Home Akteur*innenzentrierte Spracherfahrungen und die Bedeutung von Kontext in fremdkultureller Kommunikation und Interaktion
Article Open Access

Akteur*innenzentrierte Spracherfahrungen und die Bedeutung von Kontext in fremdkultureller Kommunikation und Interaktion

  • Christina Henkel

    Christina Henkel war zuletzt wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Interkulturelle Germanistik der Universität Göttingen. Dort arbeitete sie als Projektkoordinatorin für die von der Volkswagenstiftung geförderten European Research Group des World Humanities Reports, der für die UNESCO erstellt wird, und das „Network of European Humanities in the 21st Century“ (www.neh21.net). Ihre Forschungsinteressen umfassen Interkulturalität, akteur*innenzentrierte Interaktion, Konstruktionen von Wissen und Wahrnehmung, sowie Lebensweltgestaltung und Bildungsprozesse im Spannungsfeld von Universität, Alltag und Gesellschaft.

    ORCID logo EMAIL logo
Published/Copyright: May 19, 2022

Zusammenfassung

Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen deutscher Student*innen während ihres Auslandsaufenthaltes in China zum eigenen Spracherwerb, der Bedeutung von Sprache für sie und ihren Analysen zur Kommunikation sowie deren erlebter Grenzen. Aus der Perspektive der Akteur*innen besitzt Sprache eine multidimensionale Bedeutung für den Auslandsaufenthalt. Der Spracherwerb macht einen Großteil der Motivation für den Chinaaufenthalt aus. Dies führt zu Erwartungen, die im Laufe des Aufenthaltes überprüft und neu justiert werden müssen. Dabei werden den deutschen Student*innen Grenzen der Kommunikation bewusst, die über die reine Sprachkompetenz hinausgehen und auch nicht durch die Drittsprache Englisch aufgefangen werden können. Dazu wird das Verhältnis von Sprache und Kontext diskutiert. Das Konzept des Blickwinkels aus der Interkulturellen Germanistik (auch IKG) wird von den Akteur*innen als notwendiges Referentialsystem artikuliert. Es wird sichtbar gemacht, inwieweit Begriffe der Interkulturellen Germanistik zur Erklärung von Interaktion und der Verstehens- beziehungsweise Erwerbsprozesse von Interkultureller Kompetenz beitragen können. Gleichzeitig werden diese Begriffe als Deutungswerkzeuge der Akteur*innen aufgedeckt.

Abstract

This article deals with the experiences and perceptions of German students during their stay abroad in China regarding their own language acquisition, the meaning of language for them, and their analyses of communication and its experienced limitations. From the perspective of the actors, language has a multidimensional meaning for the stay abroad. Language acquisition accounts considerably for the motivation for the stay in China. This leads to expectations that have to be reviewed and readjusted in the course of the stay. In the process, the German students become aware of the limitations of communication that go beyond pure language competence and cannot be compensated by English as a third language. To this end, the relationship between language and context is discussed. The concept of perspective from Intercultural German Studies (also IKG) is articulated by the actors as a necessary referential system. It will be made visible to what extent concepts of Intercultural German Studies can contribute to the explanation of interaction and the processes of understanding or acquiring intercultural competence. At the same time the concepts will be revealed as tools of interpretation for the actors.

1 Einleitung

Der vorliegende Beitrag beschäftigt mit den Erfahrungen und Wahrnehmungen deutscher Student*innen während ihres Auslandsstudiums in China zum eigenen Spracherwerb, der Bedeutung von Sprache für sie und ihren eigenen Analysen zur Kommunikation sowie deren erlebter Grenzen. Die Datenbasis dieses Beitrags wurde im Zuge der Feldforschung für die Dissertation Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext (Henkel 2020) erhoben. Ausgangspunkt der empirischen Datenerhebung waren Fragen danach, wie die eventuelle Isolation während eines Studienaufenthaltes überwunden sowie der Austausch gefördert werden könnten.

Vor diesem Hintergrund wird in der Dissertation aus der Perspektive der Akteur*innen nachgezeichnet, ob und in wie weit Integration stattfindet oder wie die Auslandserfahrung auf individueller Ebene wahrgenommen wird. Dazu wurden im Zeitraum vom Wintersemester 2012/13 bis zum Sommersemester 2014 30 Studierende aus sieben Fachbereichen von acht verschiedenen Universitätsstandorten in Deutschland zu ihrem Aufenthalt in Nanjing interviewt (Henkel 2020: 302–309). Die Interviews wurden hauptsächlich auf dem so genannten Gulou-Campus der Universität Nanjing geführt. Dieser liegt im Stadtzentrum und beherbergt das Wohnheim für ausländische Student*innen sowie das Unterrichtsgebäude für die verpflichtenden Chinesischkurse. Seit 2009 gibt es je nach Verkehr circa 45 Minuten entfernt einen weiteren Campus, der hauptsächlich von chinesischen Student*innen bewohnt wird. Alle Interviewpartner*innen befanden sich in der Regel gegen Ende des Bachelorstudiums oder im Masterstudium. Die Gespräche, bei denen es sich um eine Mischform aus offenem und fokussiertem Interview handelte, wurden mit 16 Studentinnen und 14 Studenten geführt. Nach den ersten Interviews, die im Sinne der Grounded Theory-Methodologie (im Folgenden auch GTM) zu Beginn offen und explorativ angelegt waren, wurde der Stil im Verlauf der Forschung fokussierter. Die qualitative Forschung stellt einen geeigneten Zugang dar, um die individuellen sozialen Dimensionen von interkulturellen Studierendenbiographien betrachten zu können und darzustellen, wie die Akteur*innen im Austausch mit der fremdkulturellen Lebenswelt Sinn zuschreiben und Verstehenskompetenz erwerben. Viele Student*innen auf der ganzen Welt gehen ins Ausland, um fremdkulturelle Lebenswelten kennenzulernen und dabei ihren Lebenslauf aufzuwerten. Dort wollen sie für ihre Rückkehr ins Heimatland sowohl formale Qualifikationen als auch Schlüsselqualifikationen erwerben. Eine der zentralen Schlüsselqualifikationen ist die der Interkulturellen Kompetenz, für die es eine Fülle von Ansätzen im wissenschaftlichen Diskurs gibt (Wierlacher 2003: 258; Bolten 2012; Rathje 2006). Pointiert zusammengefasst ist Interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit, mit Akteur*innen aus anderen Kulturen angemessen durch Interaktion und Kommunikation zu handeln.

Der vorliegende Beitrag setzt sich mit dem Teilbereich der Sprache und der Kommunikation des Komplexes von Interkultureller Kompetenz beziehungsweise des Erwerbsprozesses und den damit verbundenen Aspekten für eine als empirisch erfolgreich verstandene Interaktion aus dem Blickwinkel der Akteur*innen auseinander. Dies geschieht beispielhaft anhand der Wahrnehmung von 30 deutschen Studierenden, die in Nanjing interviewt wurden. Dabei geht es vor allem um die Frage, warum faktisch vorhandene sprachliche Fähigkeiten – anders als es von den Akteur*innen erwartet wurde – alleine nicht ausreichend für eine nachhaltige, das heißt beständig wiederkehrende Interaktion mit chinesischen Akteur*innen zu sein scheinen. Aus diesem Grund konzentriert sich dieser Beitrag auf die Erfahrungen der Akteur*innen hinsichtlich der Sprache und Kommunikation.

Zu diesem Zweck wird zunächst die Methode zur Datenerhebung näher beschrieben, um sodann auf die aus den erhobenen Daten entwickelte Kategorie der Kommunikation einzugehen. Der daran anschließende Passus liegt auf der Perspektive der Akteur*innen, für die Sprache eine multidimensionale Bedeutung für den Auslandsaufenthalt hatte. Der Spracherwerb machte einen Großteil der Motivation für den Chinaaufenthalt aus, was zu Erwartungen führte, die im Laufe des Aufenthaltes überprüft und neu justiert werden mussten. Dabei wurden den deutschen Student*innen Grenzen der Kommunikation bewusst, die über die reine Sprachkompetenz hinausgehen und auch nicht durch die Drittsprache Englisch aufgefangen werden konnten. Anschließend wird das Verhältnis von Sprache und Kontext diskutiert, um im Anschluss das Konzept des Blickwinkels aus der Interkulturellen Germanistik (auch IKG) von den Akteur*innen als notwendig wahrgenommenes Referentialsystem zu präsentieren. Dabei wird der Begriff des Blickwinkels beispielhaft als Deutungswerkzeug der Akteur*innen aufgedeckt.

