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Das Ende des Aufstiegs? Die Idee von einer „Abschließung des Ritterstandes“ neu gedacht

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Veröffentlicht/Copyright: 2. April 2025
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Zusammenfassung

Lange Zeit ging die Geschichtsforschung davon aus, dass sich der Niederadel im deutschsprachigen Raum zum Ende des Hochmittelalters zu einem geschlossenen Stand formierte. Diese Idee von einer „Abschließung des Ritterstandes“ liegt zahlreichen adels- und gesellschaftsgeschichtlichen Arbeiten zugrunde, ist aber in jüngerer Zeit vermehrt in die Kritik geraten. Daher muss dieses wirkmächtige Paradigma auf den Prüfstand gestellt werden. Einerseits basiert die Abschließungsthese auf einer Reihe vor allem königlicher und kaiserlicher Erlasse des 12. und 13. Jahrhunderts, hat also ihre Wurzeln in einem normativen Zugriffsversuch auf den sich formierenden Niederadel. Andererseits war eben dieser Niederadel über Jahrhunderte ein fluides Gebilde, das sich erst langsam und in diversen Entwicklungsschritten festigte und Barrieren errichtete. Angesichts dieser sozialen Dynamik ist die Idee einer ständischen Abschließung im Mittelalter nicht länger haltbar.

Abstract

For a long time, historical research assumed that the lower nobility in German-speaking countries formed a closed class towards the end of the High Middle Ages. This idea of a “closure of the knightly estate” (“Abschließung des Ritterstandes”) has been the basis of numerous works on the history of the nobility and society as such, but has increasingly been criticised in recent times. Thus this powerful paradigm must be scrutinised. On the one hand, the thesis of a closure is based on a series of royal and imperial decrees from the 12th and 13th centuries, and thus has its roots in an attempt to gain normative control of the emerging lower nobility. On the other hand, this lower nobility was a fluid entity for centuries, which consolidated and erected barriers slowly and in various stages of development. In view of this social dynamic, the idea of an enclosure of the knightly estate in the Middle Ages is no longer tenable.

Adel ist eine Konvention.[1] Dies mag heute evident erscheinen, da es „den Adel“ als bevorrechtigte Gruppe seit über einem Jahrhundert de jure nicht mehr gibt. Diese Einsicht gilt aber auch für jegliche vormoderne Epoche und natürlich ebenso für das hohe und späte Mittelalter.[2] Denn Adel war auch im Mittelalter kein gottgegebenes Faktum menschlichen Daseins, sondern das Produkt eines gesellschaftlichen Konsenses. Eine Gruppe von genügender Größe war sich darüber einig, dass es innerhalb der Gesellschaft als solcher eine besonders herausgehobene Sondergruppe an Familien und Individuen gab, die als adelig galten. Daher war es dieser Konsens über Existenz und Anerkennung eines sozialen Sonderstatus, der dessen Existenz überhaupt ermöglichte.

Beruht die Definition einer Gruppe aber auf der Definitionsmacht der Innen- oder Außenstehenden, bedeutet dies letztlich, dass eine Änderung dieser Definition auch das soziale Gefüge der Gruppe ändern kann. Diese an die größere gesellschaftliche Entwicklung gekoppelte Dynamik bedingt trotz aller Kontinuität einen gewissen Grad der Flexibilität des Adels und der zu dieser Großgruppe gehörenden Personen. Im Folgenden soll es daher um einen wichtigen Entwicklungsschritt in der Sozialgeschichte des Adels gehen, der sowohl für die Gruppendefinition als auch für die Frage nach der Wechselwirkung von Exklusivität und Flexibilität große Bedeutung besitzt: die Idee einer „Abschließung“ der Ritterschaft bzw. des Niederadels.

Zwar erscheint Adel letztlich als eine anthropologische Konstante der europäischen Vormoderne, da er in allen Epochen auf die eine oder andere Art zu finden ist. Dies sollte aber nicht verdecken, dass er steten Aushandlungsprozessen und steten Wandlungen ausgesetzt war. Jedoch fordert die Komplexität des Adels nicht nur zur Differenzierung zwischen einzelnen Epochen, sondern auch zwischen einzelnen Regionen auf.[3] Denn der Adel der Karolingerzeit ist nicht identisch mit dem Adel der Stauferzeit, der rheinische Adel des 14. Jahrhunderts nicht mit dem Schweizer Adel des 14. Jahrhunderts – die Reihe ließe sich beliebig fortsetzten. Wenn im Folgenden also Aussagen von einer größeren Reichweite angestrebt werden, kann dies nur vor diesem Hintergrund der zeitlichen und regionalen Varianz des Adelsbegriffs geschehen.[4] Der zeitliche Aspekt ist im Fall der vorliegenden Untersuchung einfacher zu bestimmen, denn die Idee der „Abschließung des Ritterstandes“ gibt bereits eine zeitliche Koordinate vor. In räumlicher Hinsicht soll die Aufmerksamkeit dabei vor allem auf dem Nordwesten des Reichs liegen, wohl wissend, dass die diskutierten Entwicklungen in anderen Regionen anders ausgesehen haben mögen.[5] Der Fokus auf einen kulturell und ökonomisch vernetzen Raum vom Rand der Mittelgebirge bis zur Nordsee genügt aber, um einige prägnante Entwicklungen herauszuarbeiten, die zu weiteren Arbeiten anregen mögen. Dabei ist die Abschließungsdebatte nur in Teilen ein Diskurs der deutschen Geschichte – denn einerseits lassen sich Teilprozesse auch jenseits der Reichsgrenzen beobachten, andererseits weist die Entwicklung aber einige Elemente auf, die charakteristisch für den weiteren deutschsprachigen Raum sind.

Dafür gilt es nun zunächst, den Ritterbegriff zu konkretisieren, um dann die zentralen Quellenpassagen der Abschließungsthese in den Blick zu nehmen. Von diesen normativen Regulierungsversuchen ausgehend, soll darauf die faktische Entwicklung des ritterbürtigen Niederadels untersucht und mit diesen abgeglichen werden. Am Ende der folgenden Überlegungen steht eine alternative Erklärung jener grundlegenden sozialen Prozesse, die auch die Abschließungsthese zu beschreiben sucht.

I. Der Ritterbegriff

Das Ziel der folgenden Ausführungen ist es, eine wirkmächtige und global formulierte These in den Blick zu nehmen und zu überdenken, die konstitutiv für die deutsche Adelsforschung war und ist: die „Abschließung des Ritterstandes“. Bevor es aber um die konkrete Auseinandersetzung mit dieser These geht, muss erst das Verständnis des zugrundeliegenden Ritterbegriffs geschärft werden. Denn die Geschichte und Bedeutungsvarianz des „Ritters“ ist ähnlich komplex wie die des „Adels“.[6] Dass man von Rittern spricht, wenn Adel gemeint ist – und oft auch umgekehrt – kommt nicht von ungefähr, denn beide Phänomene sind eng miteinander verbunden. Deckungsgleich sind sie aber nicht, denn weder waren alle Ritter adlig, noch waren alle Adligen Ritter.[7]

Die Entwicklungsgeschichte des Ritterbegriffs zieht sich über Jahrhunderte, während derer immer wieder neue Bedeutungen an ihn angedockt wurden, ohne dass eine der älteren Konnotationen je wirklich verloren ging.[8] Als mittelhochdeutsche Übersetzung für „miles“ ist der Begriff „rit(t)er“ / „ridder“ ab dem 11. Jahrhundert belegt. Er stand zunächst für den Krieger an sich und fokussierte sich erst um 1170 auf den schwer gepanzerten Reiterkrieger. Dieser Fokus auf das Kriegerische ist dem Ritterbegriff in all seinen Facetten gemein, wenn auch in unterschiedlicher Präsenz. Wesentliches Charakteristikum war der Dienst für einen Herrn, Fürsten oder König, weswegen der Ritterbegriff im 12. Jahrhundert auf sozialer Ebene mit der aufstrebenden Ministerialität verbunden wurde.[9] Aber nicht nur der Dienstgedanke, sondern auch der Aspekt des Alters wohnten dem Ritterbegriff (zunächst) inne. Denn das Rittersein war eng mit dem Ritual der Mannwerdung verbunden, das den Schritt vom Knaben zum Erwachsenen, vom Beschützten zum Kämpfer und Beschützer markierte. Vor allem im hochmittelalterlichen Adel wurde es durch die formelle Umgürtung mit einem Schwert vollzogen, die signalisierte, dass sein Träger nun zu einem Mann geworden war – mithin zu einem Kämpfer, einem Ritter.[10]

Dieses Ritual wurde jedoch zusehends vom Aspekt des Alters entkoppelt, sodass „Ritter“ letztlich eine vor allem soziale Würde wurde, die ihren Träger vor anderen auszeichnete. Aus dem Ritterbegriff war nun ein Titel geworden, der sich in jungen Jahren, aber auch in fortgeschrittenem Alter erwerben ließ.[11] Als Titel mit Auszeichnungscharakter wurde er in Urkunden, auf Epitaphien und anderen Schriftträgern in direkter Verbindung mit dem Namen verzeichnet, war unmittelbar an die Person gebunden und nicht vererbbar.[12] Damit wurde „Ritter“ noch stärker zu einer Selbstrepräsentationsstrategie, die nicht nur visuell durch ein entsprechend gerüstetes Auftreten erfahrbar war, sondern schriftlich für Zeitgenossen wie Nachwelt fixiert werden konnte.

Erwähnenswert, wenngleich im Folgenden ausgeklammert, bleibt hier die höfische Seite des Begriffs, also der Kanon der als „ritterlich“ bezeichneten Werte und Tugenden, die weit über das eigentlich Kriegerische hinausgingen und sich auf das soziokulturelle Zusammenleben bezogen.[13] Dies spielt jedoch für die hier interessierenden Phänomene eine nachgeordnete Rolle. Das also, was in der anglophonen Forschung als „chivalry“ bezeichnet wird und sich auf „Ritterschaft“ als übergeordnete kulturelle Praktik und Handlungsideal bezieht, steht nicht im Fokus der folgenden Ausführungen.[14]

Der Reiterkrieger als militärische Elite und der Rittertitel als Moment sozialer Distinktion sind zwei zentrale Wurzeln, aus denen das erwuchs, was als „Ritterstand“ bezeichnet wurde.[15] Denn das Rittersein erhielt eine genealogische Komponente, die es immer enger an eine bestimmte soziale Gruppe band, wodurch der zunächst individuell auf Kriegsdienst und Titeln basierte soziale Status erblich wurde. Da er nun nicht mehr nur durch den Verdienst des Einzelnen erworben, sondern qua Geburt weitergegeben wurde, spricht man in diesem Kontext von „Ritterbürtigkeit“ und „ritterbürtigen Familien“.[16] Die fortschreitende Territorialisierung bedingte, dass diese Familien als Gruppe einem Territorium als Referenzrahmen ihres Wirkens zugeordnet wurden. Im Reich entstanden also zahlreiche territoriale Ritterschaften, die in der Frühen Neuzeit zu einem festen Landstand wurden.[17] Mit diesen schlagwortartigen Entwicklungsstufen sind zwar wichtige Phasen markiert, die eigene chronologische Schwerpunkte ausbildeten, dennoch überlappten sie sich in großen Teilen und zeitigten parallele Phänomene.

