Zusammenfassung
Im mykenischen Palast von Knossos enthält der so genannte „Raum der Wagentafeln“ unter anderem mehr als 170 blattförmige Tafeln, die Sc-Serie. Jede Tafel zeigt einen Personennamen und eine unterschiedliche Anzahl von Ideogrammen: Streitwagen, Rüstung, Pferde. Es lässt sich zeigen, dass die genannten Personen die Gegenstände und Tiere nicht an den Palast liefern sollen, sondern vom Palast mit Rüstung, Wagen und Pferden ausgestattet werden sollen. Es scheint, dass die genannten Personen ihre Ausrüstung oder zumindest Teile davon verloren haben. Betrachtet man die Verluste, so ist die hohe Anzahl der verlorenen Pferde erstaunlich. Eine mögliche Lösung ist, dass die auf den Tafeln verzeichneten Verluste das Ergebnis einer Schlacht sind, die von Streitwagen in der Nähe des Hafens von Amnisos geschlagen wurde.
Summary
In the Mycenaean palace of Knossos the so-called „room of the chariot tablets“ contains amongst others more than 170 leaf-shaped tablets, the Sc-series. Each tablet shows one personal name and a varying number of ideograms: chariot, armour, horses. It can be shown that the named persons are not expected to deliver the objects and animals to the palace but shall be equipped by the palace with armour, chariot and horses. It seems that the named persons lost their equipment or at least parts of it. Looking at the losses, the high amount of lost horses is astonishing. One possible solution is that the losses recorded in the tablets are the result of a battle fought by chariots near the harbour of Amnisos.
Einleitung
Im 14. und 13. Jahrhundert v. Chr. existierten in Griechenland mindestens vier große mykenische Reiche, die jeweils von den Palästen in Pylos (Messenien), Mykene (Argolis), Theben (Boiotien) und Knossos (Zentralkreta) regiert wurden.[1] Die Elitetruppen aller mykenischen Armeen waren Streitwagenkämpfer.[2] Der mykenische Streitwagen war ähnlich aufgebaut wie der hethitische, denn sein Wagenkorb war durch gespannte Rinderhäute stark geschützt, was ebenfalls darauf hindeutet, dass dieser Streitwagen als Nahkampfinstrument eingesetzt wurde. Dafür spricht auch, dass die Wagenkämpfer – e-qe-ta genannt – nicht mit Pfeil und Bogen für den Fernkampf bewaffnet waren und eine aufwendige Bronzerüstung trugen. Wie der ägyptische Streitwagen war jedoch auch der mykenische nur mit zwei Männern, dem Wagenlenker und dem Kämpfer, besetzt.[3]
In der Zeit der mykenischen Reiche konnten diese mehrere hundert Streitwagen aufstellen.[4] Sie kämpften nicht mehr einzeln wie in frühmykenischer Zeit (17./16. Jhd.), sondern in Schwadronen und in koordiniertem Einsatz. Ein solcher erforderte natürlich ein spezielles und ständiges Training für Wagenbesatzung und Pferde.
Die Bewaffnung der Wagenkämpfer bestand hauptsächlich aus einer langen Lanze und einer fast den ganzen Mann deckenden Rüstung, welche im Prinzip der Panholplie von Dendra entsprach.[5] Zusätzlich zu den archäologischen Funden und bildlichen Zeugnissen liefern auch die Linear-B-Texte Informationen über Streitwagen, insbesondere über die Organisation, Verwaltung und Logistik dieser Waffe. Sowohl in den Archiven von Knossos als auch in denen von Pylos finden sich unter anderem Tontafeln, die zeigen, dass in den Magazinen der beiden Paläste Hunderte von Rädern und Wagen gelagert wurden.[6]
Die meisten Streitwagen eines mykenischen Reiches wurden offenbar zentral im Palast gelagert und je nach Bedarf an die Truppen ausgegeben. Am Hauptsitz des Reiches befand sich auch eine ‚Reparaturwerkstatt‛, in der beschädigte Wagenteile und Räder ausgetauscht oder restauriert wurden. Dies gilt auch für die Ausrüstung der Wagenbesatzung, die gegebenenfalls aus den Beständen des Palastes ergänzt wurde.
Unter den Beständen der Archive des Jüngeren Palastes von Knossos befindet sich der so genannte „room of the chariot tablets“. Die Erforschung dieses besonderen Teils des Tontafelarchivs von Knossos ist untrennbar mit dem Namen Jan Driessen verbunden. Neben den bahnbrechenden Arbeiten zu den Schreibern der Texte dieses Raumes und der Interdependenz der Tafeln,[7] befasste er sich ausführlich mit Datierungsproblemen[8] und der Interpretation des Inhalts der Texte.[9] Daher basieren wesentliche Teile der vorliegenden Untersuchung auf den Arbeiten von Driessen.
Die Tafeln
In dem erwähnten Raum befindet sich unter anderen eine Serie (Sc) von mehr als 170 Tontafeln, die zur Klasse der „leaf shaped tablets“ gehören. Diese Tafeln, die zu den ältesten Linear B-Zeugnissen des Palastes zählen, datieren um 1380 v. Chr. und sind – wie dies meist der Fall ist – in unterschiedlichem Erhaltungszustand.
Alle Tafeln dieser Serie enthalten jeweils einen Personennamen (PN) – wohl den Namen eines e-qe-ta, eines Streitwagenkämpfers – sowie eine unterschiedliche Anzahl von Ideogrammen Die Ideogramme bezeichnen Rüstungen (TUN), eine oder zwei, Streitwagen (BIG) und Pferde (EQU), letztere mit dem Zeichen für 1 bzw. MO (monos = einzel) oder ZE (zeugos = Paar) versehen. In einigen Tafeln der Serie findet sich statt des Zeichens TUN das Ideogramm AES (Bronze).
Zweifelsohne verzeichnen diese Tafeln die notwendige Ausrüstung eines Streitwagenkämpfers, wobei die Reihenfolge der einzelnen Teile beliebig ist und nicht alle Tafeln sämtliche Ausrüstungsgegenstände nennen. Gleiches gilt auch für die Zahlenangaben für Rüstungen und Pferde. Die Erwähnung von zwei Rüstungen bedeutet offensichtlich die Ausrüstung für den Kämpfer und für den Lenker des Streitwagens.