2 Methode

Die zugrunde liegende Forschung basiert auf einer ethnographischen Annäherung an die Interview- beziehungsweise Gesprächspartner*innen, die hier auch Akteur*innen genannt werden. Die Grounded Theory-Methodologie, in deren Sinne die empirische Forschung durchgeführt wurde, ermöglicht es mit ihrem Zugang von der Ebene der Akteur*innen aus („bottom up“) und dem Prinzip der Offenheit, eventuelle theoretische Vorannahmen zu vermeiden; zudem dient sie weniger der Überprüfung von Thesen als im Idealfall der Thesengenerierung. Dies macht auch die Übersetzung des Wortes grounded deutlich, das im Deutschen mit gegenstandsbegründet übersetzt wird, was in den Daten begründet meint:

Auf Basis von Erfahrungsdaten aus alltagsweltlichen Kontexten werden – von einer vorläufigen Problematisierungsperspektive ausgehend – theoretische Konzepte und Modellierungen entwickelt und dabei fortwährend rekursiv an die Erfahrungsebene zurückgebunden. Die entsprechende Theorie eines sozialen Weltausschnitts bzw. eines Problemthemas wird ‚gegenstandsbegründet‘ herausgearbeitet (,grounded‘). (Breuer 2010: 39)

Die deutschen Student*innen interpretierten, konstruierten und reflektierten während ihres Chinaaufenthaltes kontinuierlich ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen und bieten damit subjektiv geprägte Daten, die das zentrale Material der Grounded Theory darstellen. Denn Studien in ihrem Sinne „[…] operieren mit der Re-/Konstruktion von Gegenstandsbildern [sic!] aus unterschiedlichen Positionen bzw. unterschiedlichen Blickwinkeln“ [Hervorhebung durch die Autorin] (Breuer 2010: 121). Weiterhin trägt dieser Zugang einer Interkulturellen Germanistik Rechnung, die sich als angewandte, mehrdimensionale Kulturwissenschaft (Wierlacher 1994) mit einem ebenso offenen wie mehrdimensionalen Kulturbegriff versteht. Die gesamte Forschung, das bedeutet Datenerhebung und Analyse, ist Akteur*innen zentriert geprägt und versteht diese zugleich als „Reiter und Tragende“ (Bausinger 1975: 9) von Kultur beziehungsweise kultureller Interaktion bei der Konstruktion von Lebenswelt (Husserl 2012 [1969]) im Sinne der Mundanphänomenologie (Schnettler 2008) oder der Konstruktion von Wirklichkeit (Berger/Luckmann 1969) durch zum Beispiel die Vergabe von Sinn (Schütz 1932; Schütz 1971) und Interaktion (Mead 1938; Blumer 2013 [1969]).

Die GTM ist ein Forschungsstil (Breuer 2010: 40; Legewie/Schwervier-Legewie 2011) zur Datenerhebung und Klassifizierung der gewonnenen Daten anhand eines spezifischen Kodierparadigmas (Glaser 1978; Strauss 1993; Strauss/Corbin 1996; Charmaz 2014), was in der zugrundeliegenden Forschung computergestützt durch die Software MAXQDA erfolgte. Zur Beschreibung der sowohl bewussten als auch unbewussten Konstruktionsprozesse der Gesprächspartner*innen stellte die konstruktivistische Perspektive der Grounded Theory nach Charmaz (2014) das geeignete Werkzeug dar. Bei der computergestützten Datenanalyse werden spezifische Kodierungen sichtbar (Breuer 2010: 75; Glaser 1992), die zu den aus Perspektive der Student*innen relevanten Kategorien für den Aufenthalt und dem Wunsch nach Interaktion führten. Diese konnten im Laufe des Forschungsprozesses zunächst zu einem Kodenetzwerk (Henkel 2020: 94) und dann zu einem ersten theoretischen Modell, einer sogenannten Interaktionsmatrix als Erfahrungsschema (Henkel 2020: 91), zusammengefasst werden. Eine zentrale Komponente dieser Matrix ist neben den entwickelten Kategorien Raum, Zeit und Identität die Kategorie der Kommunikation beziehungsweise Sprache.

3 Sprache als kulturelles Handeln – Sprachkompetenz als (inter-) kulturelle Handlungsfähigkeit

Eine einfache Definition von Sprache und ihrer Funktion gestaltet sich als schwierig (Lyons 1981: 1). Für den Begriff der Sprache stehen eine Vielzahl verschiedener sprachwissenschaftlicher Definitionen, die alle ihre Befürworter*innen und Kritiker*innen besitzen. Verkürzt dargestellt, ist Sprache im Wesentlichen ein System von semantischen und syntaktischen Regeln, die Bedeutung sichtbar machen, indem sie Zeichen und Bezeichnetes in Beziehung setzen. Im klassischen Verständnis handelt es sich dabei um internalisierte Regeln. Sprache wird definiert als ein Symbolsystem, das vor allem als Kommunikation fungiert (Sapir 1921: 8), als die Gesamtheit sprachlicher Äußerungen in einer Sprachgemeinschaft (Bloomfield 1926: 153), ein Set von Sätzen (Chomsky 1957: 13) oder etwas Dynamisches, das passiert (Halliday et al. 1964: 9). Grundsätzlich ist eine weitere Funktion von Sprache der Zugang zur Welt. Sie gestaltet diesen sowie die Lebenswelt selbst mit und dient gleichzeitig als Erfahrungsverarbeitung. Im vorliegenden Setting begegneten die Student*innen einem System, das sie nicht internalisiert haben und wurden sich infolgedessen den Grenzen von Sprache beim Zugang zur fremdkulturellen Lebenswelt und der Teilhabe daran bewusst. Die Grenzen von Sprache beschreiben, wie im Weiteren erläutert wird, nicht nur die Grenzen ihrer eigenen Kommunikationskompetenz, sondern auch die Kontextebene von kommunikativer Interaktion. Um eine Verstehenskompetenz zu entwickeln, können sowohl Sprache beziehungsweise sprachliche Handlungen, kulturelle Praktiken und Momente von Interaktion als notwendige Teilelemente für ein Gesamtverständnis betrachtet werden. Sie können beispielsweise auf Konstruktionen, Tradierung, Sinn- und Zeichenbildung sowie Funktionen und Wirkungen untersucht werden (Benthien/Velten 2002: 20; Barthes 1964).

In den Erzählungen der Student*innen kam der Sprachkompetenz als wichtige Komponente für (inter-) kulturelle Handlungsfähigkeit eine zentrale Rolle als Teil der Motivation für den Auslandsaufenthalt zu. Ihre Motivation war geprägt von der Erwartung, durch sprachliche Kompetenz, Verstehen zu fördern und Interaktion zu gestalten. Im Laufe des Aufenthaltes ist den Student*innen jedoch immer bewusster geworden, dass die angestrebte Sprachkompetenz nicht alleine der Schlüssel für das Verstehen des so genannten Anderen und der Teilhabe an der anderen Lebenswelt war. Vielmehr ist ihnen durch aktuelle praktische Erfahrung deutlich geworden, dass sich menschliche Kommunikation sowohl aus der Inhalts- als auch der Beziehungsebene zusammensetzt, was bereits in den 90er Jahren auf wissenschaftlicher Ebene theoretisch diskutiert worden ist (Watzlawick et al. 1990: 53–54).

Spracherwerb als Motivation für den Auslandsaufenthalt

Bereits vor Beginn der Reise nach China war allen deutschen Student*innen die Bedeutung von Sprache für den geplanten Studienaufenthalt in China bewusst. Dies galt vor allem für die Wahrnehmung, dass die „Weltsprache Englisch“ (Roth 2013: 60)[1], mit der bereits in anderen Zusammenhängen erfolgreich operiert worden ist, im Alltag in China kein Kapital darzustellen schien. Die chinesische Sprache galt für die Student*innen aus einem europäisch konnotierten Blickwinkel heraus, auch wenn dieser im akademischen Raum häufig mehrsprachig geprägt ist, als exotisch. Die Gesprächsteilnehmer*innen erzählten vom besonderen Reiz des Anderen und der Motivation, nicht in eine europäische Fremdsprache, sondern in etwas ganz anderes, wie es die Student*innen häufig umschrieben, einzutauchen. Eine Studentin beschrieb ihre Faszination wie folgt:[2]

„Ich habe dann sozusagen immer mehr Interesse an der Kultur gewonnen. Immer mehr Interesse vor allem an der Sprache, weil das für mich immer so eine Geheimsprache, an die ich nicht ran gekommen bin, war. So eine ganz geheime Welt, wo ganz viele Weisheiten drin stecken. […] Ich musste mir alles vorlesen lassen, ich hab mich gefühlt wie ein fünfjähriges kleines Kind. Und irgendwann hab ich mir gesagt: ‚Ich muss diese Sprache lernen.‘“ (Sabine[3]: 7[4])

Ziel eines Auslandsaufenthaltes war es für Student*innen in erster Linie, Erfahrungen zu sammeln und Kompetenzen zu erwerben, die ohne das Erleben sowie Interaktionen vor Ort nur schwer zu gewinnen sind. Zentral für die Interaktion und die Teilhabe an der fremdkulturellen Lebenswelt ist Verstehen. In der Regel leiten irritierende Erlebnisse einen Prozess des Lernens ein.[5] Verstehen war für die Student*innen der Schlüssel und das Ziel ihres Auslandsaufenthaltes. Die Intensität dieses Wunsches und die Realisierbarkeit waren dabei individuell und reichten von neuen Eindrücken über das Erlernen der Sprache bis hin zu dem Anspruch, in die fremde Kultur eintauchen zu wollen.