II. Die normative Grundlage: Die Abschließungsthese und ihre Quellen

Wie lässt sich nun die „Abschließung des Ritterstandes“ in dieser Entwicklungsgeschichte verorten? Nach einer ersten, 1940 publizierten Synthese durch den vor Stalingrad gefallenen, überzeugten Nationalsozialisten[18] Eberhard Otto[19] prägte vor allem Josef Fleckenstein diese These durch einen oft zitierten Aufsatz, den er 1974 zum „Problem der Abschließung des Ritterstandes“ veröffentlichte.[20] Fleckenstein geht, die Argumentation Ottos aufgreifend und ausbauend, davon aus, dass infolge mehrerer Erlasse der Stauferkaiser in der zweiten Hälfte des 12. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Ritter als soziale Gruppe unter Friedrich II. rechtlich abgeschlossen worden seien. Als die maßgeblichen Schritte hierhin benennt er die „Constitutio de pace tenenda“ Kaiser Friedrichs I. von 1152, die gerichtliche Zweikämpfe nur noch Männern ritterlicher Herkunft erlaubte, gefolgt von der „Constitutio contra incendiarios“ desselben Kaisers von 1186, die allen Söhnen von Bauern, Priestern und Diakonen den Erwerb des Rittergürtels verbot.[21] Den finalen Schritt sah Fleckenstein 1231 in den Konstitutionen von Melfi Friedrichs II., in denen verfügt wurde, dass niemand ohne Genehmigung des Herrschers zum Ritter werden solle, der nicht einem ritterlichen Geschlecht entstamme.[22] Fleckenstein nahm diese nur für das Königreich Sizilien geltenden Konstitutionen als Leitnorm auch für das eigentliche Reich an. Fortan sei es demnach gesetzlich verboten gewesen, Männer ohne ritterliche Väter zu Rittern zu erheben.[23] Bereits Otto hatte hier von einem „völligen Ausschluß jeden Zuwachses“[24] gesprochen.

Der Terminus „Abschließung“ suggeriert also, dass die soziale Dynamik des Hochmittelalters um die Mitte des 13. Jahrhunderts einer „ständischen“ Statik wich. Die Ritterbürtigen seien fortan eine horizontale Schicht, ein fester Stand zwischen Nichtadel und Fürsten gewesen. Dieser Abschließungsprozess habe in zwei Richtungen gewirkt und einerseits die Ritter nach unten gegen Aufsteiger abgeschottet und andererseits den hohen und den niederen Adel voneinander getrennt.[25] Daher sei durch diese Abschließung der deutsche Niederadel in seiner spätmittelalterlichen Form erst geschaffen worden. Allerdings muss betont werden, dass Fleckenstein gegenüber Otto die Abschließung nicht als unerschütterliche Grenze nach unten betrachtete, sondern auf eine gewisse Durchlässigkeit derselben verwies.[26]

Fleckensteins These wurde vielfach aufgegriffen und fand unter anderem Eingang in Werner Paravicinis Band der Enzyklopädie deutscher Geschichte über „Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters“, der die Abschließung der Ritterschaft nach unten um das Jahr 1300 datiert.[27] Wie bei griffigen Ideen üblich, diffundierte die These von genuin adelsgeschichtlichen Arbeiten in weitere wissenschaftliche Kreise. So legt Thomas Biller seiner wichtigen Arbeit über die deutsche Adelsburg die Idee von einem „spätmittelalterliche[n], geschlossene[n] Ritterstand“[28] zugrunde und baut von hier aus seine Aussagen über die sozialgeschichtliche Rolle von Burgen auf. Ähnlich geht auch Uwe Albrecht in seinem Buch über den „Adelssitz im Mittelalter“ vor und beginnt seine Ausführungen mit einem undifferenzierten Konzept „des Ritterstandes“.[29] Aber auch in genuin historischen Arbeiten lässt sich Ähnliches beobachten, vor allem dann, wenn mit zeitlichem Abstand – und begrenztem Platz – die Differenzierung schwindet. So meint etwa Andreas Müller in seiner Monographie über die Ritterschaft im Herzogtum Westfalen der Frühen Neuzeit, dass als ritterbürtig nur jene Familien gegolten hätten, die bereits um 1300 zum Niederadel gehört hatten[30] – dies ist die Abschließungsthese in andere Gewänder gekleidet. Aber auch Mediävisten griffen und greifen dies gerne auf. Christian von Arnswaldt spricht in seiner Untersuchung der Lüneburger Ritterschaft vom „fest abgegrenzte[n] ritterliche[n] Geburtsstand“[31] und Michael Lagers geht in seiner Betrachtung des Paderborner Stiftsadel davon aus, dass die „Formierung der Ritterschaft zu einem homogenen Berufsstand“[32] im 12. Jahrhundert abgeschlossen worden sei.

Gewisse Probleme mit dem Konzept lassen sich bereits bei Heinz Dopsch erahnen, der einerseits die Abschließung der österreichischen und steirischen Ritterschaften ins 14. Jahrhundert datiert, aber zugleich auf der Basis seines Quellenmaterials konstatiert, dass eine „rege soziale Mobilität, vor allem zwischen Rittern und Bürgern […], eigentlich nie ganz aufgehört“[33] habe. Zugleich hat die Abschließungsthese auch einigen Widerspruch erfahren, darunter von Joachim Bumke, Manuel Hagemann oder Stefan Frey.[34] Besonders pointiert formuliert es Kurt Andermann, der feststellt:

„So hat es auch die Abschließung des Ritterstandes, wie sie postuliert wurde, als man von den Geburtsständen und ihren Schranken noch einigermaßen festgefügte Vorstellungen hatte, in dieser Weise nie gegeben.“[35]

Aufgrund dieser unterschiedlichen Beurteilungen scheint es geboten, die zentralen Quellen, die den Kern der Argumentation sowohl Ottos als auch Fleckensteins ausmachen, nochmals genauer zu betrachten – denn sie stützen die herkömmliche Interpretation zunächst durchaus, wenn auch nur in Teilen. So wird in der am Beginn der Argumentationskette stehenden „Constitutio de pace tenenda Friedrichs I. vor allem deutlich, dass „miles“ und „rusticus“ als zwei getrennte rechtliche Kategorien betrachtet wurden.[36] In der „Constitutio contra incendiarios“ von 1186 wird diese Dichotomie erweitert und neben den Söhnen von Bauern auch jene von Priestern und Diakonen vom Erwerb des Rittergürtels ausgeschlossen.[37] Damit ist aber auch zu Ende des 12. Jahrhunderts nicht das gesamte Gesellschaftsspektrum abgedeckt, denn etwa Kaufleute und Stadtbürger – dies wird gerne übersehen – finden hier keine Erwähnung. Diese Erweiterung des von den Verboten betroffenen Personenkreises dürfte auch eher gegen unehelich und damit „unehrenhaft“ geborene Prätendenten gerichtet sein, deren Väter das Zölibat gebrochen hatten. Klarer und umfassender formulierten es die Konstitutionen von Melfi, in denen Friedrich II. keine spezifischen Gruppen mehr nannte, sondern grundsätzlich verfügte‚ dass niemand Zugang zu ritterlichen Ehren haben solle, der nicht ritterlichem Geschlecht entstammte, es sei denn, der „princeps“ erlaube es.[38] Friedrich II. mag sich hier einerseits auf die Bestimmungen seines kaiserlichen Großvaters bezogen haben, griff aber auch auf normannisches Recht zurück.[39] Bereits König Roger II. hatte um 1140 festgelegt, dass all jene, die gegen Recht und Wohlergehen des Königsreichs die „nova militia“ an sich gerissen hätten, Namen und den Beruf des Ritters („militie nomine et professione“) verlieren sollten – es sei denn, sie entstammten ritterlichem Geschlecht („a militari genere“).[40] Auch wenn etwa Hans Niese hierin den Ursprung der Abschließung des Ritterstandes sah[41], geht es hier um keine generelle „geburtsständische“ Beschränkung der Ritterwürde, sondern um die Möglichkeit der Aberkennung dieser Würde durch den König. Später ist dieselbe Bestrebung auch aus Frankreich belegt, wo der König dem Grafen von Flandern im Jahr 1280 verbot, einen „villanus sine auctoritate Regis“ zum „miles“ zu machen.[42] Aus dem Reich ist aus der Zeit König Rudolfs von Habsburg (1273–1291) ein Formular erhalten, in dem der König gemäß „nostris constitutionibus“ einen Mann, dessen Vater „miles non esset“, durch seine königliche „licencia“ den Rittergürtel erteilt.[43]

Die faktische Existenz dieser königlichen und kaiserlichen Versuche der Einschränkung der Ritterwürde ist also unbestreitbar. Dennoch sind die Existenz eines Gesetzes und dessen Befolgung und Durchsetzung bekanntlich nicht dasselbe. Vor allem die königlichen Vorbehalte über die Erhebung nichtritterlicher Männer lassen die Idee einer am herrscherlichen Hof versammelten Elite der „milites“ erkennen, wie sie Jan Keupp für die Zeit Friedrichs II. herausgearbeitet hat. So sah der Kaiser nach Keupp in den Rittern eine besondere Gruppe gut erzogener Adelssöhne, die als Ausweis imperialer Macht dienten.[44] Es ist also fraglich, ob die Erlasse wirklich darauf ausgerichtet waren, den Niederadel als soziale Gruppe abzuschließen, oder ob sie nicht gerade angesichts der Relevanz dieser sich formierenden Elite einen stärkeren Zugriff des Königtums gewähren sollten.[45] Sollte dies der Plan gewesen sein, scheiterte er jedenfalls gründlich.