Es stellt sich zunächst die Frage, zu welchem Zweck eine derart umfangreiche Liste von Personen und ihren diversen Ausrüstungsgegenständen im Palast von Knossos erstellt und archiviert wurde. Einige mögliche Gründe hierfür sind:
Die genannten Personen sind im Besitz der dem Palast gehörenden Ausrüstungsgegenstände (und Pferde) und müssen dafür Abgaben leisten.
Die Gegenstände und Pferde gehören dem Palast und müssen von den Benutzern zur Kontrolle vorgewiesen werden.
Die Gegenstände und Pferde gehören dem Palast und Fehlbestände sollen von diesem ‚ergänzt‘ werden.
Die Gegenstände und Pferde gehören den genannten Personen und sollen vom Palast ‚ergänzt‘ werden.
Die Gegenstände und Pferde gehören den genannten Personen, für deren Unterhalt diese vom Palast entschädigt werden.
Auf den ersten Blick scheint der Unterschied zwischen diesen Auslegungsvarianten nicht allzu groß zu sein: In allen Fällen befand sich ein Teil der Ausrüstung bereits im Besitz der einzelnen Personen, während in vielen Fällen einige Gegenstände (oder Pferde) fehlten.
Der wesentliche Unterschied in der Deutung ergibt sich aus den die ‚mangelhafte Ausrüstung‘ betreffenden Schlussfolgerungen. So sieht A. Uchitel[10] in diesen Fehlbeständen das Resultat eines mehr oder minder beklagenswerten Umganges mit den ihnen anvertrauten Ausrüstungsgegenständen. Mit anderen Worten: Die einzelnen namentlich genannten Personen hatten einst eine vollständige Ausrüstung zur Verfügung gestellt bekommen, mit der Zeit war ihnen jedoch der eine oder andere Teil (durch Verlust, Beschädigung oder Verkauf) abhandengekommen, was wiederum von der Palastverwaltung – vielleicht im Zuge von regelmäßigen Kontrollen – festgestellt und verzeichnet wurde. Das Wesentliche an dieser Deutung der Texte ist, dass sie davon ausgeht, jeder der namentlich genannten Männer hätte ursprünglich eine vollständige Ausrüstung besessen und die Tafeln der Sc-Serie hielten lediglich fest, was davon noch vorhanden war.
Mit dieser Interpretation der Texte lässt sich jedoch die (oft zitierte) Tafel Sc 226 nur schwer in Einklang bringen:
ti-ri-jo-qa BIG 1 TUN 1 EQU 1 e-ko 1
Gemäß dem vorgebrachten Verständnis der Sc-Serie wäre dieser Text somit folgendermaßen zu übersetzen: ti-ri-jo-qa besitzt (noch) einen Wagen, eine Rüstung, ein Pferd, eines habend[11]. Der (etwas kleiner geschriebene) Zusatz e-ko 1 ergibt mit diesem Interpretationsansatz keinen Sinn, zumal zu den Dingen, die ti-ri-jo-qa besitzt, zusätzlich der Besitz von einem Pferd vermerkt würde; zu erwarten wäre in diesem Fall, dass statt EQU 1 e-ko 1 (ein Pferd, eines habend) vielmehr EQU ZE 1 (ein Paar) zu erwarten wäre, wie es in den übrigen Tafeln der Sc-Serie, in denen zwei Pferde aufgeführt sind, ja auch der Fall ist.
Wesentlich plausibler erscheint eine Lesung, die auf der generellen Deutung der Sc-Serie als Verzeichnis der Dinge, welche die jeweilige Person noch zu bekommen hat, beruht: ti-ri-jo-qa hat (noch) einen Wagen, eine Rüstung, ein Pferd zu bekommen, eines hat er (schon). Natürlich ist auch Uchitel[12] dieses Problem mit dem Text Sc 226 nicht entgangen, weshalb er folgende – wohl wenig überzeugende – Lösung anbietet: „ti-ri-jo-qa hat (vom Staat) einen Wagen, eine Rüstung, ein Pferd, eines hat er (in Privatbesitz)“.
Lediglich fünf der vollständig erhaltenen Tafeln[13] verzeichnen eine komplette Ausrüstung: diesen stehen fünfzehn Tafeln gegenüber, die nur ein Pferd auflisten sowie weitere zwölf, in denen überhaupt kein Pferd aufgeführt ist. Drei dieser zwölf verzeichnen überdies auch keinen Wagen; kein Wagen ist zudem in weiteren fünf Tafeln zu finden. Allein diese Zusammenstellung macht deutlich, dass den fünf Tafeln, die eine komplette Ausrüstung verzeichnen, über dreißig gegenüberstehen, in denen zumindest ein Pferd, zuweilen jedoch auch beide, sowie der Wagen fehlen.
Zudem existieren noch sechzehn Tafeln, in denen entweder überhaupt keine Rüstung oder nur eine verzeichnet ist, bzw. das Ideogramm für diese eradiert und zuweilen durch das Zeichen für Metall überschrieben ist. Somit entsprechen nur fünf Tafeln dem oben vorgestellten ‚Idealfall‘, während insgesamt fast fünfzig Verzeichnisse mit Sicherheit hiervon abweichen. Geht man also von den einigermaßen vollständig erhaltenen Tafeln der Sc-Serie aus, verzeichnen nur ca. 10 % eine komplette Ausrüstung während 90 % den einen oder anderen ‚Gegenstand‘ nicht beinhalten.
Im Lichte dieses eindeutigen prozentuellen Verhältnisses sind wohl auch die oben genannten beiden Interpretationen zu beurteilen, welche die Aussage der gesamten Sc-Serie betreffen. Geht man nämlich davon aus – wie es etwa Uchitel tut –, dass ursprünglich jede der namentlich in der Sc-Serie genannten Personen eine komplette Ausrüstung erhalten habe und die Tafeln den noch davon vorhandenen Bestand wiedergeben, so würde dies bedeuten, dass nur 10 % aller Streitwagenkämpfer noch alle Ausrüstungsgegenstände (und Pferde) besessen hätten, während 90 % das eine oder andere Stück abhandengekommen wäre – ein Umstand, der wohl selbst bei extrem sorglosem oder kriminellem Umgang mit dem vom Palast zur Verfügung Gestellten als äußerst unwahrscheinlich einzustufen ist. Es sollte daher wohl auch unter diesem Gesichtspunkt die von Uchitel vorgelegte Deutung der Sc-Serie verworfen werden.