Im Rahmen der Feldforschung zum Thema der Interaktion deutscher Student*innen mit und in China haben sich im Sinne der Grounded Theory verschiedene Kategorien aus den Daten erhoben, die Interaktion und Verstehen begünstigen oder hemmen können. Eine zentrale Kategorie und gleichzeitig eines der primären Ziele des Auslandsaufenthaltes ist der Kompetenzgewinn von Sprache. Grundsätzlich beschrieben sich die Student*innen als zunächst optimistisch und davon überzeugt, ihre fremdsprachliche Kompetenz des Chinesischen im Land selbst durch regelmäßige Kontakte und durch Freundschaften zu verbessern, was aus ihrer Sicht die Grundlage für ein umfassenderes Verstehen bildete. Nach der Ankunft wurde auch tatsächlich die Kommunikation oder die Sprache generell als Schwierigkeit in interkulturellen Begegnungen thematisiert. Nicht nur Sprachanfänger*innen, sondern auch die Gesprächspartner*innen mit sehr guten Chinesischkenntnissen berichteten, dass sie innerhalb der Interaktionen auf Grenzen gestoßen sind. Die deutschen Student*innen dieser Datenerhebung nahmen fast ausnahmslos eine Barriere auf der kommunikativen Ebene wahr, obwohl Englisch und Deutsch von vielen Chines*innen im akademischen Kontext häufig fließend gesprochen wird und Chinesisch als Hilfssprache dienen kann. Die Anfangserwartungen wurden im Laufe des Aufenthaltes bei nahezu allen Gesprächspartner*innen entzaubert und durch neue Einschätzungen ersetzt. Stattdessen wurden nun andere Kompetenzen und Erfahrungen als die erwarteten Fähigkeiten identifiziert und als wertvoll betrachtet. Zu nennen sind hierbei unter anderem die Akzeptanz anderer Handlungsweisen und Sinnzuschreibungen oder die Überzeugung, nun auch für andere fremdkulturelle Lebenswelten gerüstet zu sein.

Erwartungen an den Spracherwerb

Durch die verpflichtenden Einstufungstests der Universität Nanjing war die jeweilige Chinesischkompetenz der 30 deutschen Student*innen leicht einzuordnen: Zwei Interviewparter*innen sprachen fließend Chinesisch, elf Lerner*innen wurden in fortgeschrittene Chinesischkurse aufgenommen, drei weitere befanden sich auf dem Niveau der Mittelstufe und elf galten als Nullanfänger*innen (davon brachen fünf Lerner*innen den Sprachkurs nach kurzer Zeit ab). Alle waren von der Gestaltbarkeit ihres Aufenthaltes und dem Wert der neuen Erfahrungen überzeugt. Sie waren motiviert, sich auf ein neues Land einzulassen und bereit, eine gewisse Offenheit dem als fremd Erwarteten entgegenzubringen und mehrheitlich dafür zu arbeiten. Die Schwierigkeiten und der Aufwand für das Erlernen der chinesischen Schrift/Sprache war ihnen bewusst, wie eine Studentin im Interview erzählte:

„Ich habe angefangen, Chinesisch zu lernen und ich finde das eigentlich auch ganz gut, auch wenn es super anstrengend ist. Aber ich finde es eigentlich echt gut, dass man so die Möglichkeit hat, Chinesisch zu lernen. Und ich weiß aber ganz genau, wenn ich das nicht weiter pflege, dann ist es ganz schnell auch wieder weg. Weil das wirklich eine Sprache ist, bei der man eben nicht nur die Sprache normal lernt, sondern auch eine neue Schrift lernt – das muss man pflegen, wirklich.“ (Maria: 164)

Einer der Hauptgründe für den Aufenthalt in China war neben dem Wunsch nach Fremderfahrung der Spracherwerb beziehungsweise dessen Vertiefung. Besonders bei den Sinolog*innen herrschte die Annahme vor, dass nur ein Aufenthalt ein kompetentes Sprach- und Kulturwissen, das über ein reines Vokabelwissen hinausgeht, ermögliche. Durch den Aufenthalt in der fremdkulturellen Lebenswelt, könnten die zuvor in Deutschland gelernten Vokabeln mit kontextrelevanten Bedeutungen aufgeladen werden und die Inhaltsebene hinter der Sprachebene werde sichtbar. Eine Sinologiestudentin beschrieb das im Folgenden näher:

„Ich denke, dass Sinologie ein aufwendiges Studienfach ist, wo man sehr viel Zeit reininvestiert, wenn man es wirklich gut machen möchte. Wenn man die Sprache vorher gelernt hat, also noch nicht mit der Kultur in Berührung gekommen ist, ist es schwierig, die Sprache so zu lernen. […] Und ich sehe da schon eine Kluft zwischen denen, die schon in China waren und aus China zurückgekommen sind. […] Also für mich war es dann eigentlich klar, dass ich unbedingt nach China möchte, um meine Sprache auch richtig zu verbessern. Und am besten halt nicht für so einen Kurzaufenthalt, sondern ein bisschen länger.“ (Janine: 7)

Beim Spracherwerb spielt nicht nur der Raumaspekt, sondern auch der Zeitfaktor eine wichtige Rolle, was den Gesprächspartner*innen bewusst war und die Planung der Studienbiographie von vornherein beeinflusste. Daher blieben elf Student*innen ein Semester lang und 19 zwei Semester lang in China. Diese Entscheidung wurde bewusst getroffen, denn ein Semester erschien zu kurz, um über den reinen Fremdsprachenerwerb noch genügend Zeit zu haben, sich der Inhalts- beziehungsweise Kontextebene hinreichend anzunähern. Eine Studentin beschrieb ihre Hoffnungen und Erwartungen, mehr als nur Worte verstehen zu lernen:

„In Deutschland ist es schwierig, Chinesisch zu lernen, weil man nicht so viel Kontakt hat mit der Sprache. […] Ich möchte gerne mehr lesen können und ich möchte mich gerne mit Chinesen mehr unterhalten können. Damit man dann vielleicht noch tiefer in die Kultur einsteigt, vielleicht auch so Sachen, so Konflikte, die vorher entstanden sind, vielleicht besser verstehen kann. […] Weil man da meistens mehr Informationen kriegt.“ (Vera: 100)

Die Akteur*innen unternahmen den Versuch, durch Sprache die chinesische Kultur aus sich heraus zu verstehen, also interkulturelle Kompetenz mit Sprache zu erwerben. Der Prozess des Verstehens ist dynamisch und begrenzt: Nicht jede Interaktion führt zu allumfassendem Verstehen, was meist an mangelnder Interaktion oder fehlender sozialer Nähe liegt. Die beiden zitierten Studentinnen vertraten den Anspruch, über den Spracherwerb auch die Kultur des gastgebenden Landes zu verstehen zu wollen und dieser mit Blick auf den Chinafokus ihres Fachstudiums näher zu kommen. Grundsätzlich wurden von den Student*innen keine kommunikativen Missverständnisse, so genannte critical incidents beschrieben, sondern vielmehr Probleme, sich anzunähern und überhaupt zu kommunizieren. Das Bewusstsein für kulturelle Differenzen wurde von den Akteur*innen weder als Hindernis der Kommunikation noch Motor für Miss-Kommunikation (vor allem im sprachlichen Bereich) gesehen. Ein zentraler Teil der Motivation für den Auslandsaufenthalt war der Wunsch nach Differenzerfahrung; und selbst Miss-Kommunikation war gewünschte Kommunikation, um eben diese erwarteten Erfahrungen zu sammeln und Verstehen zu erlernen. Bezeichnender für die erfahrenen Grenzen von Kommunikation ist hier neben der Sprachkompetenz das Verhältnis zwischen Sprache und Kontext sowie der Beziehungsebene.