Trotz wiederholter Kritik an dieser Idee sucht man eine neue Erklärung, die sich der alten Meistererzählung entgegenstellen lässt, vergebens. Es scheint daher an der Zeit, sich der Abschließungsthese und der von ihr beschriebenen sozialen Wandlungsprozesse erneut anzunehmen. Denn was Otto, Fleckenstein, Paravicini und andere vor und nach ihnen beobachteten, basiert, wie die Betrachtung der kaiserlichen Erlasse gezeigt hat, doch zumindest auf einer soliden Quellengrundlage – entscheidend ist hier aber der größere historische Kontext.

III. Die soziale Realität: Die Mobilität des Niederadels während und nach seiner „Abschließung“

Wenden wir uns nun den Personengruppen zu, die von der „Abschließung“ betroffen waren. Das Fundament und den Ausgangspunkt dieser Entwicklung bilden die Ministerialen vor allem des 11. und 12. Jahrhunderts.[46] Diese in weiten Teilen zuvor nicht zum konventionellen Adel zählenden Personen hatten sich über ihre wesentliche Rolle im Kriegswesen sowie die Ausübung von Ämtern für Fürsten, Kaiser und Klerus der Herrschaftsausübung angenähert und vielfach eine Erblichkeit ihrer Ämter erreicht. Auf diesem Wege fanden sie Anschluss an etablierte Adelsfamilien und wurden so selbst mit der Zeit zu einem Teil des Adels, wenngleich teils noch über Jahrhunderte ein Unterschied zwischen den alten edelfreien und den jüngeren ministerialischen und damit oft einst unfreien Familien bestand. Dieser hier nur sehr schemenhaft skizzierte Prozess war um 1200 zumindest schon sehr weit fortgeschritten, wenngleich regional natürlich Unterschiede bestanden. Man wird aber nicht verneinen können, dass im 13. Jahrhundert ein niederer Adel entstanden war und die (ehemaligen) Ministerialen dessen Kern bildeten.[47]

In den folgenden Jahrhunderten lässt sich gut nachverfolgen, wie die Kategorie „Geburt“ immer größeren Wert für die Gruppenkonstituierung gewann. Zugleich wurde die Verleihung der Ritterwürde immer seltener, sodass Paravicini für das 15. Jahrhundert in bewusster Zuspitzung von einer „ritterlich-höfischen Kultur ohne Ritter“[48] spricht. Dass die individuelle Ritterwürde in den territorialen Ritterschaften nicht mehr ausschlaggebend war, zeigt sich etwa im Herzogtum Jülich, wo von 575 Mitgliedern der dortigen Ritterschaft zwischen 1423 und 1511 nur 42 tatsächlich Ritter waren, und im Herzogtum Kleve, wo es 1418 insgesamt 72 Ritterbürtige gab, von denen nur drei Ritter waren – dies entspricht gerade einmal 7,3 Prozent bzw. gut 4 Prozent.[49] Die 1463 versammelte Ritterschaft des kurkölnischen Erzstifts zählte nur 10 Ritter bei 77 genannten Personen (knapp 13 Prozent).[50] Auch in der Grafschaft Holland trugen im Jahr 1474 nur etwa 15 Prozent der Adligen noch den Rittertitel, während es in Flandern immerhin noch 35 Prozent waren.[51] Vom 14. Jahrhundert an lässt sich der Rittertitel reichsweit immer seltener in den Schriftquellen nachweisen und erreichte vor allem im 15. Jahrhundert einen Tiefstand. Diese Entwicklung reicht über die Reichsgrenzen hinaus, ist dabei aber generell räumlichen Phasenverschiebungen unterworfen, denn während die Häufigkeit der Rittertitel in England wie in Frankreich bereits im 13. Jahrhundert schwand, erreichte sie in der Grafschaft Holland erst in der Mitte des 14. und in der Grafschaft Zeeland sogar erst im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt.[52]

Diese Entwicklung liegt weniger an dem zeitgleich zu beobachtenden zahlenmäßigen Rückgang adliger Familien.[53] Vielmehr ist ein zentraler Grund hierfür in der Entwicklung der Fürstentümer zu suchen, die im Zuge ihrer territorialen Konsolidierung die Verleihung der Ritterwürde als Herrschaftsrecht für sich reservierten.[54] Gewissermaßen wurde also nun durchgesetzt, was den staufischen Herrschern bereits Jahrhunderte zuvor vorgeschwebt hatte – nur diesmal am kaiserlichen und den fürstlichen Höfen gleichermaßen. Parallel führte die Entwicklung des Kriegswesens – also dessen Schwerpunktverlagerung auf Infanterie und die schrittweise Verbreitung der Feuerwaffen – zu einem Bedeutungsrückgang (aber längst keinem Ende) der schweren Reiterei, sodass das Rittersein allmählich seine am Anfang der Begriffsgeschichte stehende und lange Zeit prägende militärische Relevanz verlor. Erst mit der Renaissance des Rittertums unter burgundischem Einfluss sowie den Kaisern Maximilian I. und Karl V. kam es zu einer zweiten und letzten Blüte (nicht nur) des Titels.[55] Während die Ritterwürde im 13. und in Teilen des 14. Jahrhunderts als adliges Massenphänomen beschrieben werden kann, wandelte sie sich in der Frühen Neuzeit zu einer Auszeichnung, die einerseits exklusiver war, da deutlich seltener verliehen, die aber andererseits ihre große Bedeutung für den Adel verloren hatte.

Dies geht damit einher, dass der Niederadel – der ja für die Zeitgenossen nie so hieß – in zeitgenössischen Dokumenten vor allem des 14. Jahrhunderts meist mit der Formel „Ritter und Knappen“ zusammengefasst wurde.[56] Darunter fielen also solche Männer, die den Rittertitel trugen, und solche, die ihn nicht trugen. Dabei ist der Knappenbegriff besonders interessant, da er sich in dieser Semantik auf die Abstammung bezieht. Denn diese Knappen des Spätmittelalters waren nicht mehr mit jenen jungen Männern des 12. Jahrhunderts gleichzusetzen, die sich in Ausbildung bei einem erfahrenen Ritter befanden und diesen am Hofe, bei Turnieren und im Krieg begleiteten.[57] Im 14. Jahrhundert verlor „Knappe“ vielmehr die Bindung an das Alter des Bezeichneten, wurde ähnlich wie „Ritter“ als Titel hinter den Namen gestellt und etablierte sich als eine niedere Stufe ritterlicher Würde.[58] Seine Besonderheit war dabei, dass er eine qua Geburt beanspruchte soziale Position, die Zugehörigkeit zu einer ritterlichen Familie ausdrückte. Manche Männer blieben nun also ihr Leben lang „Knappen“ – ein Phänomen, das veranschaulicht, wie dieser Titel der sozialen Positionierung genügte.[59] Der Knappenbegriff implizierte den Anspruch auf Ritterbürtigkeit und ist damit eine zentrale Ausdrucksform der Entwicklung des Niederadels im Spätmittelalter, der sich mit zunehmender Vehemenz über seine Abstammung als „ritterliche“ Gruppe definierte.[60] Denn anders als der Rittertitel wurde „Knappe“ nicht in einem zeremoniellen Akt verliehen, sondern ohne erkennbare institutionelle Begleiterscheinungen schlichtweg beansprucht und genutzt.

Ein weiterer Indikator für eine ritterbürtige Gruppendefinition ist es, wenn neben Rittern bzw. „milites“ noch eine zweite verwandte Kategorie an Akteuren auftritt, die als „militares“ bezeichnet werden. Als Tätigkeitsbeschreibung meint „militaris“ ursprünglich die Teilnahme am berittenen Kriegsdienst.[61] Die weitere Etymologie dieses Begriffs ist jedoch bisher noch nicht untersucht worden, weswegen die genaue Wortbedeutung der im Folgenden angeführten Beispiele mit einer gewissen Vorsicht zu betrachten ist. Es müsste noch geklärt werden, ab wann die Personenbezeichnung „militares“ die abstammungsbezogene Konnotation besitzt, mit der der Begriff spätestens ab dem 14. Jahrhundert genutzt wurde. Denn bereits in der noch vor 1200 entstandenen Kölner Königschronik ist von „ingenui et militares“, also freien und ritterbürtigen (oder eben beritten kämpfenden) Männern, die Rede.[62] In einer Urkunde des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden treten 1254 „milites et militares“ auf.[63] Noch deutlicher wird die auf die Abstammung bezogene Bedeutung in den Statuten des Mainzer Domkapitels, das 1326 festlegte, dass künftige Domherren „de militari genere ex utroque parente […] originem“ sein sollten.[64] Der märkische Chronist Levold von Northof sprach in seiner in den 1350er Jahren entstandenen Chronik von den „gentes militares“, um den regionalen Adel zu beschreiben.[65] Wie diese Wortschöpfung in den deutschen Sprachgebrauch überführt wurde, lässt sich exemplarisch am Stadtrecht des niederrheinischen Wesel erkennen. War dort noch 1311 die Rede von „milites“ und „militares“, wurde dies 1347 mit „riddere ende knapen“ wiedergegeben.[66] Im Herzogtum Lüneburg war 1371 erstmals die Rede von den „riddermatesche[n] mannen“[67] und im Lehnsbuch des Kölner Damenstifts Maria im Kapitol wurde dies 1434 auf eine Einzelperson in der Wendung vom „gueden Rittermessigen man“ angewandt[68].

In dieser Phase der Begriffs- und Territorialgeschichte beruhte die Zugehörigkeit zum Kreis der „Ritter“ also weniger auf der individuellen Ritterpromotion als auf der Herkunft aus einem als ritterlich geltenden Geschlecht. Die Idee der Ritterbürtigkeit nimmt einen zentralen Stellenwert für die Zusammensetzung der sozialen Gruppe ein, die wir als Niederadel fassen. In der Tat erscheint „Ritterbürtigkeit“ oder „Rittermäßigkeit“ sogar als passendere Begrifflichkeit zur Beschreibung dieses Personenkreises, da die Termini zeitgenössisch sind. Sie wurden von einer Bandbreite an Akteuren, nicht nur den Niederadligen selbst, zur Charakterisierung verwendet.