Schließlich sei noch ein bemerkenswerter Umstand erwähnt, der wohl gegen eine Deutung der Sc-Serie als Bestandsaufnahme der bei den einzelnen Personen noch vorhandenen Ausrüstungsgegenstände sprechen dürfte. In einigen Tafeln[14] findet sich an der Stelle des Ideogramms für „Rüstung“ das Zeichen für (Metall-)Barren (*165) oder ersteres wurde eradiert und durch letzteres überschrieben. In einem Fall[15] wurde sogar das Ideogramm für „Pferd“ eradiert und durch das Zeichen *165 ersetzt. Soll man wirklich sinnvollerweise annehmen, dass die betreffende Person das ihm anvertraute Pferd (oder die ihm übergebene Rüstung) zwar nicht mehr vorweisen konnte, stattdessen jedoch einen Metallbarren präsentiert hat?
Nimmt man nun aus den eben vorgebrachten Gründen von der Deutung Abstand, es handle sich bei der Sc-Serie um eine Bestandsaufnahme derjenigen Ausrüstungsgegenstände (einschließlich der Pferde), die sich noch im Besitz der einzelnen namentlich aufgeführten Personen befanden, so stellt sich dennoch die Frage nach dem Sinn der Tafeln dieser Serie und wie die zahlreichen schon erwähnten Abweichungen vom „Idealtyp“ (PN TUN 2 BIG 1 ZE 1) zu erklären sind.
Alternative Auslegung
Zunächst einmal ist anzumerken, dass gemeinsam mit den Tafeln der Sc-Serie eine andere Gruppe von Täfelchen gefunden wurde, die hinsichtlich der Schreiberhände und auch bezüglich der Form auf eine große – vielleicht auch inhaltliche – Nähe zur Sc-Serie schließen lassen[16]. Diese Vc(1)-Serie umfasst insgesamt 82 Tafeln, welche jeweils lediglich einen Personennamen verzeichnen. Von besonderem Interesse ist die Tafel 289, die statt eines Personennamens die Silbenfolge a-mi-ni-si-jo (amnisioi) trägt, und gleichsam als Überschrift für die gesamte Serie gedient haben könnte. Unter der Annahme eines inhaltlichen Zusammenhangs der Sc- und Vc(1)-Serien würde dies nun bedeuten, dass in der Vc(1)-Serie (wie in der Sc-Serie) ebenfalls Streitwagenkämpfer verzeichnet sind und zwar solche, die aus Amnisos stammten oder (wahrscheinlicher) in Amnisos stationiert waren[17]. Geht man nun – wie oben nahegelegt wurde – davon aus, dass die Sc-Serie diejenigen Ausrüstungsgegenstände verzeichnete, die den namentlich genannten Streitwagenkämpfern noch auszuhändigen waren, so ergibt sich zwingend der Schluss, dass die Vc(1)-Serie ausschließlich solche Streitwagenkämpfer verzeichnete, die – zumal keine Gegenstände oder Pferde genannt sind – bereits alles für ihre Ausrüstung Notwendige erhalten hatten oder aus anderen Gründen nichts mehr zu erwarten hatten.
Ein Problem für diesen Interpretationsansatz stellt die Person des ti-ri-jo-qa dar, da dieser sowohl in Sc 226 als auch in Vc(1) 303 namentlich erwähnt wird, also als Kämpfer, welcher der einen Tafel zufolge noch Rüstung, Streitwagen und ein Pferd erhalten sollte, der anderen nach jedoch bereits alles Notwendige in seinem Besitz hatte. Zwei Erklärungen bieten sich für diesen seltsamen Umstand an: Entweder handelt es sich bei ti-ri-jo-qa um zwei Personen des selben Namens oder aber die Sc-Serie entstand zu einem früheren Zeitpunkt als die Vc(1)-Serie, sodass ti-ri-jo-qa zunächst die meisten Ausrüstungsgegenstände noch zu erhalten hatte, dann aber – in der Vc(1)-Serie verzeichnet – bereits alles besaß.[18] Beide Erklärungen sind jedoch nicht wirklich befriedigend, sodass auch in Betracht gezogen werden muss, dass diese beiden Serien ungeachtet aller erwähnten Gemeinsamkeiten inhaltlich nichts miteinander zu tun haben.
Andererseits sei hier noch ein Umstand erwähnt, der die Sc-Serie in die Nähe der Vc(1)-Serie rückt. Auf insgesamt zehn Tafeln findet sich auf der Rückseite ein ‚Vermerk‘, der – ähnlich der ‚Überschrift‘ der Vc(1)-Serie – eine Ortsangabe darstellen dürfte. Fünf Tafeln[19] tragen – wie schon erwähnt – (mehr oder minder vollständig) die Aufschrift a-mi-ni-si-jo und kennzeichnen somit den jeweiligen Empfänger der verzeichneten Gegenstände als in Amnisos stationiert. Einer dieser Empfänger von Ausrüstungsgegenständen ist übrigens der in anderen Tafeln unter den militärischen Funktionsträgern genannte me-nu-wa.[20] Dieser als me-nu-wa auch im Reich von Pylos bekannte Würdenträger hatte – wie die Tafel PY An 724 nahelegt –, in Pylos eine mit der Flotte bzw. dem wichtigsten Hafen des Landes verbundene Funktion inne. Möglicherweise gilt dies auch für das Reich von Knossos, wenn man bedenkt, dass der knossische me-nu-wa in Amnisos stationiert war und Amnisos generell einer der wichtigsten Häfen Kretas war und im Speziellen als der Hafen von Knossos diente. Die fünf anderen Tafeln[21] verzeichnen übrigens unbekannte Namen, bei denen es sich vielleicht ebenfalls um Örtlichkeiten im weiteren Umkreis des Palastes von Knossos handeln könnte.