Grenzen von Kommunikation (Sprache)

Als ein Hindernis für den Spracherwerb wurde oft das Thema Überlastung genannt. Dies galt sowohl für Verpflichtungen durch das Studium als auch für den Aufenthalt vor Ort und das damit verbundene ungewohnte Alltagsmanagement, was immer wieder als anstrengend bezeichnet wurde. Besonders die Student*innen der Doppelmaster-Programme hatten ein intensives Arbeitspensum. In China mussten sie Hausarbeiten für ihr Fachstudium schreiben und ihre Masterarbeiten vorbereiten. Durch die vorgeschriebenen Chinesischkurse stieg das wöchentliche Arbeitspensum um bis zu weitere 24 Semesterwochenstunden Präsenzunterricht, wobei die weitere Zeit, die für das Üben der Schriftzeichen notwendig ist, nicht eingerechnet ist. Nicht selten führte dieser Sachverhalt zu enttäuschten Erwartungen, wie eine Studentin erzählte:

„Ich habe halt auch erwartet, dass es alles ein bisschen schneller läuft. Also, dass ich schneller Fortschritte machen kann. Allerdings nehme ich da den Master ein bisschen als Hindernis wahr, weil wir halt andauernd irgendwelche Hausarbeiten schreiben müssen und wenn man gute Noten braucht, was bei mir der Fall ist, dann muss man auch ziemlich viel Zeit, Energie et cetera investieren. Ich weiß nicht, vielleicht bin ich auch noch nicht richtig in China angekommen, weil ich mit zwei Deutschen zusammenwohne. Wir sprechen natürlich immer Deutsch, mit anderen Englisch. Chinesisch spreche ich fast am wenigsten, kann man sagen, obwohl ich in China bin. Ich weiß es nicht, vielleicht könnt’ ich mehr Möglichkeiten schaffen. Aber einmal ist die Zeit halt begrenzt, man muss viel für diesen Master machen.“ (Grete: 20–32)

Die formalen Leistungsanforderungen und die vor Ort erlebten Anstrengungen des Spracherwerbs führten dazu, dass sich in der Freizeit kommunikativ mehr auf die als leichter zugänglich wahrgenommene Interaktion auf Deutsch und Englisch konzentriert wurde. Zusätzlich dazu, befanden sich die anderen Austauschstudent*innen in derselben Lebensrealität und bewegen sich damit im selben Referentialsystem. So wollten auch die anderen Student*innen, die auf Zeit in China waren, etwas erleben und gemeinsam entdecken.

„Im Ausland sucht man sich natürlich jemanden, die in derselben Situation sind. Das ist so mein Eindruck. Die haben die gleichen Probleme, die haben die gleichen Sorgen. Mit denen kann man sich auch in einer Sprache unterhalten, in der man wesentlich sicherer ist, also auf Englisch oder Deutsch. Das geht mir auch so, deshalb bin ich auch froh, meine Mitbewohnerin zu haben und auch dann die anderen Deutschen. Aber andererseits denke ich auch, dass man viel von der Kultur verpasst, wenn man nicht einfach mit den Leuten Kontakt bekommt. Also das ist mir auch wichtig. Andererseits bin ich natürlich beschränkt durch das Programm hier, weil es auch fachlich wirklich hohe Anforderungen hat. […] Aber deshalb möchte ich trotzdem irgendwie rausgehen und da was erleben. Also ich sitze dann auch da am Schreibtisch und möchte dann auch raus.“ (Claudia: 29)

Wenn die Student*innen dann ausgingen, sollte dies eher der Entspannung als der Investition in den Spracherwerb dienen. Dies mündete in räumliche und soziale Verortung von Interaktion. Die von den internationalen Student*innen auch Bubble (Blase) genannte Lebenswelt um das Ausländerwohnheim (auch Xiyuan[6] genannt) bot eine Beziehungsebene, die für China erst noch hätte erarbeitet werden müssen. Eine Studentin beschrieb den Teufelskreis der sozialen Interaktion wie folgt:

„Also, was ich anstrengend fand, war einfach, dass man im Xiyuan irgendwie in so einer Blase war. Also man hat nicht wirklich Kontakt mit Chinesen. Ja, das hat mich am Anfang sehr, sehr genervt. Ja. Man muss irgendwie sein Chinesisch erst verbessern, um mit den Chinesen in Kontakt zu kommen, aber man konnte es auch nicht, weil man nicht wirklich, ja, einfach Kontakt hatte.“ (Clara: 51)

Besonders zu Anfang des Aufenthaltes war nach eigener Aussage die Bereitschaft der Student*innen hoch, soziale Beziehungen vor allem mit Chines*innen aufzubauen. So wurden zum Beispiel gezielt über Aushänge Sprachpartnerschaften gesucht. Im Laufe des fortschreitenden Semesters schwindet die Motivation, die Treffen reduzierten sich auf ein Minimum und die Gesprächspartner*innen konzentrierten sich auf Anderes. Gründe dafür waren unter anderem die mangelnde räumliche und soziale Nähe zu Chines*innen (also das Fehlen einer Beziehungsebene), die Anforderungen im Studium und das ständige Bewusstsein der zeitlichen Befristung des Aufenthaltes. Die Student*innen, die sich für ein oder zwei Auslandssemester entschieden haben, verstehen sich selbst als Kosmopolit*innen und suchten eben nicht nur einen physischen Zugang zur fremdkulturellen Lebenswelt, sondern auch mentale Interaktion durch Austausch von Beobachtungen, Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen. Ohne Zugang zu Sprache und Kontext konnten die Akteur*innen nur bedingt in die Lage versetzt werden, Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen mit möglichen Interaktionspartner*innen auszutauschen. Die Interviewpartner*innen erklärten wahrgenommene Kommunikationsbarrieren zunächst mit Defiziten auf der Sprachebene, kamen in ihren Erläuterungen jedoch auf die Beziehungsebene zu sprechen. Ein Student mit fließenden Chinesischkenntnissen beschrieb seine Erfahrungen:

„Da merkt man halt auch, dass man eben nur irgendwie drin ist. Also man ist auch irgendwo immer so ein bisschen der Außenseiter. Also gut, vielleicht liegt das an mir, aber ich finde, auf der einen Seite ist das größte Problem bei mir sicherlich noch die Sprachbarriere. […] Zumindest mache ich jetzt am Geschichtsinstitut Unterricht. Ich komme zwar so 70, 80 Prozent mit im Unterricht, aber einiges verstehe ich dann eben doch nicht. […] Ich fühle mich zwar akzeptiert und ich mache auch ab und zu was mit den Kommilitonen da. Aber letztendlich macht man dann doch noch mehr mit den anderen Deutschen oder Europäern. Also […] ich versuche es zwar, aber ich finde auf eine wirklich so ganz enge freundschaftliche Ebene zu Chinesen eine Beziehung aufzubauen, fällt mir schwer. Ich weiß nicht, warum. Ich kann es schlecht beurteilen. Also es gibt einen Chinesen, den habe ich in einer deutschen Stadt kennengelernt. Den würde ich als guten Freund bezeichnen. Aber der konnte auch ziemlich perfekt Deutsch. Also der hat unglaublich gut Deutsch geredet. Wir haben uns auch öfters auf Chinesisch unterhalten. Bei dem hat es irgendwie so gestimmt auf einer emotionalen und intellektuellen Ebene. […] Ich weiß nicht, ob es an kulturellen Unterschieden oder der Sprachbarriere liegt.“ (Mario: 36)

Es ist naheliegend, dass sich die deutschen Student*innen bei ihren Deutungen vor allem auf sprachliche Aspekte konzentrierten, doch es wurde deutlich, dass sie sich mit dem Begriffen Sprachbarriere oder nur Barriere auch auf die Inhalts- beziehungsweise Kontextebene bezogen. Ohne gemeinsam geteilte Lebenswelt oder Referentialsysstem kann die Beziehungsebene von Kommunikation nicht erarbeitet und bewusst gemacht werden. Es steht außer Frage, dass mangelnde Sprachkompetenzen Einfluss auf Interaktionsprozesse haben, aber auch Wissen oder Nicht-Wissen über spezifische Lebensweltsegmente können als Barrieren fungieren. Die Sprache eines Landes zu kennen bedeutet nicht automatisch, die Regeln eines Landes zu verstehen:

Eine Sprache lernen heißt, sich die Sprache aneignen. Doch was ich mir aneigne, ist per se nur das Wissen über eine Sache, nicht die Sache selbst. […] Durch die Zunahme von Wissen schwindet folglich nur die lebensweltliche, nicht die soziale Fremdheit, die Unvertrautheit, nicht die Andersheit. (Münkler/Ladwig 1997: 37)

Besonders deutlich wird die Rolle der anderen Kommunikationsebenen für Verstehen und eine als befriedigend wahrgenommene Interaktion am Beispiel der Drittsprache Englisch.

