ihm so lieb gewordenen Kollegen an den Universitäten von La Laguna, Teneriffa und von Las Palmas de Gran Canaria. Nach seiner Emeritierung war es ihm ein ganz besonderes Anliegen, dass die engen Bindungen mit Kuba und den Kanarischen Inseln in der Zukunft überdauern mögen, worum er seinen Nachfolger auf der Leipziger Professur mit besonderer Insistenz, aber in der für ihn so charakteristischen Bescheidenheit bat.
Seine Familie, seine Frau Barbara und seine Söhne, Carsten und Christian, bedeuteten ihm alles. Während er mit seiner Frau Barbara die Liebe zur Sprache und zur Sprachwissenschaft teilte und am Arbeitsplatz mit dem Kollegium immer mal wieder von seiner Familie sprach, trennte er im Privatleben Arbeit und Familie und „verschonte“, wie er selbst verschmitzt erzählte, seine Kinder mit Ausführungen über seine Arbeit. So waren sich seine Söhne, wie sie zur Feier seines 80. Geburtstages erklärten, lange Zeit nicht darüber bewusst, welche Bedeutung die Arbeit ihres Vaters für „seine“ Fächer, die Romanistik und die Übersetzungswissenschaft, hatte.
Mit Gerd Wotjak hat die Sprachwissenschaft, hat die Romanistik und hat die Translatologie einen breit ausgewiesenen, vielseitigen und fachlich einflussreichen Wissenschaftler und Kollegen verloren; seine Kollegen, Schüler und Freunde vermissen einen begeisterten Mitstreiter, einen großzügigen Lehrer und Förderer, bescheidenen Kollegen und unterhaltsamen Freund.
Carsten Sinner und Encarnación Tabares Plasencia
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Introduction to the special issue
- Implementing generative artificial intelligence technologies in language industry workflows – A competence perspective
- Prolegomena zu einer an Embodiment orientierten Fachkommunikationswissenschaft
- Using think-aloud, screen recording, and questionnaire data to gauge translation student application and perception of ChatGPT
- Kontrastive Analyse maschinell generierter Fachtranslate (EN-DE) im Strafrecht
- Literarisches Übersetzen im KI-Zeitalter: Überlegungen zu einer nachhaltigen Markttransformation
- Zu Einschätzung und Akzeptanz von KI-Technologien in der AVT-Branche: Die Perspektive der Verbände
- Weitere Themen Additional Topics
- Translation of compound terms: Cognitive insights
- Translating non-binary narratives
- Calibrating the passive: An experimental approach to plain languages rules
- Analyzing metaphors in the English translation of the Chinese novel Sandalwood Death from cognitive perspectives: A multi-level model
- La imagen del vikingo a través del análisis de la terminología meta en las traducciones de textos en inglés antiguo al inglés moderno
- Describing and evaluating MT results from small and resource-poor languages: A translation didactic orientated case study of Galician-German touristic texts
- Nachruf für Gerd Wotjak
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- Nachruf für Gerd Wotjak