Doch nun zurück zur ungleichen Verteilung der Ausrüstungsgegenstände auf den Täfelchen der Sc-Reihe: Es stellt sich zunächst die grundlegende Frage, warum nicht alle Ausrüstungsgegenstände (einschließlich der Pferde) im dauernden Besitz derer waren, die damit umgehen mussten, nämlich der Streitwagenkämpfer. Die bloße Tatsache der Existenz dieser Aufzeichnungen im Palastarchiv von Knossos zeigt, dass dem Palast daran gelegen war, die volle Kontrolle über alle Waffen, Geräte und Pferde zu haben.[22] Dies beinhaltet jedoch nicht nur die Kenntnis darüber, wer welche Gegenstände und wie viele Pferde in Besitz hatte, sondern zweckmäßigerweise auch die dauernde Überprüfung des Zustandes des zugeteilten Gerätes, vor allem aber der Pferde. Demnach müssten also alle Waffen, Wagen und Pferde im Palast vorhanden gewesen sein und erst bei Bedarf an die Streitwagenkämpfer zu Übungseinsätzen oder im Einsatzfall ausgegeben worden sein. In den Tafeln müsste sich dies darin niederschlagen, dass jeweils das volle Repertoire (TUN 2 BIG 1 ZE 1) an die einzelnen Kämpfer ausgegeben wurde. Dies ist jedoch, wie erinnerlich, nur in etwa 10 % der Tafeln der Fall.
Es müssen demnach zwingende Gründe dafür vorhanden gewesen sein, dass der Palast nicht alle Gerätschaften und Pferde bei sich behielt, sondern einen Teil davon auch abgesehen vom Ernstfall herausgab. Bei einer Anzahl von etwa 150 in den Tafeln der Sc-Serie verzeichneten e-qe-ta ist mit einer Herde von ca. 300 bis 450 Pferden zu rechnen, die für die Streitwagen zur Verfügung stehen mussten. Bei einem Bedarf von etwa einem Hektar Weideland pro Pferd müsste zur Erhaltung dieses Pferdebestandes also eine Fläche von 300 bis 450 Hektar in unmittelbarer Nähe des Palastes vorhanden gewesen sein, eine Größenordnung, die die Möglichkeiten des Palastes wohl bei weitem überstieg. Es dürfte daher der Palastverwaltung zweckmäßig erschienen sein, eine größere Anzahl dieser Pferde den einzelnen e-qe-ta ganzjährig zur Betreuung zu übergeben, wobei es wohl von der Größe des den e-qe-ta zur Verfügung gestellten Landes abhing, ob ihnen beide Pferde anvertraut wurden oder nur eines[23]; in letzterem Falle verblieb das zweite Pferd wohl in der Betreuung durch den Palast selbst. Man darf wohl annehmen, dass diese e-qe-ta zwar nicht in unmittelbarer Umgebung des Palastes ansässig waren, jedoch auch nicht in allzu großer Entfernung von Knossos, sodass eine Ergänzung der Ausrüstung sowie die Ausgabe des zweiten Pferdes in relativ kurzer Zeit durchführbar waren, vor allem um ein regelmäßiges Training des Gespannes zu ermöglichen.
In einer solchen zeitlich bewältigbaren Entfernung lag beispielsweise Amnisos, das auf den Tafeln der Sc-Serie[24] einige Male aufscheint. Folgerichtig dürften dann viele von denjenigen e-qe-ta, denen noch beide Pferde auszufolgen waren, die also kein Pferd bei sich hatten, hauptsächlich im Palast selbst oder in unmittelbarer Nähe zu diesem ansässig gewesen sein. Es bietet sich allerdings noch eine andere Erklärung für die unterschiedliche Zuteilung von Pferden an, doch wird darauf noch weiter unten einzugehen sein.
Etwas anders stellt sich das Problem im Falle der Streitwagen dar. Hier bestand für den Palast durchaus die Möglichkeit, alle Wagen in seinen Magazinen zu lagern und die doch sehr verschleißanfälligen Gefährte permanent zu überprüfen und entsprechend zu warten bzw. gegebenenfalls zu reparieren. Anders gesagt: es bestand keine Notwendigkeit, die Wagen – außer im Einsatzfalle oder zu Übungszwecken – den e-qe-ta zu überlassen. Dafür, dass dies auch tatsächlich in der beschriebenen Weise gehandhabt wurde, legen Inventarlisten des Palastes von Knossos über komplette Streitwagen[25] (sowohl gebrauchsfähige als auch beschädigte), über Wagenkasten und gesondert aufbewahrte Räder (wiederum unterschieden in solche, die noch verwendbar waren, und solche, bei denen dies nicht der Fall war) ein beredtes Zeugnis ab.[26] Auch die Tafeln der Sc-Serie zeigen, dass die Lagerung im Palast der Regelfall gewesen zu sein scheint. Von den ca. 150 Tafeln bezeugen 92, dass der Wagen auszugeben war, sich also noch im Palastmagazin befand. Lediglich in neun Fällen kann man wohl davon ausgehen, dass der jeweilige e-qe-ta sich bereits im Besitze des Streitwagens befand.[27]
Warum aber wurde überhaupt – wenn auch sehr selten – ein Streitwagen in die Obhut eines e-qe-ta übergeben und nicht im Palast gelagert? Man könnte annehmen, dass diese neun e-qe-ta deswegen den Streitwagen bereits bekommen hatten, weil sie sich im militärischen Einsatz befanden oder diesen z. B. zu Übungszwecken verwenden mussten. Diese Annahme scheitert jedoch bereits daran, dass von diesen neun sich lediglich drei auch im Besitze beider Pferde befanden, während den übrigen sechs e-qe-ta nur ein oder noch gar kein Pferd ausgefolgt worden war, ein Umstand, der einen aktuellen Einsatz des Streitwagens wohl ausschließen dürfte.
Eine andere Erklärung könnte darin bestehen, dass die Streitwagen routinemäßig dem Palast übergeben wurden, um Reparaturarbeiten an diesen bruchanfälligen Geräten durchzuführen, worauf die häufige Erwähnung nicht gebrauchsfähiger Wagenkasten und Räder ja hindeutet. In den wenigen Fällen, in denen dies nicht geschah, war möglicherweise keinerlei Veranlassung zu dieser Maßnahme gegeben, weil der Streitwagen entweder völlig in Ordnung war, oder aber der betreffende e-qe-ta die Möglichkeit hatte, den Wagen an seinem Stationierungsort wieder instand setzen zu lassen. Dies würde jedoch bedeuten, dass – anders als bei den Wagenpferden – der übliche Aufbewahrungsort des Gerätes nicht das Palastmagazin war, sondern der jeweilige Aufenthaltsort der e-qe-ta. Der Palast diente somit nicht als ‚Lagerhalle‘ für die Streitwagen, sondern lediglich als eine – allerdings sehr häufig benutzte – Reparaturwerkstätte.