Die Bedeutung der Drittsprache Englisch

Die englische Sprache ist übliches Interaktionswerkzeug im interkulturellen Hochschulraum jenseits der Auswirkungen muttersprachlicher Dominanz. Mit sprachlicher Dominanz ist hier gemeint, dass Kommunikationsteilnehmende in der eigenen Muttersprache mit Nicht-Muttersprachler*innen interagieren. Englisch stellt die Möglichkeit dar, dies als Drittsprache zu umgehen, denn dabei herrscht keine auf Muttersprachlichkeit basierende Deutungsmacht. Und doch argumentiert Jakob Roth, dass sich gerade an der „Weltsprache“ Englisch zeigen lasse, „[…] dass ein Verstehen oft an der Wirklichkeit vorbeizielt, weil die kommunizierenden Personen sich einer Fremdsprache bedienen und diese anders gebrauchen und interpretieren als das Gegenüber“ (Roth 2013: 60). Eine Studentin hatte dazu eine andere Interpretation und erzählte, dass weniger die Sprachebene ein Problem darstelle. Vielmehr machte sie den Mangel an gemeinsamen Inhalten für eine fehlende Interaktion mitverantwortlich:

„Also in Deutschland liegt das definitiv eher am Inhalt. Also die Sprache ist ja vorhanden. Chinesen, die nach Deutschland kommen, können ja Englisch definitiv. Da fehlt halt einfach der Start quasi. Also ich weiß nicht, da müsste es vielleicht auch solche Veranstaltungen geben, wie es hier jetzt gab. Diese Treffen da. Oder irgendwie Sprachpartner oder so was.“ (Stefanie: 47b)

Ein anderer Student, dessen Chinesisch fließend ist, erzählte davon, wie flexibel die Wahl zwischen Deutsch, Englisch und Chinesisch zwischen den Akteur*innen ausgehandelt wird. Die Entscheidungen wurden sowohl durch die soziale Beziehung zueinander, die jeweilige Situation beziehungsweise das Setting und den Inhalt beziehungsweise die gemeinsame Aktivität gesteuert:

„Man wählt dann einfach automatisch die einfachste Kommunikation, die Sprache, die am besten beherrscht wird von allen, die wird benutzt. Zum Beispiel Deutsch oder Chinesisch oder Englisch. Je nachdem. […] Wir sprechen viel zu viel Deutsch. Warum? Mein Chinesisch. Ich kann nicht so in die Tiefe gehen. Die sind viel besser im Deutschen als ich im Chinesischen. Also wähle ich automatisch diese, obwohl es mich ankotzt. Versuch das dann meistens zu durchbrechen. Bei einigen anderen, da bin ich es gewöhnt, eher Chinesisch zu sprechen. Bei den Juristen zum Beispiel, die sind da wirklich extrem. Die sprechen mehr Chinesisch. Nur wenn ich es nicht verstehe, sprechen sie auf Deutsch. Also die sprechen mehr Chinesisch mit mir. Also, was mir jetzt auch aufgefallen ist, man sollte sich hüten als deutscher Chinesischlerner, Sprachpartner aus der chinesischen Germanistik zu suchen. Das sage ich. Ich warne vor chinesischen Germanisten, die meisten sind so gut.“ (Kai: 168)

Den Student*innen wurde im Zuge von Spracherwerb und Kommunikationsprozessen auf praktischer Ebene bewusst, dass sich kommunikative Interaktion nicht nur von sprachlichen Fähigkeiten gesteuert wird, sondern sich auch sowohl aus einer Inhalts- als auch aus einer Beziehungsebene zusammensetzt.

4 Sprache und Kontext

Der Sinologiestudent Kai erklärte die Unterschiede auf der Inhaltsebene und die Schwierigkeiten, Bedeutungskonzepte zu transferieren:

„Wenn ich in China in meiner Art zum Beispiel irgendwas erkläre, auch auf Deutsch. […] Diese deutsche Sprachlogik, das ist ein Unterschied. Wir denken ja wirklich ein bisschen anders. Oft verstehen die es nicht. Und das liegt bei einigen nicht an der Sprache. Das liegt manchmal einfach daran, dass sie die Gedankengänge nicht nachvollziehen können oder Schwierigkeiten haben. [Zwischenfrage: Und wenn du es auf Chinesisch erklären würdest?] Dann würde ich Schwierigkeiten bekommen, es zu erklären. Es ist schwierig. Die Sprachen funktionieren anders. […] Ich frage mich ganz ehrlich, wie ein deutscher Philosoph auf Chinesisch übersetzt werden soll. Kant oder so. Es ist, glaube ich, sehr schwer. Ich glaube nicht, dass das geht. Dass man wirklich Kants Gedanken nachvollziehen kann. Weil Chinesisch ist so anders von der gesamten Art, ja. Gewisse Gedankengänge müssen massiv umgeformt werden. Die müssen sinisiert werden. Die chinesische Philosophie kann man auf Deutsch eigentlich kaum lesen, man versteht das gar nicht. Ist halt schwierig, weil ich oft das Gefühl hab, dass ich mich auf Chinesisch mit deutscher Denke[7] gar nicht richtig ausdrücken kann.“ (Kai: 179 ff.)

Der Student beschrieb, was auch andere Gesprächspartner*innen auf höherem Sprachniveau erfahren hatten: je besser die Chinesischkenntnisse, desto sichtbarer wurden Transferprobleme auf der Inhalts- beziehungsweise Kontextebene. Höheres Sprachniveau bedeutet, dass die Lerner*innen nicht nur im Rahmen konkreter Alltagssprache interagierten, sondern sich sowohl auf Ebene der Sprache als auch der des Kontexts mit Abstraktionen auseinandersetzen. Sie verstanden, was gesagt wurde, doch es ging beim Verstehen vielmehr um Nähe und Distanz als um Nichtverstehen und Missverstehen. Nichtverstehen und Missverstehen unterscheiden sich darin, „daß bei Nichtverstehen kein gemeinsames System von ‚Sprachsymbolen‘ der Kommunikationspartner perzipiert wird, wogegen bei Mißverstehen [sic!] zwar ein gemeinsames System von Sprachsymbolen besteht, diese allerdings unterschiedlich interpretiert werden“ (Bartholy 1992: 176). Verstehen unterscheidet zwischen der Bedeutung beziehungsweise dem Kontext von Assoziation und Wertung und dem einfachen Wort. Diese Bedeutungen werden in der Regel während der Sozialisation durch Erfahrung und Interpretationsleistungen gewonnen und können auch intrakulturell variieren. Vor allem bei den Nicht-Sinolog*innen, deren Sprachniveau in der Regel niedriger war und deren Spracherwerb nicht auf eine Berufsbiographie ausgelegt war, führte diese Erkenntnis zur oben genannten Dämpfung der Erwartungen, sich über Sprache allein und im vorhandenen zeitlichen Rahmen einen allumfassenden Zugang zu Verstehen und einer Teilhabe an der chinesischen Lebenswelt erarbeiten zu können. Dies hatte zur Folge, dass sie sich beim Spracherwerb auf ein konkretes, alltagstaugliches Niveau konzentrierten und damit „zufrieden“ waren. Als bedauerlich wurde ein Mangel an sozialer Nähe zu Chines*innen wahrgenommen. Ein Student versucht, die Gründe dafür näher zu erklären:

„Das ist irgendwie so: wir treffen uns zwar ab und zu, aber irgendwie fehlt da manchmal was. Und vielleicht auch, weil sie nicht gut genug in Englisch sind, manchmal was nicht verstehen, wenn ich was mit ihnen bespreche. […] Vielleicht, dass wir zu unterschiedlich sind und es gar nicht merken. […] So eine Scheu würde ich vielleicht sagen. Dass sie auch nicht so wissen, wie wir eigentlich sind. […] Und sie wollen uns praktisch ja auch so ein bisschen kennenlernen, wissen aber auch nicht so genau, wie sie da am besten vorgehen. Und dann ist da halt auch wieder die Sprachbarriere.“ (Damian: 33 ff.)

Die Akteur*innen machten während ihres Aufenthaltes Erfahrungen und Beobachtungen, denen sie Sinn zuschrieben beziehungsweise diese mit kontextspezifischen Inhalten belegten. Dabei wurden auch die Handlungen und die Kommunikationsfähigkeiten, beziehungsweise Kommunikationsbereitschaft der Interaktionspartner*innen interpretiert. Kommunikation als ein Teil von Interaktion setzt sich sowohl aus einer Sprach- als auch aus einer Beziehungsebene zusammen. Die mangelnde Interaktion, wirkte sich nicht nur negativ auf die Entwicklung der Sprachkompetenzen, sondern auch auf den Aufbau von Beziehungen aus. Ohne diese erschöpften sich die Inhalte der kommunikativen Interaktion bald und es fand keine gemeinsame Gestaltung neuer Inhalte, eine Festigung von Beziehungen und eine damit einhergehende Progression beim Spracherwerb statt.