Zwar taucht das Kriterium der Ritterbürtigkeit meist entweder in Verbindung mit Männern oder mit Familien als solchen auf, dennoch wurde es mitunter auch auf Frauen angewandt. So wurden etwa die Kanonissen von St. Maria im Kapitol im Jahr 1482 als „adlig und ritterbürtig“ beschrieben.[69] In Geldern erklärten fünf Witwen im Jahr 1577, rittermäßig zu sein und darum adlige Vorrechte zu genießen, während im Bistum Münster einige Frauen bereits am Ende des 15. Jahrhunderts als „militares“ von einer Schatzung befreit wurden.[70] Im Nekrolog der Abtei Brauweiler von 1476 wird Bela von Limburg, Mutter des Abtes Arnold von Quad, sogar als „militissa“, als „Ritterin“ verzeichnet.[71] Auch Christine Erbvögtin von Bell bezeichnete sich in ihrem im Jahr 1500 aufgesetzten Testament als „militissa“.[72]

An dieser Stelle ließe sich in der Tat zunächst eine starke Verbindungslinie zwischen der Ritterbürtigkeit als Kriterium niederadligen Status und der Abschließungsthese vermuten. Denn war der „Ritterstand“ erst einmal abgeschlossen, genügte demnach bereits die Zugehörigkeit zu einer dieser abgeschlossenen Gruppe angehörenden Familie, um Teil des exklusiven Kreises zu sein. Fraglich ist aber, wann diese Erblichwerdung „abgeschlossen“ war, ob sich dies gesamtgesellschaftlich festlegen lässt oder nicht eher für jede Familie einzeln zu betrachten ist und ob diese grundsätzliche Erblichwerdung bereits reichte, um einen sozialen Abschluss der Gruppe herbeizuführen.

Spätestens im 15. Jahrhundert existierte also ein weiter gefasster ritterlicher Gruppenbegriff, zu dem auch Personen – mitunter beiderlei Geschlechts – von der „Art eines Ritters“ zählten. Dass die ideelle Verbindung zum Rittertum jedoch stets elementar und begrifflich konstitutiv blieb, zeigt sich daran, dass für das Kollektiv dieser Akteure sich im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts die Bezeichnung „Ritterschaft“ durchsetzte. Auch hier variiert deren Aufkommen regional: Im Herzogtum Jülich ist erstmals 1364 von einer territorialen Ritterschaft die Rede und im Erzstift Bremen 1373, im Herzogtum Berg taucht sie 1404 auf, 1412 in der Grafschaft Mark, 1417 in Kleve, 1418 in Geldern, 1423 im Kölner Erzstift, 1424 in Overijssel und erst zu Ende des 15. Jahrhunderts im Herzogtum Lüneburg.[73]

Allerdings sollte die Verbreitung des Begriffs nicht dahingehend gedeutet werden, in diesen Ritterschaften direkt feste Personengruppen zu erblicken. Ganz im Gegenteil waren sie zunächst recht fluide Gebilde, die situativ nach den Interessen der Niederadligen oder des Fürsten zusammengerufen wurden. Daher waren ihre Zusammenkünfte noch sehr unregelmäßig und der Kreis der berufenen Personen variierte stark. Die Zeugenlisten der Zusammenkünfte der Jülicher Ritterschaft im 15. Jahrhundert zählen so mal nur 11 oder 12, aber mitunter auch 199 oder 205 Personen.[74] Mit den „Ritterschaften“ war also zunächst vor allem ein Wort geschaffen, das dazu diente, eine variable Gruppe von Akteuren mit territorialem Bezug zu beschreiben. Und auch als sich die Ritterschaften in der Frühen Neuzeit konstitutionell gefestigt hatten, bildeten sie dennoch nicht den gesamten Adel eines Territoriums ab, sondern nur einen mehr oder minder großen Ausschnitt seiner politisch aktiven Akteure.[75]

Die Idee, dass zu dem Wort „Ritterschaft“ auch ein fester Personenkreis gehörte, entwickelte sich erst zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert, als die Ritterschaft zum Landstand wurde und die landständische Mitsprache in der Territorialpolitik an Besitz in dem betreffenden Fürstentum gebunden wurde. Durch die Verdichtung der Herrschaften wurde die konkrete territoriale Zuordnung der innerhalb derselben gesessenen Personen immer bedeutender. In diesem Zuge wurde die Ritterschaft verwaltungsmäßig konkretisiert und ihre Mitglieder auf eigenen, zentral geführten Listen festgehalten. Allerdings war auch nun oft noch unklar, welche Personen nun zur Ritterschaft zu rechnen waren, da die Kriterien fast nirgends klar formuliert waren.[76]

IV. Beispiele sozialer Mobilität des Niederadels

Nachdem der spätmittelalterliche Niederadel als Gruppe der Ritterbürtigen und als territoriale Ritterschaft begrifflich und sozial geschärft wurde, muss die zentrale Frage gestellt werden, wie abgeschlossen diese Gruppe war oder besser ob, wann und wie neue Familien Aufnahme fanden. Denn die Idee einer „Abschließung der Ritterschaft“ postuliert letztlich ein diese Gruppe definierendes Schließdatum, das den Kreis der Ritterbürtigen gegen Veränderung abschloss. Schaut man sich den Niederadel aber nach dessen vermeintlicher Abschließung an, trifft man vielerorts auf eine bemerkenswerte soziale Mobilität.

Dies soll nun am Beispiel der Ritterschaften im kurkölnischen Erzstift und im benachbarten Herzogtum Jülich genauer betrachtet werden – verbunden mit der Frage, auf welchem Weg die Aufnahme in den Kreis der Ritterbürtigen erfolgen konnte. Prinzipiell lassen sich zwei Hauptwege der sozialen Mobilität benennen, ein vertikaler und ein horizontaler. Horizontale Mobilität bedeutet im vorliegenden Kontext, dass Familien, die in den Adel eines Territoriums eintraten, bereits zuvor in einem anderen Territorium als Adlige gegolten hatten. Da sich diese Form der Mobilität jenseits der postulierten sozialen Schranke abspielte, soll sie hier außen vor bleiben. Erwähnt werden muss aber, dass die räumliche Mobilität zwischen einzelnen Territorien und deren Adelslandschaften der sozialen Akzeptanz durchaus förderlich sein konnte, etwa wenn lokale Rangstreitigkeiten mit zunehmender Distanz an Relevanz verloren.[77]

Größeres Erkenntnispotenzial verspricht die Frage der vertikalen Mobilität, also das Vordringen von Familien in den Adel, die in der konventionellen Gesellschaftsstratigrafie zuvor nicht zum Adel gezählt hatten. Die Personengruppen, für die sich ein vertikaler Aufstieg überhaupt fassen lässt, sind im wesentlichen Stadtbürger und Bauern.[78] Dies war von Region zu Region unterschiedlich und richtete sich meist danach, wo die dominante nichtadlige Gruppe der jeweiligen Region verortet war.[79] Die schriftliche Überlieferung favorisiert eindeutig die Bürger, da Aufsteiger aus ländlich-bäuerlichem Milieu vor ihrem Aufstieg wesentlich schlechter dokumentiert sind.[80] Daher muss ausgehend von den urkundlich belegten Gliedern einer Ritterschaft nach Familien gesucht werden, deren Wurzeln sich in Städten verorten lassen.

Im Falle Kurkölns bieten sich die Erblandesvereinigung 1463[81] und deren Erneuerung 1550[82] besonders an. Hier trat die Ritterschaft des Erzstifts in ihrem Willen zur Mitbestimmung in möglichst großer Anzahl auf, da sie in der Masse mehr politisches Gewicht entwickeln konnte. Ob dieses Streben nach Masse aber auch dazu führte, dass Familien in diesen Kreis aufgenommen wurden, die sonst eher nicht dazu gezählt hätten, kann hier nicht geklärt werden. Im Falle des Herzogtums Jülich hat Gregor Hecker-Twrsnick jüngst umfangreiche Zeugenlisten publiziert, die zahlreiche Mitglieder der dortigen Ritterschaft des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts nennen.[83]

Für das ausgehende 14. Jahrhundert hingegen gibt es eine andere Quellengattung, die aufschlussreich in der Frage der Zusammensetzung der Ritterbürtigen, aber von der Forschung bisher kaum herangezogen worden ist. Die Rede ist von den Wappenbüchern[84], unter denen vor allem die sogenannten „allgemeinen Wappenbücher“ erstrangigen Quellenwert haben. Sie sind nach übergreifenden räumlichen Gesichtspunkten geordnet, den Wappenprovinzen, die jeweils mit dem Wappen des wichtigsten Fürsten beginnen und die Ritterbürtigen einer Region verzeichnen.[85] Im Folgenden soll dies exemplarisch anhand des um 1393 begonnenen Wappenbuchs des geldrischen Herolds Claes Heynenzoon gen. Gelre untersucht werden.[86] Seine Wappensammlung besitzt besondere Aussagekraft, da ihr Verfasser nicht nur qua Amt mit der adligen Kultur zwischen Rhein und Nordsee bestens vertraut war, sondern sich überdies von den sonstigen Herolden als vom Kaiser bestätigter Wappenkönig hervortat.[87] Gelre kann daher als profunder Kenner und maßgebliche Autorität in Bezug auf die Elite der hier interessierenden Region gelten.[88]

Sowohl das Wappenbuch als auch die Listen der Ritterschaft verschaffen einen Überblick über jene Familien, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in der ritterbürtigen Kategorie verortet wurden. Dabei sind die Jülicher und Kurkölner Listen von den Mitgliedern der Ritterschaft oder dem Landesherrn selbst beeinflusst, das Wappenbuch hingegen hält die außenstehende Perspektive eines Adelsexperten fest. Es ermöglicht wichtige Einblicke in die Zusammensetzung der Ritterbürtigen in einer entscheidenden Phase ihrer Entwicklung, als sie noch im Prozess ihrer territorialen Formierung begriffen waren. Dies heißt aber nicht, dass die jeweiligen Zusammenstellungen unkritisch als authentisches Abbild der Ritterschaft verstanden werden dürfen. So war das Wappenbuch zwar eine kenntnisreiche, aber doch auch persönliche Zusammenstellung. Es lässt sich kaum ausmachen, ob die Meinung Gelres, welche Personen und Geschlechter beispielsweise der Jülicher Ritterschaft zuzurechnen waren, auch von den Betroffenen geteilt wurde. Die Listen wiederum bilden nur situative Zusammenkünfte ab, deren Personenkreis sich immer auch nach dem ausschlaggebenden Anlass richtete.[89] Beide Quellengruppen geben daher nur Momentaufnahmen des regionalen ritterbürtigen Adels.