Noch schwieriger gestaltet sich die Interpretation der unterschiedlichen Ausgabe der Rüstungen in der Sc-Serie. Insgesamt sechs e-qe-ta haben keine Rüstung zu erhalten,[28] sind also offenbar im Besitz von jeweils zwei Körperpanzern. Für weitere zwölf e-qe-ta scheint das gleiche zu gelten, auf deren Tafeln zwar das ursprüngliche Zeichen für Rüstung zwar aufscheint, nachträglich jedoch eradiert wurde.[29] Dreizehn e-qe-ta hatten noch jeweils eine Rüstung zu bekommen,[30] zwanzig Streitwagenkämpfern[31] fehlten noch beide Rüstungen; in insgesamt vierundzwanzig Fällen[32] ist es nicht klar, ob sie noch einen oder zwei Körperpanzer zu bekommen hatten.
Schließlich ist noch der bemerkenswerte Umstand festzuhalten, dass an insgesamt sieben e-qe-ta statt der Rüstung(en) eine bestimmte Menge Bronze ausgefolgt werden sollte,[33] wobei in zwei Fällen[34] ursprünglich das Zeichen für Körperpanzer auf der Tafel vermerkt war, dann aber eradiert und durch das Zeichen für Metallbarren ersetzt wurde. In einem Fall[35] wurde übrigens das Ideogramm für Pferd eradiert und durch das für Metallbarren überschrieben.
In sechs Fällen scheint es sich bei den Rüstungen, die der jeweilige e-qe-ta bekommen sollte, um besondere Waffenstücke gehandelt zu haben, da in das Ideogramm TUN zusätzlich das Silbenzeichen „qe“ eingeschrieben wurde.[36] Wie sind nun diese auffallenden Unterschiede – sowohl hinsichtlich der Quantität als auch der Qualität – bei der Zuteilung der Körperpanzer an die einzelnen e-qe-ta zu verstehen? Möglicherweise gilt die Annahme einer Funktion des Palastes als Reparaturwerkstätte nicht nur für die Wagen, sondern auch für die Rüstungen. Demnach befänden sich die Körperpanzer – und zwar beide – jeweils im Besitze eines e-qe-ta und seines Wagenlenkers. Wenn die Rüstung – oder auch nur Teile derselben, wie etwa die Verbindungsstücke oder die Lederteile – beschädigt waren, wurde die gesamte Rüstung in den Palast zur Reparatur gebracht. Das Archiv des Palastes hielt demnach fest, welcher e-qe-ta wie viele Körperpanzer gerade im Palast zur Reparatur hatte, die danach an ihn wieder auszufolgen waren.
Anders als bei den Streitwagen, deren Beschädigung wohl in allen Fällen im Bruch eines Teiles bestand und somit entsprechend schwerwiegend war, konnten bei den Rüstungen Schäden unterschiedlichen Schweregrades auftreten. Auch dieser Umstand dürfte in den Tafeln festgehalten worden sein. Leichtere Schäden wurden relativ schnell repariert, sodass das Waffenstück rasch wieder an den Besitzer ausgefolgt werden konnte. In den Tafeln schlug sich dies dadurch nieder, dass die Rüstung zwar in die Tafel des betreffenden e-qe-ta als auszufolgende vermerkt, nach ihrer baldigen Übergabe jedoch sofort eradiert wurde. In Fällen schwereren Schadens verblieb der Panzer im Palast und somit auch dessen Fehlen auf der Tafel festgehalten.
In besonders schweren Fällen – man könnte gewissermaßen von Totalschäden sprechen –, in denen eine Reparatur nicht mehr möglich war, wurde statt des Ideogramms für „Rüstung“ jene Menge an Metall auf der Tafel festgehalten, die für die Herstellung eines neuen Panzers erforderlich war. War die völlige Unbrauchbarkeit sofort ersichtlich, wurde er auch umgehend als solcher in der jeweiligen Tafel registriert; wurde jedoch erst bei eingehender Überprüfung der Rüstung erkannt, dass der Körperpanzers nicht mehr repariert werden konnte, war zunächst zwar das Ideogramm für „Rüstung“ in der Tafel aufgezeichnet worden, wurde jedoch – nachdem das Ausmaß des Schadens offenbar war – durch das für „Metallbarren“ ersetzt.
Schließlich noch zu den ‚besonderen‘ Rüstungen, in deren Ideogramm das Zeichen „qe“ eingeschrieben wurde. Es liegt wohl nahe, im Zeichen „qe“ eine Abkürzung für das Wort „qe-ro2“ zu sehen,[37] welches anderen Knossostafeln zufolge[38] ein aus Metall verfertigtes jeweils paarweise auftretendes Zusatzteil zum Körperpanzer bezeichnet.[39] Das Palastarchiv verzeichnete also die Tatsache, dass einige e-qe-ta eine besonders aufwendige mit bronzenen Ergänzungsstücken versehene Rüstung zur Reparatur abgegeben und somit eine solche auch wieder zu erhalten hatten.
Geht man nun von dieser – zugegebenermaßen sehr spekulativen – Sicht der Sc-Serie als eine Art von Liste zu reparierender Rüstungen und Streitwagen aus, drängt sich wohl unvermeidbar eine Frage auf: Wie ist dieser enorme Verschleiß an Ausrüstungsgegenständen zu erklären? Auch wenn nur zwölf der e-qe-ta sowohl beide Rüstungen als auch den Wagen zur Reparatur gegeben hatten,[40] kommen immerhin weitere dreizehn Streitwagenkämpfer dazu, die einen Wagen und eine Rüstung in nicht gebrauchsfähigem Zustand besaßen; letztendlich haben fast alle der ca. 150 e-qe-ta zumindest einen Ausrüstungsgegenstand zur Reparatur im Palast. Vergleicht man diese Anzahl (150) mit der Gesamtstärke des Streitwagenkontingentes von Pylos (über 120), wird klar, wie exorbitant hoch diese Zahl von 150 e-qe-ta, die irgendeinen Verlust hinnehmen mussten, tatsächlich ist, auch wenn man davon ausgehen darf, dass diese Elitetruppe im Reich von Knossos um vieles größer war als die im pylischen Staat.[41] Mit unsachgemäßer oder nachlässiger Wartung von Wagen und Waffen allein ist dieses Phänomen daher wohl nicht befriedigend zu erklären.[42] Was also verursachte diesen großen Verschleiß an Streitwagen und Ausrüstungsgegenständen?