Kultureller Kontext als Beziehungsebene von Kommunikation

Einerseits transportiert Sprache kulturellen Kontext und andererseits wird sie durch ihn gestaltet. Sprache bildet zum einen die Weltsicht von kulturellen und/oder sozialen Gruppen ab und zum anderen ist sie ein wichtiger Bestandteil bei der gemeinsamen Gestaltung von Lebenswelt in deren Prozess unter anderem Wahrnehmungen und Erfahrungen kommuniziert werden müssen. Der Erwerb von Kulturwissen erfolgt in der Regel über Sprache, die wiederum das Wissen über Bedeutungen, Sinnhaftigkeit und Handlungen transportiert: „Ohne Sprache keine Kultur“ (Maletzke 1996: 72). Menschen konstruieren Wirklichkeit durch Sprache:

Jede Sprache ist auch ein Mittel, um die Erfahrungswelt zu kategorisieren. […] Die Sprache einer Menschengruppe hängt auf das engste zusammen mit der Weltsicht dieser Gruppe. Sprache und Weltsicht sind wechselseitig aufeinander verwiesen. Einerseits wird die Weise, wie man die Welt wahrnimmt und erlebt, in hohem Maße durch die Sprache bestimmt, zugleich ist die Sprache aber auch Ausdruck des kulturspezifischen Welterlebens und formt und differenziert sich verschieden aus je nach Weltsicht und nach Bedürfnissen, Erwartungen und Motivationen verschiedener Kulturen. (Maletzke 1996: 73)

Die Motivation der deutschen Student*innen Chinesisch zu lernen war vor allem von dem Wunsch geprägt, sich durch Sprache Zugang zu den Menschen und deren Kultur zu erarbeiten. Wirklichkeit wird sowohl durch Sprache als auch durch das Wissen um Bedeutung und Kontext konstruiert. Die Konstruktion subjektiver Wirklichkeit beziehungsweise spezifischer (kultureller) Lebenswelten vollzieht sich nach Berger und Luckmann vor allem über Sprache, weshalb die Konversationsmaschine „gut geölt“ sein und ständig laufen müsse, um dies zu ermöglichen (Berger/Luckmann 1969: 165). Für die Student*innen war die Teilhabe an der (fremd-) kulturellen Lebenswelt durch Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen eine charakteristische Handlungsstrategie zur sinnhaften Ordnung und Stabilisierung nicht nur der eigenen, sondern auch der anderen Wirklichkeit. Es ist anzunehmen, dass Veränderungen der Wahrnehmung und Erkenntnisgewinn (durch beispielsweise Spracherwerb und Kulturwissen) zukünftige Wahrnehmungen der Student*innen und daraus resultierende Konstruktionen von Lebenswelt verändern.

Heike Bartholy schlägt vor, zwischen „Kommunikationsbarrieren auf der Inhaltsebene und Kommunikationsbarrieren auf der Beziehungsebene“ zu differenzieren (Bartholy 1992: 176), das bedeutet zwischen Sprache und Kontext. Auch Edward Hall setzte sich bereits mit starkem oder schwachem Kontextbezug in der Kommunikation auseinander und unterschied zwischen high context und low context. Laut Hall bedeute ein hoher Kontextbezug intrakultureller Kommunikation eine starke Rolle des Beziehungsaspekts, was einigen Raum für Interpretationen in der Kommunikation lässt. Bei Gesellschaften mit einem niedrigen Kontext hingegen stehe das Gesagte im Vordergrund und sei auch so gemeint (Hall 1989). Problematisch ist dabei allerdings, dass Halls Konzept sich auf vermeintlich homogene Gesellschaften bezieht. Bei den Betrachtungen zu (interkultureller) Kommunikation kann davon ausgegangen werden, dass gemeinsames Wissen und Erwartungshaltungen an eine Sinnhaftigkeit von Handlungen, die damit verbundenen sind, die Basis für die Teilhabe an Interaktion darstellen. Auch bei den Akteur*innen war der Wunsch nach direkten und eigenen Erfahrungen zu finden und stellte neben dem Spracherwerb einen zentralen Teil der Motivation für den Auslandsaufenthalt dar. In den Interviews wurde deutlich, dass die Kommunikation mit Chines*innen in der Regel in einem funktionalen Kontext wie beispielsweise beim Einkaufen, beim Taxifahren oder bei Restaurantbesuchen und weniger als soziale Wahl im Privaten stattfand. Dadurch war die Verfügbarkeit unterschiedlicher Inhalte und damit die Annäherung an Kontextwissen während des Auslandsaufenthaltes auf diese Bereiche beschränkt. Dieses Phänomen steht in Wechselwirkung zum Spracherwerb, der in den meisten Fällen auf dem Niveau der Alltagssprache stagnierte. Demgegenüber gestalteten die deutschen Student*innen ihre Interaktion mit anderen internationalen Austauschstudent*innen in der gemeinsam geteilten Lebenswelt um das Wohnheim und das Unterrichtsgebäude für nicht-chinesische Student*innen. Dieser Raum war nicht nur infrastrukturell durch Bars und Restaurants mit internationaler Küche, einem deutschen Bäcker und einem internationalen Lebensmittelgeschäft westlich geprägt. Die Akteur*innen kommunizierten in der Regel auf Englisch miteinander, reisten zusammen und konsumierten internationale Kulturgüter, z. B. westliche Popkultur wie Musik, Film und Mode. Dadurch gestalteten sie ihren eigenen kulturellen Kontext für ihre eigene Lebenswelt. Ihnen gemeinsam war, dass sie für begrenzte Zeit vor Ort waren, um zu entdecken. Die geteilten Alltagspraxen, der Austausch von Entdeckungen und Alltagsstrategien, so wie der Status während ihres Auslandsaufenthaltes waren wiederum der Mittelpunkt der gemeinsamen Deutungen beziehungsweise Konstruktion von Blickwinkeln. Dies hatte zur Folge, dass die Welt teilweise als vornehmlich westliche definiert und als selbstverständlich betrachtet wurde, wodurch die konstruierte Lebenswelt an sich zunächst ebenfalls als westlich erschien. Die deutschen Student*innen waren sich dessen bewusst. Die westlich gestalteten Räume galten als weniger problematisch und anstrengend, weil ihnen diese Räume vertrauter erschienen und die Orientierung erleichterten. Die als mühsam empfundene Auseinandersetzung mit der „neuen fremden Welt“ konnte weitgehend vermieden werden. Sie waren Orte des Rückzugs und der Erholung und damit notwendig für Strategien, die der Energiesicherung dienten.

„Ich glaub ja, dass die internationalen Studenten dafür sorgen, dass ich mich einfach geborgen fühle. Dass ich halt Freunde hab und dass ich [nicht] einsam bin. Das ist so der Punkt. Und wenn ich die nicht hätte, dann wahrscheinlich schon. Dann würde ich wahrscheinlich schon eher auf die Chinesen zugehen. Glaub ich schon. Das ist halt auch einfach. Ich meine, mit Englisch lernt man einfach viel schneller die Leute kennen. Ist halt der einfachere Weg.“ (Damian: 83)

Die deutschen Student*innen griffen bevorzugt auf Bekanntes und handlungsvereinfachende Strategien zurück, denn das Alltagsmanagement und die Sprachbarriere erschwerten die Beziehungsarbeit; jedoch wirkte sich die mangelnde Beziehungsarbeit wiederum auf den Spracherwerb aus. Dazu gehörte auch auf fremdsprachlicher Ebene die Beschränkung auf die wichtigsten formelhaften Redewendungen, die für sich wiederholende Abläufe des Alltags notwendig waren, was zu einer Stagnation des Spracherwerbs führen konnte:

„Also das erste Semester war ganz gut, da habe ich Fortschritte gemacht, aber dann bin ich irgendwann an so einem Punkt angekommen, glaub’ ich, wo ich so ein bisschen damit zufrieden bin. Weil ich ja im Alltag zurechtkomme, ich kann mir was zu essen bestellen, ich kann Tickets und so weiter bestellen für Zugfahrten und so weiter. […] Und ja, ich könnte schon mehr machen. […] Also ja, könnte mehr sein, aber ich bin halt längst zufrieden.“ (Damian: 30)

Die Schwierigkeiten beim Spracherwerb, die empfundene Belastung durch das Studienpensum und das Alltagsmanagement sowie mangelnde Sozialkontakte zu Chines*innen enttäuschten die Anfangserwartungen der Student*innen und waren für die Gestaltung gemeinsamer Berührungspunkte, die sie als bedeutend für eine erfolgreiche Interaktion betrachteten, hinderlich. Gleichzeitig wurde ihnen die Bedeutung von Referentialsystemen bei der Interaktion im fremdkulturellen Kontext deutlich:

„Andere Lebensrealität, langweilig, weil irgendwo so das gemeinsame Interesse oder der gemeinsame, ja der gemeinsame Blickwinkel fehlt. Und ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, man ist dann immer mehr so damit bemüht, den andern zu verstehen, aber irgendwie ist das ein Hindernis, so eine tiefere Bande aufzubauen.“ (Mario: 41)

Grundsätzlich kann eine Interaktion zwar auch nonverbal stattfinden, aber so ist die Gestaltung von sozialer Nähe und auch die Handlungsfähigkeit im fremdkulturellen Kontext eingeschränkt. Eine Funktion von gemeinsamer Sprache und geteilten Referenzialsystemen ist es, Gewissheiten aufrecht zu erhalten und sich gegenseitig Identität und Handlungen zu bestätigen. Die Relevanz von geteilten Referenzen wird auch durch die Frage deutlich, wo genau Kommunikationsbarrieren auftauchen, wenn alle Englisch, teilweise sehr gutes Deutsch oder Chinesisch sprechen. In den Gesprächen mit den Interviewpartner*innen wurden einige sowohl alltagspraktische als auch theoretisch bereits vorhandene Konzepte sichtbar. Die Akteur*innen gebrauchten bei der Beschreibung ihrer Erfahrungen und Wahrnehmungen Begriffskonzepte, die auch in der Interkulturellen Germanistik theoretisch diskutiert werden, was im Folgenden anhand des Rahmenbegriffs Blickwinkel kurz vorgestellt wird.