Relevant ist, wann die hier verzeichneten Familien städtischer Herkunft Zutritt in den Kreis der Ritterbürtigen erhielten. Allerdings ist es nur äußerst selten möglich, einen genauen Moment festzulegen, ab dem eine Familie als adlig galt. Hierfür hat die Forschung ein Kriterienbündel erarbeitet, das vom berittenen Kriegsdienst über den Besitz von Lehen und Herrschaftsrechten bis zum Konnubium, dem adelsgemäßen Lebenswandel und der Turniertätigkeit reicht.[90] Wie schon Karl-Heinz Spieß betont hat, lässt sich selten – außer im Fall der erst im 16. Jahrhundert vermehrt zu verzeichnenden förmlichen Nobilitierungen[91] – ein genauer Zeitpunkt des „Adligwerdens“ erkennen. Deshalb macht Spieß zurecht als wichtigste, gleichsam aber auch am schwierigsten nachzuweisende Form die „stillschweigende Rezeption“[92], das sich über einige Generationen ziehende Hineinwachsen in den Adel, aus. Da auch die anderen Kriterien nicht immer und überall nachweisbar oder wirkmächtig waren[93], wird die soziale Akzeptanz zum obersten Gut des adligen Status[94]. Da der Fokus der vorliegenden Untersuchung aber auf der Ritterschaft und ihrer diskutablen Abschließung liegt, soll vor allem die Ritterbürtigkeit als wichtiges begrifflich konstitutives Element herausgegriffen werden. Die Frage, die an das Namensmaterial der Listen und Wappenreihen gestellt werden muss, ist also, wann in den betreffenden Familien erstmals ein Ritter auftrat. Dies bedeutet zwar nicht zwingend, dass die Familie fortan auch für alle Zeit als ritterbürtig galt, ergibt aber doch ein interessantes Schlaglicht in diesem schemenhaften Prozess.[95] Der feste Wohnsitz auf dem Land scheint hingegen im 14. und weitgehend auch noch im 15. Jahrhundert nicht kausal für einen ritterbürtige Status gewesen zu sein.[96] Dies zeigt sich auch an den im Folgenden diskutierten Akteuren, deren Auswahl vermuten lässt, dass die Zusammensetzung der Ritterbürtigen auf Besitz – nicht zwingend gleichzusetzen mit einem festen Wohnsitz – im fraglichen Territorium sowie auch auf Lehnsbindungen beruhte.

Kehren wir aber zu den Quellen zurück. Das zu Ende des 14. Jahrhunderts entstandene Wappenbuch des Herolds Gelre nennt in der kurkölnischen Wappenprovinz an städtischen Familien oder Akteuren Gerhard Chorus, Heinrich von der Ehren, Heinrich Hardevust, Johann de Palatio, Johann Scherfgin, Matthias vom Spiegel, Johann von Troyen und Rutger Raitz sowie die nur kollektiv genannten Familien Birkelin, Kleingedank, von Lyskirchen, Vögte von Merheim, Mommersloch und vom Stave.[97] In derselben Handschrift findet sich eine zweite, spätere Darstellung der Wappenprovinz Köln, diesmal mit einer leicht veränderten Zusammensetzung, wo Gobelin Jude, der Vogt von Merheim, Rutger Raitz, Johann de Palatio und Gerhard Roitstock genannt werden.[98] Mit 15 von 38 Wappen nehmen diese Familien einen bemerkenswert großen Teil der Ritterbürtigen des Erzstifts ein. Aus der Wappenprovinz Jülich lassen sich noch die Palant ergänzen.[99]

In der kurkölnischen Erblandesvereinigung von 1463 werden sechs Männer aus vier Familien mit städtischem Hintergrund genannt[100], bei der Erneuerung des Verbundes im Jahr 1550 waren es zwölf Männer aus sieben Familien[101]. Dies sind die Hausmann von Namedy, Overstolz von Efferen, Palant, Raitz von Frentz, Schall von Bell, Scherfgin, Schilling von Lahnstein und Walpotten. In beiden Fällen handelt es sich dabei nur um je etwa zehn Prozent aller in den Urkunden genannten Mitglieder der Ritterschaft (6 von 77 bzw. 12 von 111).[102] Unter den Gliedern der Jülicher Ritterschaft des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts finden sich diverse Mitglieder der Familien von Palant, von Efferen, von Frentz sowie je ein Mitglied der Jude und Walrave.[103]

Familie

Als Teil der Ritterschaft belegt in

Kurköln

Jülich

Birkelin

um 1400

Chorus

um 1400

von der Ehren

um 1400

(Overstolz von) Efferen

1550

1425, 1444, 1464, 1502, 1507, 1511

Hardevust

um 1400

Hausmann von Namedy

1550

Jude

um 1400

1494, 1502, 1507

Kleingedank

um 1400

Lyskirchen

um 1400

Mommersloch

um 1400

Palant

1550

um 1400, 1423, 1425, 1426, 1429, 1437, 1444, 1502, 1507

Palatio

um 1400

Raitz von Frentz

um 1400, 1463, 1550

1444, 1507

Roitstock

um 1400

Schall von Bell

1463, 1550

Scherfgin

um 1400, 1463

Schilling von Lahnstein

1550

vom Spiegel

um 1400

vom Stave

um 1400

von Troyen

um 1400

Vögte von Merheim

um 1400

Walpotten

1550

Walrave

1464

Die Quellenauswahl aus anderthalb Jahrhunderten nennt also 23 ritterbürtige Familien, die auf einen städtischen Hintergrund zurückgeführt werden können und in einer Phase ihrer Geschichte stadtgesessen waren, darunter zwei in der Reichsstadt Aachen[104], drei in der kurkölnischen Landstadt Andernach[105] und 18 in der Reichsstadt Köln[106].

In den kurkölnischen Listen finden sich zudem noch einige ursprünglich landadlige Familien, die teilweise in Städten nachweisbar sind wie die Bell (erwähnt 1463) und Brempt (1550) in Köln.[107] Noch stärker ist dies in Andernach der Fall, wo ein starkes ministerialisches Element des Hochmittelalters sich in eine bemerkenswerte Präsenz adliger Familien wandelte, die auch städtische Ämter übernahmen. Von den späteren Mitgliedern der kurkölnischen Ritterschaft trifft dies auf die Familien von Braunsberg (erwähnt 1463, 1550), von der Leyen (1550) und die – sogar reichsunmittelbaren – Burggrafen von Rheineck (um 1400, 1463) zu.[108]

Die in den Listen genannten ritterbürtigen Familien aus Andernach, die Hausmann von Namedy, Schilling von Lahnstein und Walpotten, kamen also aus einer Stadt, deren Elite durch einen bemerkenswerten Anteil land-, teils sogar hochadliger Familien gekennzeichnet war. Bereits 1190 wurde die Gesamtheit der Andernacher Bürgerschaft durch die Formel „militibus, presentibus scabinis Coloniensis archiepiscopi et omnibus civibus Andernacensibus“ charakterisiert.[109] Herkunft und Werdegang der Andernacher Familien sind daher nur schwer genau zu bestimmen. Die Schilling könnten aus der Stadt selbst stammen, aber auch auf Burgmannen in Lahnstein zurückgehen[110], während die Walpotten zu den landadligen Waldbott von Bassenheim zählen könnten. Die Hausmann hingegen scheinen aus Andernach selbst zu stammen, sind etwa um 1300 mit dem Ritter Wilhelm Hausmann belegt und erbauten im 14. Jahrhunderts die Burg Namedy.[111]

Nur bedingt weiterführend für die Frage der Etablierung dieser stadtgesessenen Familien im Kreis der Ritterbürtigen ist der Ritter Gerhard Chorus († 1367), der zwar der wohl einflussreichste Aachener seiner Zeit mit guten Kontakten zum Kaiserhof und den Grafen von Jülich war, aber ohne Nachkommen verstarb. Zum Ritter geschlagen worden sein könnte er 1331 durch Kaiser Ludwig von Bayern.[112] Langfristiger war das Vermächtnis des Arnold Parvus, auf den die weitverzweigten Palant zurückgehen. Er war ebenfalls Bürgermeister der Reichsstadt Aachen und trug seit 1311 die Ritterwürde. Um 1309 heiratete er Sophia von Merode. 1330 ist er als Lehnsmann des Grafen von Holland belegt und erwarb ungefähr um diese Zeit die Burgen Palant, Breitenbend und Trips. Der Übertritt der Familie in den Landadel zeigt sich exemplarisch daran, dass im Jahr 1344 die drei Söhne des Arnoldus Parvus sich nach ihren Landsitzen nannten und als Werner von Breitenbend, Carsilius von Palant und Johann von Trips auftraten.[113]

Im Verlauf des späteren 14. und 15. Jahrhunderts etablierte sich der nach Haus Palant bei Weisweiler benannte Zweig der Familie als eine der einflussreichsten Familien am Niederrhein und stellte Mitglieder der Ritterschaften in Jülich, Kurköln und Geldern. Im Herzogtum Geldern stiegen sie sogar in die Spitzengruppe des territorialen Niederadels auf und stellten eine der fünf Bannerherrenfamilien.[114] Das Beispiel der Palant zeigt, wie der Aufstieg einer Familie, die zu Anfang des 14. Jahrhunderts noch in der Reichsstadt Aachen saß, schon am Ende des 15. Jahrhunderts in die Elite des Niederadels geführt haben konnte.