Historische Schlussfolgerung
Die vielleicht einzige plausible Erklärung hierfür besteht in der Annahme eines unmittelbar vor der Anfertigung der Tafeln stattgefundenen militärischen Einsatzfalles größeren Ausmaßes, d. h. einer kriegerischen Auseinandersetzung. Es ist zunächst nicht zu eruieren, um welche Schlacht es sich dabei gehandelt hat, ja nicht einmal, wer der Gegner war, worum es dabei ging, oder welchen Ausgang sie genommen hat. Lediglich die Örtlichkeit des Kampfes – doch auch dies ist nur eine vage Vermutung – könnte an der Nordküste Kretas unweit von Amnisos zu suchen sein, wenn man an die prominente Rolle denkt, die Amnisos in der örtlichen Kennzeichnung einiger Tafeln des Sc-Serie spielt. Auch die Anwesenheit des me-nu-wa, der wohl mit Flotten- oder Hafenangelegenheiten betraut war, in dieser Schlacht könnte dafür sprechen, dass die Kampfhandlungen in irgendeiner Beziehung zum wichtigen Hafen von Amnisos gestanden haben. Doch muss dies alles natürlich Spekulation bleiben.
Zu vermuten ist auch, dass diese Auseinandersetzung für die knossischen Streitwagenverbände schwer und wohl auch verlustreich gewesen sein dürfte, wenn man die großen Mengen von in diesem Kampf beschädigten Kriegsgerätes bedenkt. Unter dieser Annahme wären dann die oben als ‚Idealtypus‘ hingestellten Tafeln der Sc-Serie (PN TUN 2 BIG 1 ZE 1) wohl der ‚worst case‘ für den jeweils betreffenden e-qe-ta,[43] nämlich der Totalverlust aller Ausrüstungsgegenstände.
Nimmt man somit an, dass die Tafeln der Sc-Serie die Auswirkungen von schweren Kampfhandlungen der knossischen Streitwagentruppen bezeugen, muss noch einmal kurz auf das Problem der in den Tafeln der Sc-Serie aufgeführten Pferde eingegangen werden. Oben wurde als Erklärung für die ungleiche Zuteilung von Pferden vorgeschlagen, dass aus Gründen des beschränkten Vorhandenseins von Weideland einige Pferde in die Obhut der e-qe-ta gegeben wurde, der Großteil aber beim Palast verblieb und erst im Einsatzfalle an die e-qe-ta übergeben wurde. Unter der Annahme allerdings, dass die Sc-Reihe hinsichtlich der Streitwagen und Rüstungen die Schäden und Verluste nach einer militärischen Auseinandersetzung festhält, bietet sich auch für die Verteilung der Pferde eine andere oder zusätzliche Erklärung an. Ebenso wie bei den Rüstungen und Streitwagen könnte in den Tafeln festgehalten sein, welcher e-qe-ta eines oder beide seiner Wagenpferde im Kampf verloren hatte und dementsprechend neue Tiere aus den Herden des Palastes benötigte, um mit seinem Wagen wieder einsatzbereit zu sein.[44]
Der Inhalt der schon mehrmals paradigmatisch genannten Tafel Sc 226 müsste nach dem eben Gesagten also folgendermaßen übersetzt und interpretiert werden: (der e-qe-ta) ti-ri-jo-qa hat eine Rüstung und einen Streitwagen zu erhalten sowie ein Pferd, (denn) eines hat er noch (e-ko 1).[45] Es muss allerdings festgestellt werden, dass unter dieser Annahme die extrem hohe Anzahl von über hundert Pferden, welche in diesem Kampf getötet oder zumindest so schwer verletzt worden wären, dass sie für den Einsatz nicht mehr brauchbar waren, einer Begründung bedarf. Es wäre dies somit ein weiteres Indiz für eine äußerst schwere Auseinandersetzung zwischen dem knossischen Streitwagenkontingent und seinen Gegnern, die zu einer solchen Verlustrate geführt hat.
Es kann festgehalten werden, dass diese einzigartige Serie von Linear B-Texten aus dem Archiv von Knossos und die feststellbaren zahlreichen Unterschiede und Abweichungen vom ‚Idealtyp‘ vielleicht am plausibelsten damit erklärt werden können, dass es sich um die Feststellung von Schäden und Verlusten an Pferden und Ausrüstungsgegenständen nach schweren Kampfhandlungen handelt, die den jeweiligen Besitzern ersetzt werden mussten.
Sieht man mit einem Teil der Forschung – wie oben dargelegt – auch die Vc(1)-Serie im Zusammenhang mit der Sc-Serie, die nur Namen aber keine Ausrüstungsgegenstände und Pferde verzeichnet, so würde dies folgerichtig bedeuten, dass in dieser Serie die Namen derjenigen Streitwagenkämpfer (einschließlich des wa-na-ka) verzeichnet waren, die in diesen Kämpfen keinerlei Schaden erlitten hatten und daher auch keinen Ersatz an Material oder Pferden bekommen mussten. Mangels anderer Hinweise auf solche kriegerischen Auseinandersetzungen sowie aufgrund des Fehlens vergleichbarer Listen oder Serien aus anderen Orten der mykenischen Welt, muss diese Interpretation freilich sehr spekulativ bleiben, ein Umstand, den lediglich die Auffindung neuer Texte korrigieren könnte.