5 Blickwinkel als Referentialsystem von interkultureller Kommunikation

Der Begriff des Blickwinkels kam im vorliegenden Setting mehrfach zum Tragen. Zum einen tritt er als Kategorie aus den erhobenen Daten hervor und zum anderen stellte er ein lebensreales Konzept und intellektuelles Werkzeug der Akteur*innen zum Verstehen dar. Die Kulturtheoretikerin Mieke Bal beschreibt die so genannten travelling concepts (Bal 2002) als unverzichtbare Werkzeuge der Intersubjektivität. Begriffe und Konzepte ermöglichen die Diskussion auf Basis einer gemeinsamen Sprache und bieten miniature theories (Bal 2002: 22). Die Begriffe kreuzen nicht nur interdisziplinäre akademische Felder, sondern sie wandern hin und her. Zum einen waren sie im vorliegenden Setting intellektuelle Werkzeuge für die wissenschaftliche Analyse, nämlich die während der Datenerhebung angewandte Kategorienbildung in der Tradition der Grounded Theory-Methodologie. Zum anderen besaßen sie im Alltag handelnde Bedeutung, was sie als Werkzeuge der Akteur*innen auswies. Sie boten den Akteur*innen Miniaturtheorien (Bal 2002: 22) für ihre Deutungen und Erklärungen. Begriffe gestalten Alltag und sind gleichzeitig dessen Produkte, denn sie konstruieren und modifizieren die Objekte der Wahrnehmung (Bal 2002: 33). Im fremdkulturellen Alltag erhalten sie performative, also handelnde Bedeutung. So fungiert zum Beispiel der Begriff des Blickwinkels für die Gesprächspartner*innen als Miniaturtheorie. Der wahrgenommene Mangel eines gemeinsamen Blickwinkels diente als Erklärungsansatz für einen erschwerten Zugang zu sozialer und kommunikativer Interaktion. Der Begriff des Blickwinkels erwies sich gleichzeitig als ein operativer Begriff und als ein zentrales theoretisches Konzept der Interkulturellen Germanistik, das Wiedenmann und Wierlacher im Handbuch Interkulturelle Germanistik in den Diskurs einbringen und wie folgt definieren:

Theorie und Gegenstand einer Kulturwissenschaft sind sowohl ein Resultat individueller Auffassungen als auch das Produkt kultureller Kategorisierungen der Realität […]. Dieser generelle Verstehensrahmen soll im Folgenden universalistisch als Blickwinkel [Hervorhebung im Original] begriffen und dieser Begriff als Rahmenbegriff interkultureller Germanistik eingeführt werden. (Wiedenmann/Wierlacher 2003: 210)

Der Begriff des Blickwinkels war nicht nur Ausgangs- und Handlungsposition der Forscherin, sondern auch der Beforschten. Die Gesprächspartner*innen präsentierten sich als handlungsfähige Akteur*innen mit validen Deutungs- und Handlungsmustern. Auch wenn sie zunächst nicht wissenschaftlich motiviert waren, stellten sie doch Gegenstand und Grundlage interkultureller Kommunikation dar (Wiedenmann/Wierlacher 2003: 212).

Die von den Gesprächspartner*innen wahrgenommenen Barrieren für Interaktion und Teilhabe waren nicht nur auf sprachlicher, sondern auch auf inhaltlicher Ebene zu finden. Die Student*innen erklärten, dass dies ist in erster Linie an fehlenden Gemeinsamkeiten wie Erfahrungen, Referenzen, Perspektiven oder einem auch so von ihnen bezeichneten gemeinsamen Blickwinkel läge. Dieser und andere Rahmenbegriffe[8] der Interkulturellen Germanistik (und deren Erweiterung) fanden sich in den Konstruktionen der Akteur*innen wieder (Henkel 2020). Sie erweiterten und interpretierten diese unter der Prämisse des Verstehen- und Lernen-Wollens. Das Phänomen des drop-down wissenschaftlicher Konzepte in die Sprache und Reflexionen der Gesprächspartner*innen hatte Auswirkungen auf Interaktion und die Gestaltung von Lebenswelt. Die Begriffe und Konzepte waren sowohl für die Akteur*innen als auch für die wissenschaftliche Analyse intellektuelle Werkzeuge. Die Begrifflichkeiten waren gleichzeitig wissenschaftlich konzeptionell und alltäglich für die Student*innen relevant. Sie dienten als Konzepte, die die Welt erklärten und erschlossen sowie als Mittel der Kommunikation mit anderen (Gleichgesinnten) und der Selbstversicherung durch Erfahrungsaustausch. Die Gesprächspartner*innen zeigten sich als Kosmopolit*innen, die Analysefähigkeiten und ein semiwissenschaftliches Vokabular besitzen. Hier wurde eine wahrgenommene Barriere in der Interaktion und Teilhabe an Lebenswelt, die nicht alleine durch Sprache überwunden werden konnte, mit dem fehlenden gemeinsamen Blickwinkel erklärt, der auf Ebene der Akteur*innen als Referentialsystem zu verstehen war.

Neben der Kommunikationsbarriere wurde auch die soziale Raumgestaltung der so genannten Bubble um die Wohnheime für ausländische Student*innen als hinderlich wahrgenommen. Der Zugang zu Orten, an denen gemeinsame Blickwinkel vorherrschten, war einfacher. Gerade zu Beginn des Aufenthalts waren die Student*innen voller Motivation alles kennenzulernen, doch häufig wendeten sich die Student*innen gerade in der Anfangsphase dem internationalen Netzwerk zu, das alltagsrelevante Informationen bereithielt, und lösten sie sich im weiteren Verlauf nur schwer von den als mit weniger Anstrengung verbunden wahrgenommenen Strukturen der Bubble. Dort konnten sie von Erlebnissen berichten und mit anderen ausländischen Student*innen in der Bubble Erfahrungen austauschen und reflektieren. In den Gesprächen über ähnlich Erlebtes wurden Irritationen relativiert, denn andere hatten ähnliche Geschichten zu erzählen. In diesen Erzählungen entwickelte sich ein gemeinsames Vokabular (z. B. Bubble), was den Ethnospace (Appadurai 1998) Bubble weiterhin stärkte und ihn zum Rückzugsort werden ließ.

6 Zusammenfassung

Wie sich im Laufe der Datenerhebung gezeigt hat, stellen die Akteur*innen Sprache als alleiniges Referentialsystem für Verstehen in Frage. Das bedeutete aber nicht, dass keine Kommunikation oder Gestaltungsprozesse für Lebenswelt stattfanden oder diese nicht als gewinnbringend verstanden wurden. Auf praktischer lebensweltlicher Ebene nahmen die Student*innen wahr, dass zusätzlich zu Sprache kulturelle Praktiken und Momente von Interaktion notwendige Teilelemente für das Gesamtverständnis darstellen. Sprache und Sprachhandlungen ermöglichen den notwendigen Zugang, doch geteilte Lebensweltgestaltung benötigt zusätzlich eine Inhalts- und Beziehungsebene. Im Zuge von (kommunikativer) Interaktion werden neue Perspektiven und Handlungsräume geschaffen, die in Lebensweltgestaltung münden. Diese konzentrierte sich im Fallbeispiel anders als erwartet nicht auf China (Land und Menschen), sondern auf die Peer-Group der internationalen Student*innen, die sich in derselben Lebenswelt befanden und diese mit ihnen reziprok mitgestalteten. Verstehen und verstanden werden sind bedeutend für Interaktion und Teilhabe an Lebenswelt. Dies gilt auch für als gemeinsam Wahrgenommenes, das die Akteur*innen mit dem Begriff des Blickwinkels beschrieben. Primär fanden die deutschen Student*innen das Gemeinsame in den Prozessen der Gestaltung eigener Strukturen und gemeinsamer Bedeutungsschemata mit Gleichgesinnten, das heißt mit anderen ausländischen Studierenden in der Lebenswelt der Bubble. In der Datenanalyse wurden dabei Begriffe und Konzepte, die sowohl im Wissenschafts- als auch im Alltagsdiskurs zirkulieren als Deutungswerkzeuge der Akteur*innen sichtbar gemacht.