Noch stärker als in Aachen war ein ritterlicher Habitus in Köln verwurzelt.[115] Zu den bedeutendsten ritterlichen Familien der Stadt zählen die Scherfgin, deren erster Ritter 1225 belegt ist, und die Raitz, die ihren ersten Ritter 1260 stellten, wie auch die Overstolz (1274) und Jude (1277).[116] Gerade die Raitz und Overstolz entwickelten sich zu weitverzweigten landsässigen Adelsfamilien. Einen Sonderfall stellen die Schall von Bell dar, die den Rittertitel erst erwarben, nachdem sie zu Beginn des 14. Jahrhunderts in den Landadel übergetreten waren. Auch sie etablierten sich in der Folge erfolgreich in den rheinischen Ritterschaften.[117] Die Ritterwürde taucht in den anderen hier betrachteten Kölner Familien während einer Zeitspanne von etwa anderthalb Jahrhunderten auf: bei den Kleingedank erstmals 1216, bei den Mommersloch 1245, bei den Hardevust 1271, bei den vom Spiegel 1276, bei den Birkelin 1285, bei den von Lyskirchen 1295, bei den von der Ehren 1311, bei den vom Stave 1314, bei den von Troyen 1340, bei den Roitstock 1349 und bei den Palatio erst 1362. Nicht ganz eindeutig zu klären ist dies für die Vögte von Merheim, die aus dem Landadel stammen könnten.[118] Zahlreiche Angehörige dieser Familien erwarben zudem Burgen und Herrschaftsrechte auf dem Land oder traten in den Dienst der benachbarten Fürsten.[119]

Bedeutsam sind diese Kölner Beispiele nicht nur wegen des vergleichsweise starken Zulaufs, den das Rittertum in dieser Stadt erfuhr – denn zu den hier genannten Familien zählen noch viele weitere –, sondern auch wegen der zeitlichen Streuung des Erwerbs der Ritterwürde bis weit in das 14. Jahrhundert hinein. Auch diese „späten“ Ritter fanden Anschluss an ihre landadlige Umwelt. Verwiesen sei hier nur auf den Ritter Gerhard Roitstock, der eine wichtige Rolle als Lehnsmann der Herzöge von Brabant spielte, und Ritter Johann von Troyen, der eine Tochter der weitverzweigten und einflussreichen Adelsfamilie Merode heiratete und sich zum Ende seines Lebens gleich drei Herrschaften sichern konnte.[120]

Bis hierhin liest sich diese Analyse der Ritterbürtigen aus Köln, Aachen und Andernach als eine klare Abfolge von Erwerb der Ritterwürde und späterem ritterbürtigen Status. Allerdings findet sich in den Reihen der Kölner Elite auch ein Beispiel, das dieser scheinbaren Logik widerspricht: die Familie Walrave. Verschiedene Walrave traten im 15. und 16. Jahrhundert als Mitglieder der Jülicher Ritterschaft auf, sind im Fürstendienst nachweisbar und besaßen zeitweise mehrere Burgen, einen Ritter sucht man in ihren Reihen aber vergeblich.[121] Immerhin wurde ein Mitglied um 1400 als Knappe tituliert, hier könnte es sich aber auch um den Ausdruck einer Dienstbeziehung zu den Herzögen von Jülich gehandelt haben.[122] Die Walrave wurden also Teil des ritterbürtigen Niederadels, ohne nachweisbar in männlicher Linie von einem Ritter abzustammen. Ihr Beispiel ist insofern überaus relevant, da es zeigt, dass es selbst im frühen 15. Jahrhundert noch möglich war, auch ohne Ritterschlag in die Ritterschaft hineinzuwachsen. Stattdessen dürfte hier die durch Fürstendienst, Burgbesitz und den damit verbunden Kriegsdienst hergestellte soziale Nähe zum Landadel den Ausschlag gegeben haben.

Aus den Reihen der städtischen Eliten aus Aachen, Andernach und Köln lassen sich also zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, dass der Weg in den Kreis der Ritterbürtigen auch nach 1200 noch offenstand. Und ausgewählt wurden hier bewusst nur Beispiele von Familien, die sich aufgrund ihres langen Bestehens auch in den späteren Aufstellungen der Ritterbürtigen wiederfinden. Die tatsächlichen Übertritte in die Ritterschaft dürften noch deutlich zahlreicher und diverser gewesen sein.

Das Auftreten von städtischen Familien im Landadel war aber bei weitem nicht nur auf das Rheinland beschränkt, wie zahlreiche Beispiele zeigen. Eines davon sind die aus der Hansestadt Stendal stammenden Bismarck, die erst um die Mitte des 14. Jahrhunderts den Rittertitel erwarben und zu Anfang des 15. Jahrhunderts in die Reihen des brandenburgischen Adels vorstießen.[123] Noch eindrücklicher lässt sich am Beispiel der Grafschaft Flandern nachverfolgen, wie der Landadel kontinuierlich durch die Aufnahme neuer Familien ergänzt wurde, während andere ausstarben. Von den etwa 250 als adlig geltenden Familien Flanderns um 1500 hatten nur 41 Prozent bereits um 1350 schon zu dieser Gruppe gehört – knapp 60 Prozent waren also im Verlauf von 150 Jahren neu hinzugekommen.[124] Die Neuaufnahme städtischer Familien in den Adel konzentrierte sich vor allem auf das 15. Jahrhundert. Während 1437 ein Siebtel aller Adeligen im Umland von Brügge aus der städtischen Elite ebenjener Metropole stammte, war es 1481 bereits ein Viertel.[125] Jan Dumolyn hat daher betont, dass sich in Flandern keinerlei „protektionistische“ Reaktionen der etablierten Adelsfamilien gegenüber den Aufsteigern beobachten lasse, wie sie anderswo vorkamen.[126] Allerdings ist diese flämische Entwicklung exzeptionell und findet kaum Parallelen im Reichsgebiet, da sie maßgeblich durch die Expansion des burgundischen Staates geprägt war, der existente Strukturen durcheinanderwirbelte und zahlreiche Aufstiegschancen schuf.[127] Auch im durch die mächtigen Kommunen dominierten Oberitalien, wo die ritterliche Kultur gerade in den Städten blühte und nicht nur in den Eliten, sondern auch im Popolo Verbreitung fand, lässt sich eine dem deutschsprachigen Raum vergleichbare Abschließung kaum finden.[128]

In Österreich und der Steiermark waren das 13. und 14. Jahrhundert die Zeit großer Mobilität zwischen landadligen und städtischen Eliten, während es in Brabant noch im 15. Jahrhundert einen hohen Anteil bürgerlichen Zustroms zur Ritterschaft gab. In der Konstanzer Geschlechtergesellschaft „Zur Katz“ verkehrten noch um 1500 städtische und landadlige Gruppen auf Augenhöhe miteinander. Als 1547 der Kanton Unterelsaß der Reichsritterschaft gegründet wurde, gehörten ihm 68 landadlige und 137 stadtsässige Ritter an.[129] In Bayern sieht Christine Reinle noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts keinen kategorischen Gegensatz zwischen Bürgertum und Landadel, da sich die vermeintliche Kluft durch das Aneignen eines ritterlichen Lebenswandels vergleichsweise einfach überbrücken ließ.[130] Howard Kaminsky hält daher grundsätzlich fest, dass der Aufstieg einst nichtadliger Familien eher üblich als ungewöhnlich war.[131] Überall war dem jedoch nicht so, denn etwa der mainfränkische Adel verzeichnete bereits im 15. Jahrhundert so gut wie gar keine Neuzugänge mehr.[132] Auch die rheinischen Beispiele legen bei aller Flexibilität sozialer Gruppengrenzen nahe, dass die Zugänglichkeit zum Niederadel im 15. Jahrhundert zumindest abnahm.

Zugleich werfen diese bemerkenswerten Zeugnisse der überregionalen Dynamik der sozialen Grenze des Adels eine Frage auf, die auch Heinz Dopsch bereits am Beispiel Österreichs und der Steiermark thematisiert hat: Ist der Wechsel von der städtischen Elite in den Landadel wirklich ein sozialer Aufstieg oder handelt es sich um eine Mobilität auf gleicher sozialer Ebene?[133] Da diese Thematik eine eigene Arbeit verdient, soll hier stattdessen zur übergeordneten Entwicklung zurückgekehrt werden.

V. Die (ausbleibende) Gegenreaktion

Gab es aber wirklich keine Gegenbewegung, die sich der Durchlässigkeit sozialer Grenzen entgegenstellte? Eine deutlich andere Schlagrichtung zeigt bekanntermaßen der süddeutsche Turnieradel, der hier als Paradebeispiel für eine gegenläufige Entwicklung Erwähnung finden muss. Jedoch birgt seine forschungsgeschichtliche Prominenz die Gefahr, vorschnell überregional verallgemeinert zu werden.[134] Dieser Turnieradel manifestierte sich vor allem durch die zwischen 1479 und 1487 veranstalteten Turniere der sogenannten Vier Lande Bayern, Schwaben, Franken und Rheinstrom, die dem Anspruch höchster Exklusivität unterlagen. Nicht die eigene Turniererfahrung genügte, sondern es musste auch die Teilnahme der Vorfahren ebenso wie die adlige Abstammung von mütterlicher wie väterlicher Seite bewiesen werden.[135] Damit wurde das Turnier zum „Ausweis der Zugehörigkeit zu einer auf Exklusivität bedachten sozialen Schicht“[136] und „Ort der Selbstdefinition des Adels“[137]. Allerdings wandte sich deren Abschließungsbestrebung nicht nur gegen Aufsteiger in den Adel, sondern auch gegen jene adligen Familien, die diesen Anforderungen nicht genügen konnten. Daher darf dieser Turnieradel nicht mit „dem Niederadel“ gleichgesetzt werden, da er nur dessen jeweilige Spitzenfamilien umfasste.[138] Bestandteil dieser Distanzierung war es auch, dass zuvor durchaus feststellbare Momente sozialer Verbindung zwischen Bürgern und Landadel, neben dem gemeinsamen Turnier auch das Konnubium, im 15. Jahrhundert ihr Ende fanden und sogar von der Ausprägung eines dezidierten Feindbildes „Stadt“ die Rede ist.[139]

Eine vergleichbare Rolle erfüllte das Turnier im Nordwesten des Reichs nicht.[140] Das vehementeste Zeugnis einer dem süddeutschen Turnieradel vergleichbaren Abschließungsbewegung lässt sich erst ganz am Ende des dieser Betrachtung zugrundeliegenden Untersuchungszeitraums im Fürstbistum Münster beobachten. Hier, im immerhin größten geistlichen Territorium des Alten Reichs, wurde ein langwieriger und bis vor das Reichskammergericht und den Papst getragener Streit zwischen dem Münsteraner Domstift und den etablierten Niederadelsfamilien auf der einen und der städtischen Elite Münsters, den sogenannten Erbmännern, auf der anderen Seite ausgefochten.[141] Er gründete auf einem bereits 1392 getroffenen Beschluss des Domkapitels – also der hochrangigsten Versorgungsinstitution adliger Söhne in der Region –, dass dort fortan nur Aufnahme finden sollte, wer „de bono nobili militari genere“ sei.[142]

Zentrales Argument in diesem Streit war also die Frage der Ritterbürtigkeit der Erbmänner. Auf einem Landtag 1548 näherte man sich dieser Frage zunächst in der Form an, dass jene Erbmänner, die zu Pferd Kriegsdienst leisteten, wie Ritterbürtige von der Steuerzahlung befreit sein sollten. Die übrigen Erbmänner sollten indes Steuern zahlen. Zwar erweckt dies den Anschein einer möglichen Verbindung beider Gruppen, doch sollten sich die Vorzeichen bald umkehren. Der Streit entzündete sich an dem Erbmann Johannes Schencking, den Papst Paul IV. 1557 als Domherrn vorsah, was das Domkapitel aber verweigerte. Zwar nicht seit 1392, aber doch seit Mitte des 15. Jahrhunderts hatte kein Erbmann mehr Zugang zum Domkapitel erhalten, wenngleich sie zuvor gemeinsam mit dem Landadel die Kanoniker- und Kanonissenstifte besetzt und etwa zehn Münsteraner Domkanoniker gestellt hatten. 1577 entspann sich daraus ein vor Kurie und Reichskammergericht geführter Rechtsstreit um die grundsätzliche Frage der Ritterbürtigkeit der Erbmänner, der erst 1708 zu ihren Gunsten entschieden wurde. 1717 schwor der erste Erbmann bei der Ritterschaft des Stifts Münster auf und 1729 wurde der erste Erbmann auf ein Münsteraner Domkanonikat gewählt.[143]