Aus dem Inhalt der oben vorgestellten Vc-Serie lässt sich allerdings vielleicht eine weitere Schlussfolgerung ziehen. Es stellt sich nämlich die Frage, warum in den Tafeln dieser Serie ausschließlich Personennamen der e-qe-ta aufgeführt sind und keine zusätzlichen Angaben vergleichbar denen der Sc-Serie gemacht werden. Möglicherweise – doch dies kann natürlich nicht bewiesen werden – handelt es sich hierbei um die Auflistung jener e-qe-ta die keine Ergänzung ihrer Ausrüstung benötigten, allerdings nicht, weil sie alle Ausrüstungsgegenstände noch besaßen, sondern weil sie bereits nicht mehr am Leben waren. Unter diesem Gesichtspunkt könnte es sich bei der Vc-Serie um eine Gefallenenliste der knossischen Streitwagenkämpfer handeln.
Dies würde auch erklären, warum der e-qe-ta ti-ri-jo-qa in beiden Listen, sowohl in der Sc-Serie als auch in der Vc-Serie aufscheint. Möglicherweise war er bei der Abfassung der Sc-Serie noch am Leben und sollte demnach eine Reihe von Ausrüstungsgegenständen ersetzt bekommen, während er beim Abfassen der Vc-List bereits seinen – wohl in der Schlacht erlittenen – Verletzungen erlegen war. Doch muss auch diese Interpretation spekulativ bleiben, solange zusätzliche Indizien für den Zweck der Vc-Liste fehlen.
Akzeptiert man nun die vorgeschlagene Interpretation der Sc-Serie, ergeben sich daraus drei weitere Schlussfolgerungen – zwei zwingende und eine mögliche:
1. Einsatz von Pferden in der Schlacht:
In der Forschung wird zuweilen – besonders von J. H. Crouwel[46] – die Ansicht vertreten, dass der mykenische Streitwagen vornehmlich als Repräsentationsmittel – vor allem im kultischen Kontext – gedient habe. Im militärischen Zusammenhang hätte er lediglich als Transportmittel Verwendung gefunden mit dem der Kämpfer zur Schlacht gebracht wurde und danach wieder abtransportiert wurde. Während des Gefechts hätte er – zusammen mit dem Wagenlenker – abseits des Kampfgeschehens gewartet. Letztlich ist diese Ansicht wohl von den Schilderungen in Homers Ilias inspiriert, in welcher diese Verwendungsweise des Streitwagens dominiert. Unterstützt würde dies durch die Tatsache, dass aus spätmykenischer Zeit keine bildlichen Darstellungen existieren, die Streitwagen im Kampfeinsatz zeigen. Dies gilt allerdings nur wenn man die Darstellungen (Fresken) aus dem Megaron von Mykene nicht als Kampfdarstellungen interpretiert.
Ungeachtet dessen zeigt die Sc-Serie, dass hier große Verluste an Körperpanzern – vor allem wenn die Rüstungen des Kämpfers und des Wagenlenkers ersetzt werden mussten – aber auch an Streitwagen und Pferden verzeichnet sind. Solche können im Zuge einer Schlacht wohl nur dann zustande gekommen sein, wenn die Streitwagen und ihre Gespannpferde unmittelbar in die Kampfhandlungen involviert waren.
2. In der Schlacht verlorene Pferde:
Betrachtet man die Zahlen der Verluste an Gerätschaften und Pferden im Detail, fällt auf, dass zwei Drittel aller der Tafeln der Sc-Serie Verluste an Streitwagen und über ein Drittel solche an Pferden verzeichnen. Bezüglich der Streitwagen darf man wohl davon ausgehen, dass nur ein kleiner Teil davon einen Totalschaden, das heißt die vollkommene Zerstörung des Geräts, erlitten haben, während die meisten einen reparaturbedürftigen Defekt (z. B. an den Rädern) zu verzeichnen hatten.
Gänzlich anders verhält es sich mit den Pferden. Hier bedeutet der registrierte Verlust sicherlich nicht, dass die betreffenden Pferde ‚reparaturbedürftig‘ waren, sondern dass sie ersetzt werden mussten, sei es, dass sie tot oder dass sie unheilbar verletzt waren. Bedenkt man hierbei zudem, dass einige der vom Verlust an Pferden betroffenen e-qe-ta nicht nur ein Pferd, sondern sogar beide verloren hatten, kann man wohl ermessen, wie exorbitant hoch der Blutzoll war, den die Pferde der Streitwagentruppen zahlen mussten.
3. Die Bedeutung dieser Schlacht:
In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde die erste mykenische Dynastie in Knossos von anderen abgelöst. Die archäologische Evidenz zeigt deutlich eine Zerstörung und einen daraufhin folgenden Umbau des Palastes, der offenbar einige Funktionen verloren hatte. Die Zerstörer und neuen Herrscher in Knossos waren ebenfalls Mykener. Mit dieser neuen Dynastie steht auch das Erscheinen von Linear B in Zusammenhang, das nunmehr die zuvor für die Verwaltung verwendete Schrift Linear A ablöste.
Zahlreiche Zerstörungen auch an anderen Orten in Kreta legen nahe, dass diese Ablöse der mykenischen Dynastien gewaltsam erfolgt ist; d. h. es müssen allenthalben Kämpfe zwischen den ‚alten‘ und den ‚neuen‘ mykenischen Herren in Kreta stattgefunden haben. Bedenkt man die zeitliche Nähe dieser gewaltsamen Ablöse in der Herrschaft zur vermutlichen Abfassung der ältesten Linear B-Zeugnisse in Knossos, erscheint folgender Zusammenhang plausibel: Vielleicht stellen die Listen Sc und Vc(1) ein Zeugnis für diese Kämpfe bzw. eine der Schlachten dar, die zwischen den ‚alten‘ und den ‚neuen‘ mykenischen Herren in Knossos stattgefunden haben. Amnisos als Schauplatz einer solchen Auseinandersetzung ist sehr wahrscheinlich, weil es als Hafen von Knossos das Einfallstor in Kreta bildete und auch den Weg ins Inland und somit zum Palast kontrollierte. Mangels anderer Indizien müssen solche Überlegungen allerdings Spekulation bleiben.
Bibliographie
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© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Aufsätze
- Die Pferde von Amnisos. Ein Wendepunkt in der Geschichte des bronzezeitlichen Kreta?
- Revolts and the Persian Great Kings: Active Involvement or Careful Abstention?