Für die Durchführung von Auslandsaufenthalten lässt sich aus der Analyse der Interviews schließen, dass es für die organisierenden Institutionen notwendig ist, soziale Nähe zu fördern und die Gestaltung gemeinsamer Referentialsysteme zu ermöglichen. Dies kann einerseits durch die räumliche Verortung der Student*innen und, andererseits durch die Organisation von Veranstaltungen und gemeinsamen regelmäßigen Aktivitäten gefördert werden. Für alle Programme ist es von Bedeutung, gleich zu Anfang des Aufenthaltes aktiv zu werden, wenn die Motivation und Begeisterung für das Neue bei den Student*innen am größten ist. Da die Kombination aus Alltagsmanagement, Studienorganisation und Spracherwerb dazu führen kann, dass den Student*innen Kapazitäten für die Gestaltung von interkultureller Interaktion fehlen, könnten hier Synergieeffekte durch zum Beispiel Patenschaften helfen. Die gemeinsame Organisation von Studium und Alltag nur unter ausländischen Student*innen beinhaltet das Risiko der Bildung einer Lebenswelt von und für internationale Student*innen geprägt von reduziertem Austausch mit der besuchten Kultur.

About the author

Dr. Christina Henkel

Christina Henkel war zuletzt wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Interkulturelle Germanistik der Universität Göttingen. Dort arbeitete sie als Projektkoordinatorin für die von der Volkswagenstiftung geförderten European Research Group des World Humanities Reports, der für die UNESCO erstellt wird, und das „Network of European Humanities in the 21st Century“ (www.neh21.net). Ihre Forschungsinteressen umfassen Interkulturalität, akteur*innenzentrierte Interaktion, Konstruktionen von Wissen und Wahrnehmung, sowie Lebensweltgestaltung und Bildungsprozesse im Spannungsfeld von Universität, Alltag und Gesellschaft.

Literaturverzeichnis

Appadurai, Arjun. 1998. Globale ethnische Räume. In: Beck, Ulrich (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 11–40.Search in Google Scholar

Bal, Mieke. 2002. Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide. Toronto: University Press.Search in Google Scholar

Barthes, Roland.1964. Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Bartholy, Heike. 1992. Barrieren in der interkulturellen Kommunikation. In: Reimann, Horst (Hrsg.): Transkulturelle Kommunikation und Weltgesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 174–191.Search in Google Scholar

Bausinger, Hermann. 1975. Zur Problematik des Kulturbegriffs. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1. S. 7–16.Search in Google Scholar

Benthien, Claudia/Velten, Hans Rudolf (Hrsg.). 2002. Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.Search in Google Scholar

Berger, Peter/Luckmann, Thomas. 1969. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer.Search in Google Scholar

Bloomfield, Leonard. 1926. A Set of Postulates for the Science of Language. In: Language 2 (3). S. 153–164. https://pure.mpg.de/rest/items/item_2282987_2/component/file_2282986/content (zuletzt aufgerufen am 15.09.2021).10.2307/408741Search in Google Scholar

Blumer, Herbert. 2013 [1969]. Symbolischer Interaktionismus. Aufsätze zu einer Wissenschaft der Interpretation. Herausgegeben von Heinz Bude und Michael Dellwing. Berlin: Suhrkamp.Search in Google Scholar

Bolten, Jürgen. 2012. Interkulturelle Kompetenz. Erfurt: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen.Search in Google Scholar

Breuer, Franz. 2010. Reflexive Grounded Theory. Eine Einführung für die Forschungspraxis, 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.Search in Google Scholar

Charmaz, Kathy. 2014. Constructing Grounded Theory, 2. Auflage. Los Angeles et al.: Sage.Search in Google Scholar

Chomsky, Noam. 1957. Syntactic Structures. The Hague: Mouton.10.1515/9783112316009Search in Google Scholar

Glaser, Barney. 1978. Theoretical Sensitivity. Advances in the Methodology of Grounded Theory. Mill Valley: Sociology Press.Search in Google Scholar

Glaser, Barney. 1992. Basics of Grounded Theory Analysis. Emergence vs. Forcing, 2. Auflage. Mill Valley: Sociology Press.Search in Google Scholar

Hall, Edward T. 1989. Beyond Culture. New York: Doubleday.Search in Google Scholar

Halliday, Michael/McIntosh, Angus/Strevens, Peter. 1964. The Linguistic Sciences and Language Teaching. London: Longmans.10.2307/3585816Search in Google Scholar

Henkel, Christina. 2020. Interaktion und Lebensweltgestaltung im fremdkulturellen Kontext. Interkulturalitätskonzepte zwischen Theorie und Praxis. Heidelberg/Berlin: Springer/Metzler. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61961-210.1007/978-3-662-61961-2Search in Google Scholar

Husserl, Edmund. 2012 [1969]. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hamburg: Meiner.10.28937/978-3-7873-2260-2Search in Google Scholar

Legewie, Heiner/Schwervier-Legewie, Barbara. 2011. „Forschung ist harte Arbeit. Es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß machen“. Anselm Strauss im Interview mit Heiner Legewie und Barbara Schwervier-Legewie. In: Meyer, Günter/Mruck, Katja (Hrsg.): Grounded Theory Reader. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 69–78.10.1007/978-3-531-93318-4_3Search in Google Scholar

Lyons, John. 1981. Language and Linguistics. An Introduction. Cambridge et al.: University Press.10.1017/CBO9780511809859Search in Google Scholar

Maletzke, Gerhard. 1996. Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen Menschen verschiedener Kulturen. Opladen: Westdeutscher Verlag.Search in Google Scholar

Mead, George Herbert. 1938. The Philosophy of the Act. Chicago: University of Chicago Press.Search in Google Scholar

Münkler, Herfried/Ladwig, Bernd. 1997. Dimensionen der Fremdheit. In: Münkler, Herfried (Hrsg.): Furcht und Faszination. Berlin: Akademischer Verlag. S. 11–44.Search in Google Scholar

Rathje, Stefanie. 2006. Interkulturelle Kompetenz – Zustand und Zukunft eines umstrittenen Konzepts. In: Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht 11 (3). https://tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/index.php/zif/article/view/396/384 (zuletzt aufgerufen am 15.09.2021).Search in Google Scholar

Roth, Hans Jakob. 2013. Kultur, Raum und Zeit. Ansätze zu einer vergleichenden Kulturtheorie. Baden- Baden: Nomos.10.5771/9783845242620Search in Google Scholar

Sapir, Edward. 1921. Language. New York: Harcourt, Brace & World, Inc.10.1017/CBO9781139629430Search in Google Scholar

Schnettler, Bernt. 2008. Mundanphänomenologie und „Ethnophänomenologie“. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Frankfurt a. M.: Campus. S. 5885–5896. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-153702 (zuletzt aufgerufen am 15.09.2021).Search in Google Scholar

Schütz, Alfred. 1932. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien: Julius Springer.10.1007/978-3-7091-3108-4Search in Google Scholar

Schütz, Alfred. 1971. Gesammelte Aufsätze 1. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Den Haag: Nijhoff.Search in Google Scholar

Strauss, Anselm. 1993. Continual permutations of action. New York et al.: Aldine de Gruyter.10.4324/9781351328562Search in Google Scholar

Strauss, Anselm/Corbin, Juliet. 1996. Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.Search in Google Scholar

Watzlawick, Paul/Bavelas, Janet/Jackson, Don (Hrsg.). 1990. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, 8., unveränderte Auflage. Bern et al.: Huber.Search in Google Scholar

Wiedenmann, Ursula/Wierlacher, Alois. 2003. Blickwinkel. In: Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart: Metzler. S. 210–214.Search in Google Scholar

Wierlacher, Alois. 1994. Zur Entwicklungsgeschichte und Systematik interkultureller Germanistik (1984–1994). Einige Antworten auf die Frage: Was heißt „interkulturelle Germanistik“? In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 20, S. 37–56.Search in Google Scholar

Wierlacher, Alois. 2003. Interkulturalität. In: Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart: Metzler. S. 257–264.10.1007/978-3-476-05010-6Search in Google Scholar

Wierlacher, Alois/Bogner, Andrea (Hrsg.). 2003. Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart: Metzler.10.1007/978-3-476-05010-6Search in Google Scholar

Published Online: 2022-05-19
Published in Print: 2022-07-26

© 2022 Christina Henkel, published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/ifdck-2022-0006/html
Scroll to top button