Diese Wechselfälle von Integration und Exklusion lassen sich am Beispiel der Droste zu Hülshoff verdeutlichen. So zählte Bernd Droste zu Hülshoff zu jenen Erbmännern, die 1575 vor dem Papst und 1597 vor dem Reichskammergericht klagten, seiner Familie wird aber ungeachtet dessen heute das Attribut „Uradel“ bescheinigt.[144] Dass die Infragestellung seines ritterbürtigen Status erst Bernds Generation betraf, zeigt sich am Beispiel seines Vorfahren Heinrich († 1570), der 1535 als bischöflicher Lehnsmann gegen die Täuferherrschaft in Münster gekämpft hatte und sich auf einem Relief auf der namensgebenden Burg Hülshoff, seit Anfang des 15. Jahrhunderts im Besitz der Familie, in ritterlichem Habitus, gerüstet auf einem Schlachtross sitzend, verewigen ließ. Dieses Relief stammt vermutlich aus den 1540er Jahren und rekurriert auf Heinrichs Rolle während der Täuferunruhen, indem es ihn in der Pose eines adligen Ritters inszeniert. Die Ritterbürtigkeit, die Heinrich für sich noch in den 1540er Jahren nicht unberechtigt beanspruchte[145], wurde Bernd ein halbes Jahrhundert später verwehrt. Dieser Bruch zwischen beiden Gruppen brauchte dann über ein Jahrhundert, bis er überwunden werden konnte. Bemerkenswert ist dieser Streit aber auch, da sich an seinem Beispiel der oft nur lokal begrenzte Charakter solcher sozialen Querelen zeigt, denn außerhalb des Münsteraner Stifts ist die Ritterbürtigkeit der Münsteraner Erbmänner nirgends angezweifelt worden.[146]

 Abb. 1: Heinrich Droste zu Hülshoff als Ritter, Relief auf Burg Hülshoff, Havixbeck. Foto: M. Jansen.

Abb. 1: Heinrich Droste zu Hülshoff als Ritter, Relief auf Burg Hülshoff, Havixbeck. Foto: M. Jansen.

Nun ist der Fall der Münsteraner Erbmänner ein besonders spektakulärer, weil langwieriger und höchste Kreise involvierender Fall. Seine Sonderstellung und das sonstige – tatsächliche oder zumindest bisher nicht aufgedeckte – Fehlen paralleler Abschließungsversuche soll aber nicht verdecken, dass der ritterbürtige Niederadel nicht doch auch andernorts soziale Barrieren entwickelte. Denn die oben genannten Beispiele aus Aachen, Andernach, Köln und letztlich auch Münster (vor den Prozessen) zeigen zwar, dass der ritterbürtige Status auch im 13., 14. und 15. Jahrhundert noch erworben werden konnte und neue Familien weiterhin sozialen Anschluss fanden. Dennoch ist die zunehmende Konkretisierung eines Bewusstseins für ein Außen und ein Innen dieser Gruppe unverkennbar. Dies sei zuletzt anhand eines anschaulichen Beispiels aus dem 15. Jahrhundert verdeutlicht.

Im Lehnbuch des adligen Kölner Damenstifts St. Maria im Kapitol findet sich zum Jahr 1434 die Dokumentation der Übertragung der Burg Efferen an den Kölner Bürger Rutger von der Weyden. Dieser Akt schien jedoch aus Sicht der adligen Äbtissin erklärungsbedürftig zu sein und führte zu einer aufschlussreichen Kommentierung des Lehnseintrags. Denn das Gut in Efferen sei ein „Ritter guit“, dass allein „ein Rittermessich man“ empfangen könne, weshalb die Äbtissin Rutger, der „gein Rittermessich man“ sei, nur als explizite Ausnahme mit der Burg belehnte. Nach dem Tode Rutgers solle das Lehen aber an die Äbtissin heimfallen, die es dann an einen „gueden Rittermessigen man“ ausgeben wolle. Der Status des Lehens als Rittergut wird dabei explizit mit den Vorbesitzern, den ehrsamen Rittern Emund und Tilmann vom Kusin, verbunden.[147]

Zwar war Rutger von der Weyden keineswegs ein unbedeutender Mann – er war ein ehemaliger Söldner, Ratsherr und dreimaliger Bürgermeister der Stadt Köln[148] –, aber ein sozialer Aufsteiger, der, soweit erkennbar, aus eigener Kraft in Rang und Ansehen gelangt war. Er selbst erwarb weder die Ritterwürde noch konnte er eine längere Familiendynastie begründen, denn schon mit seinem Sohn verlieren sich deren Spuren. Die Kusin hingegen stammten zwar ebenfalls aus der Stadt Köln, drangen aber früher in die landadlige Welt vor. Neun Familienmitglieder trugen die Ritterwürde, deren erster erwarb sie wohl um 1300, und seit Ende des 14. Jahrhundert saßen sie auf einer Burg vor den Toren der Stadt.[149] Das Beispiel verdeutlicht exemplarisch, dass im 15. Jahrhundert durchaus eine soziale Hürde zu nehmen war, um Anschluss an die Ritterbürtigen zu erhalten. Wenngleich Rutger von der Weyden diesen Weg nicht bis zum Ende ging, verweist diese Episode doch auf einen Befund, der in zahlreichen anderen Regionen des Reichs bereits ähnlich gemacht wurde: Soziale Grenzen wurden mit dem Laufe der Zeit zwar fester, aber sie ließen sich überwinden, wenngleich der Aufstieg Zeit brauchte.[150]

VI. Resümee: Die Festigung des ritterlichen Niederadels

Die bis hierhin geschilderten sozialen Entwicklungen aus dem Nordwesten des Heiligen Römischen Reichs führen letztlich zu der These, dass es eine „Abschließung des Ritterstandes“ in der von Otto, Fleckenstein und anderen beschriebenen Form nicht gegeben hat – und auch keine des ritterbürtigen Niederadels, wenn wir den problematischen Standesbegriff vermeiden wollen. Weder um 1200 noch um 1300 schloss sich diese Gruppe wirklich ab oder wurde von einem übergeordneten Akteur wirkungsvoll geschlossen. Zwar sind die Erlasse Friedrichs I. und seines Enkels Friedrichs II. sowie ihr Aufgreifen durch Rudolf von Habsburg unbestreitbar, ihre faktische Bedeutung dürfte aber gering gewesen sein. Sicherlich mögen sie Impulsgeber hin zu einer Eingrenzung der ritterbürtigen Sozialgruppe gewesen sein, aber eine wirklich durchgesetzte oder beachtete rechtliche Norm schufen sie nicht. Ein eindeutiges „Schließereignis“ lässt sich nicht ausmachen – nicht im untersuchten Raum im Nordwesten des Reiches und auch anderswo im deutschsprachigen Raum des 13. Jahrhunderts nicht. Denn auch die süddeutsche Turnierbewegung oder die Münsteraner Erbmännerproblematik, die regional die Exklusivierung bestimmter Adelsgruppen forcierten, gewannen erst nach der Mitte des 15. Jahrhunderts an Vehemenz.

Und dennoch gilt es festzuhalten, dass sich während dieser langen Entwicklung der Zugang in die Ritterschaften zusehends verengte. Allerdings fand dies nicht als radikaler Schnitt im 13. Jahrhundert statt, sondern war ein fortwährender und vielgesichtiger Prozess, der sich über Jahrhunderte streckte. Dieser Prozess wird wiederum durch mehrere Entwicklungsschritte markiert, die aber auch keine Einzelereignisse, sondern ebenfalls Prozesse darstellten. Teilaspekte finden sich durchaus auch in England, Frankreich oder Italien, doch in ihrer Vielgesichtigkeit scheint die Entwicklung ein Spezifikum des Reichs gewesen zu sein – was aber nicht bedeuten soll, dass hier gerade in vergleichender, grenzübergreifender Perspektive nicht noch einige Fragen offenbleiben.[151]

Zu den prägenden Entwicklungen gehören die Umwandlung der Ministerialität in Lehnsmänner und letztlich Niederadlige in den Jahrzehnten um 1200, dann das Erblichwerden des ritterlichen Status im 13. und 14. Jahrhundert sowie der Ausbau der fürstlichen Territorialherrschaften und die damit verbundene Ausbildung von an diese Territorien gebundenen Ritterschaften im späten 14. und 15. Jahrhundert. Dazu gehörte auch die zeitgleiche Monopolisierung der Verleihung der Ritterwürde in Fürsten- und Kaiserhand. Jedoch ließ sich der informelle, aber sozial ausschlaggebende Status der Ritterbürtigkeit noch bis ins 15. Jahrhundert auf dem Wege der habituellen Aneignung erwerben. Im 15. Jahrhundert begann der sich im 16. und in den folgenden Jahrhunderten deutlicher ausprägende Prozess der förmlichen Nobilitierungen, die dem gewohnheitsrechtlichen Hineinwachsen in den Adel mit dem Briefadel eine neue Form des sozialen Aufstiegs an die Seite stellten. Doch auch wenn der Weg neu war, behielt hier gleichfalls die alte Faustregel ihre Gültigkeit, dass sich soziale Akzeptanz nur selten für den Aufsteiger selbst einstellte, sondern erst mit nachgeborenen Generationen, die den Status halten konnten. Das Hineinwachsen in den Niederadel ist für diesen geradezu konstitutiv.

Zwei weitere Faktoren beeinflussten diese Entwicklung zudem entscheidend. Dabei handelt es sich zunächst um die sozialen Veränderungen in den Städten, die lange Zeit als „Zunftrevolutionen“ bezeichnet worden sind.[152] Sie führten vielerorts zum Aufstieg einer kaufmännisch-handwerklichen Gruppe, die nicht über das soziale Kapital der alten Eliten verfügte. Ihr Aufschwung bewirkte aber auch ein Auseinandertreten von Stadt und Land, da sich eine soziale und habituelle Kluft zwischen den neuen städtischen Führungsgruppen und den alten ritterbürtigen Familien auf dem Land (und teils auch in den Städten) auftat.[153] Nicht unterschätzt werden dürfen zudem auch die Auswirkungen der Reformation, die zu einer spürbaren Reduzierung der Karrierewege für katholische wie protestantische Adlige führte, etwa wenn viele Stifte als Versorgungsinstitutionen wegbrachen. Diese verstärkte Konkurrenzsituation wirkte sich auch auf die Definition des adligen Status aus und bestärkte die Exklusivierungsbestrebungen – vor allem auf Seiten derjenigen, die glaubten, mehr zu verlieren zu haben.