- Die Trilingue vom Letoon und das lykische Geldsystem
- Frammenti di storia assira nei Persikà di Ellanico di Lesbo e nella storiografia greca
- Gli Oreioi, Pseudo-Scilace e la Creta sud-occidentale
- Who Owned the Slaves in Lysias 1.42? The Role of Slavery in Agriculture and Criminal Violence in Classical Athens
- Living by the Clock II: The Diffusion of Clock Time in the Early Hellenistic Period
- Συνθήκη, δόγμα und decretum: Zum Ratifizierungsprozess und zur nachträglichen Erweiterung des Friedensvertrags von 197/6 v. Chr. zwischen König Philipp V. von Makedonien und Rom
- Rhetorische Kompendien im klassischen Griechenland und spätrepublikanischen Rom: Die Rhetorica ad Alexandrum und die Rhetorica ad Herennium im historischen Vergleich
- Envisioning the Panoply of the Roman Torturer
- Zur Frage der Lokalisierung des sasanidischen Vizekönigtums Gēlān im 3. Jhd. n. Chr.
- Challenging the Significance of the LALIA and the Justinianic Plague: A Reanalysis of the Archaeological Record
- Literaturkritik
- Benjamin Allgaier, Embedded Inscriptions in Herodotus and Thucydides, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022 (Philippika 157), VIII, 198 S., ISBN 978-3-447-11791-3 (brosch.), € 49,–
- Stefan Distler, Bauern und Banausen. Darstellungen des Handwerks und der Landwirtschaft in der griechischen Vasenmalerei, Wiesbaden (Reichert Verlag) 2022, 240 S., ISBN 978-3-95490-321-4 (geb.), € 110,–
- Markus Sachs, Betriebswirtschaftliches Denken und Handeln im antiken Rom, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022 (Philippika 161), 343 S., ISBN 978-3-447-11870-5 (geb.), € 89,–
- Martin T. Dinter – Charles Guérin (Hgg.), Cultural Memory in Republican and Augustan Rome, Cambridge (Cambridge University Press) 2023, XV, 400 S., 15 Abb., ISBN 978-1-009-32775-6 (geb.), £ 115,–
- Mika Kajava, Naming Gods. An Onomastic Study of Divine Epithets Derived from Roman Anthroponyms, Helsinki (Societas Scientiarum Fennica) 2022 (Commentationes Humanarum Litterarum 144), 159 S., ISBN 978-951-653-490-2 (brosch.), € 25,–
- Jean-Yves Strasser, Mémoires de champions. Corpus des palmarès, d’Octavien à Valentinien Ier, Athen (École française d’Athènes) 2021 (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 395), VIII, 840 S., 81 Abb., ISBN 978-2-86958-553-9, € 65,–
- Hansjoachim Andres, Bruderzwist. Strukturen und Methoden der Diplomatie zwischen Rom und Iran von der Teilung Armeniens bis zum Fünfzigjährigen Frieden, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2022 (Oriens et Occidens 40), 559 S., ISBN 978-3-515-13363-0 (geb.), € 104,–
- Hartmut Leppin, Paradoxe der Parrhesie. Eine antike Wortgeschichte, Tübingen (Mohr Siebeck) 2022 (Tria Corda 14), VIII, 263 S., ISBN 978-3-16-157550-1 (brosch.), € 29,–
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Aufsätze
- Die Pferde von Amnisos. Ein Wendepunkt in der Geschichte des bronzezeitlichen Kreta?
- Revolts and the Persian Great Kings: Active Involvement or Careful Abstention?
- Die Trilingue vom Letoon und das lykische Geldsystem
- Frammenti di storia assira nei Persikà di Ellanico di Lesbo e nella storiografia greca
- Gli Oreioi, Pseudo-Scilace e la Creta sud-occidentale
- Who Owned the Slaves in Lysias 1.42? The Role of Slavery in Agriculture and Criminal Violence in Classical Athens
- Living by the Clock II: The Diffusion of Clock Time in the Early Hellenistic Period
- Συνθήκη, δόγμα und decretum: Zum Ratifizierungsprozess und zur nachträglichen Erweiterung des Friedensvertrags von 197/6 v. Chr. zwischen König Philipp V. von Makedonien und Rom
- Rhetorische Kompendien im klassischen Griechenland und spätrepublikanischen Rom: Die Rhetorica ad Alexandrum und die Rhetorica ad Herennium im historischen Vergleich
- Envisioning the Panoply of the Roman Torturer
- Zur Frage der Lokalisierung des sasanidischen Vizekönigtums Gēlān im 3. Jhd. n. Chr.
- Challenging the Significance of the LALIA and the Justinianic Plague: A Reanalysis of the Archaeological Record
- Literaturkritik
- Benjamin Allgaier, Embedded Inscriptions in Herodotus and Thucydides, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022 (Philippika 157), VIII, 198 S., ISBN 978-3-447-11791-3 (brosch.), € 49,–
- Stefan Distler, Bauern und Banausen. Darstellungen des Handwerks und der Landwirtschaft in der griechischen Vasenmalerei, Wiesbaden (Reichert Verlag) 2022, 240 S., ISBN 978-3-95490-321-4 (geb.), € 110,–
- Markus Sachs, Betriebswirtschaftliches Denken und Handeln im antiken Rom, Wiesbaden (Harrassowitz Verlag) 2022 (Philippika 161), 343 S., ISBN 978-3-447-11870-5 (geb.), € 89,–
- Martin T. Dinter – Charles Guérin (Hgg.), Cultural Memory in Republican and Augustan Rome, Cambridge (Cambridge University Press) 2023, XV, 400 S., 15 Abb., ISBN 978-1-009-32775-6 (geb.), £ 115,–
- Mika Kajava, Naming Gods. An Onomastic Study of Divine Epithets Derived from Roman Anthroponyms, Helsinki (Societas Scientiarum Fennica) 2022 (Commentationes Humanarum Litterarum 144), 159 S., ISBN 978-951-653-490-2 (brosch.), € 25,–
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- Hartmut Leppin, Paradoxe der Parrhesie. Eine antike Wortgeschichte, Tübingen (Mohr Siebeck) 2022 (Tria Corda 14), VIII, 263 S., ISBN 978-3-16-157550-1 (brosch.), € 29,–