Die Ausbildung der Landstände definierte die beiden Gruppen noch fester, da sich die Ritterschaften zwischen Ende des 14. und dem 16. Jahrhundert von einer losen Ansammlung von Individuen hin zu einer rechtlichen Einheit entwickelten. Im ausgehenden 16. Jahrhundert wurden sie über entstehende „Ritterlisten“ und sogenannte Rittersitze immer stärker formalisiert.[154] Mit großen zeitlichen Unterschieden entstanden in den einzelnen Territorien ritterschaftliche Matrikeln, die die Namen ihrer Mitglieder verzeichneten. Allerdings diente die Frage der Zugehörigkeit nicht nur der sozialen Distinktion, sondern war eine rechtliche und ökonomische Notwendigkeit. Gerade für die oft als Motor der Entwicklung fungierenden Finanzfragen war es von großem Belang festzulegen, ob eine Person zu einer Stadt oder zur Ritterschaft gehörte und wo sie damit ihre Steuern zu zahlen hatte. Dass Ritterbürtige, die einen Bürgereid geschworen oder ein städtisches Amt innehatten, von der Ritterschaft ausgeschlossen wurden[155], konnte daher auch nur eine Strategie der fiskalischen Übersichtlichkeit sein.

Aber auch dieser Entwicklungsschritt bedeutete nicht, dass die Aufnahme neuer Familien nun durch diesen verwaltungsgeschichtlichen Akt ein für alle Mal beendet war, denn auch in der Folge drangen neue Familien vereinzelt in die Ritterschaften vor. Im 17. Jahrhundert wurde dem durch die Einführung immer weiter ausgebauter Ahnenproben, die bereits zuvor im kirchlichen Bereich existiert hatten, Hürde um Hürde vorgeschaltet. Als bürgerlich bewertete Ahnen waren nunmehr auch im Nordwesten des Reichs zu einem Hindernis der sozialen Akzeptanz geworden.[156]

Der Weg des sozialen Aufstiegs in den Niederadel verengte sich also vom 13. Jahrhundert an immer weiter, geschlossen wurde er aber nie. Angesichts der evidenten sozialen Mobilität des Niederadels im Spätmittelalter von einer „Abschließung“ zu sprechen, verkennt die sozialen Realitäten. Im Lichte dieser Entwicklung sollte eine Beschreibung dieses Prozesses nicht „Abschließung des Ritterstandes“ lauten, sondern von einer „schrittweisen Festigung des ritterbürtigen Niederadels“ sprechen. Der Adel selbst blieb aber zu allen Zeiten eine Konvention, deren Definitionsmacht zu einem gewichtigen Teil innerhalb der eigenen Gruppe lag, aber auch von außen durch weltliche und geistliche Autoritäten beeinflusst wurde. Wirklich abgeschlossen wurde der Adel erst im Jahr 1919. Denn erst in dem Moment, in dem er als Stand im Deutschen Reich offiziell abgeschafft wurde[157], endete auch die theoretische Möglichkeit des Zugangs zu seinen Reihen.

Zusammenfassung

Lange Zeit ging die Geschichtsforschung davon aus, dass sich der Niederadel im deutschsprachigen Raum zum Ende des Hochmittelalters zu einem geschlossenen Stand formierte. Diese Idee von einer „Abschließung des Ritterstandes“ liegt zahlreichen adels- und gesellschaftsgeschichtlichen Arbeiten zugrunde, ist aber in jüngerer Zeit vermehrt in die Kritik geraten. Daher muss dieses wirkmächtige Paradigma auf den Prüfstand gestellt werden. Einerseits basiert die Abschließungsthese auf einer Reihe vor allem königlicher und kaiserlicher Erlasse des 12. und 13. Jahrhunderts, hat also ihre Wurzeln in einem normativen Zugriffsversuch auf den sich formierenden Niederadel. Andererseits war eben dieser Niederadel über Jahrhunderte ein fluides Gebilde, das sich erst langsam und in diversen Entwicklungsschritten festigte und Barrieren errichtete. Angesichts dieser sozialen Dynamik ist die Idee einer ständischen Abschließung im Mittelalter nicht länger haltbar.

Online erschienen: 2025-04-02

© 2025 The author(s), published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Aufsätze
  3. Das Ende des Aufstiegs? Die Idee von einer „Abschließung des Ritterstandes“ neu gedacht
  4. „Kosmopolitischer Idealismus“ und „nationale Realpolitik“ Aspekte der Sicherheitspolitik der deutschen Liberalen zur Mitte des 19. Jahrhunderts
  5. Adenauer und die Kernwaffen. Neue Antworten auf alte Probleme
  6. Privatrechtsgeschichte als Imperiengeschichte. Neue Wege zur Rechtsgeschichte des Habsburgerreichs
  7. Rezensionen
  8. John W. Arthur, Beer. A Global Journey through the Past and Present. Oxford, Oxford University Press 2024
  9. Christian Alexander Neumann (Ed.), Old Age Before Modernity. Case Studies and Methodological Perspectives, 500 BC – 1700 AD. Heidelberg, Heidelberg University Publishing 2023
  10. Birgit Aschmann / Klaus Herbers, Eine andere Geschichte Spaniens. Schlüsselgestalten vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Köln, Böhlau 2022
  11. Giacomo Bonan / Katia Occhi (Eds.), Environment and Infrastructure. Challenges, Knowledge and Innovation from the Early Modern Period to the Present. (Studies in Early Modern and Contemporary European History, Vol. 6.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  12. Christian Jansen / Oliver Janz, Geschichte Italiens. Vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Stuttgart, Kohlhammer 2023
  13. Christof Dipper, Die Entdeckung der Gesellschaft. Sattelzeit in Europa, 1770–1850. Berlin, Vergangenheitsverlag 2023
  14. Rainer Nicolaysen (Hrsg.), Hamburger Historikerinnen und Historiker im Gespräch. Interviews mit Gabriele Clemens, Hans-Werner Goetz, Frank Golczewski, Arno Herzig, Franklin Kopitzsch und Barbara Vogel. Göttingen, Wallstein 2024
  15. Frank Bernstein, Vergessen als politische Option. Zur Einhegung interner Konflikte in der Antike. Stuttgart, Steiner 2023
  16. John W. I. Lee, The First Black Archaeologist. A Life of John Wesley Gilbert. Oxford, Oxford University Press 2022
  17. Silvia Castelli / Ineke Sluiter (Eds.), Agents of Change in the Greco-Roman and Early Modern Periods. Ten Case Studies in Agency in Innovation. (Euhormos. Greco-Roman Studies in Anchoring Innovation, Vol. 4.) Leiden, Brill 2023
  18. Aaron Gebler, Die Verwendung und Bedeutung von Losverfahren in Athen und im griechischen Raum vom 7. bis 5. Jahrhundert v. Chr. (Hamburger Studien zu Gesellschaften und Kulturen der Vormoderne, Bd. 27.) Stuttgart, Steiner 2024
  19. Madalina Dana, La correspondance grecque privée sur plomb et sur tesson. Corpus épigraphique et commentaire historique. (Vestigia. Beiträge zur alten Geschichte, vol. 73.) München, Beck 2021
  20. Julian Wünsch, Großmacht gegen lokale Machthaber. Die Herrschaftspraxis der Seleukiden an den Rändern ihres Reiches. (Philippika. Altertumswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 164.) Wiesbaden, Harrassowitz 2022
  21. Panayiotis Christoforou, Imagining the Roman Emperor. Perceptions of Rulers in the High Empire. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  22. Angela Hug, Fertility, Ideology, and the Cultural Politics of Reproduction at Rome. (Impact of Empire, Vol. 45.) Leiden, Brill 2023
  23. Brenda Longfellow / Molly Swetnam-Burland (Eds.), Women’s Lives, Women’s Voices. Roman Material Culture and Female Agency in the Bay of Naples. Austin, TX, University of Texas Press 2021
  24. Isidor Brodersen, Das Spiel mit der Vergangenheit in der Zweiten Sophistik. (Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge, Bd. 86.) Stuttgart, Steiner 2023
  25. Steve Mason, Jews and Christians in the Roman World. From Historical Method to Cases. (Ancient Judaism and Early Christianity, Vol. 116.) Leiden, Brill 2023
  26. Brouria Bitton-Ashkelony / Martin Goodman (Eds.), Essays on Jews and Christians in Late Antiquity in Honour of Oded Irshai. (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, Vol. 40.) Turnhout, Brepols 2023
  27. Tabea L. Meurer / Veronika Egetenmeyr (Eds.), Gallia docta? Education and In-/Exclusion in Late Antique Gaul. Tübingen, Mohr Siebeck 2023
  28. Lucy Grig, Popular Culture and the End of Antiquity in Southern Gaul, c. 400–550. Cambridge, Cambridge University Press 2024
  29. Peter Brown, Journeys of the Mind. A Life in History. Princeton, NJ, Princeton University Press 2023
  30. Johannes Preiser-Kapeller, Der lange Sommer und die kleine Eiszeit. Klima, Pandemien und der Wandel der Alten Welt von 500 bis 1500 n. Chr. (Globalhistorische Skizzen, Bd. 38.) Wien, Mandelbaum 2021
  31. Christoph Mauntel, Die Erdteile in der Weltordnung des Mittelalters. Asien – Europa – Afrika. Stuttgart, Hiersemann 2023
  32. Józef Dobosz, The Church and Cistercians in Medieval Poland. Foundations, Documents, People. (East Central Europe, 476–1795, Vol. 2.) Turnhout, Brepols 2023
  33. Frank-Michael Kaufmann (Hrsg.), Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Petrinische Glosse. (Monumenta Germaniae Historica. Fontes Iuris Germanici Antiqui, Bd. 11.) Wiesbaden, Harrassowitz 2021
  34. Katherine Ludwig Jansen, Peace and Penance in Late Medieval Italy. Princeton, NJ, Princeton University Press 2020
  35. Volker Leppin, Ruhen in Gott. Eine Geschichte der christlichen Mystik. München, Beck 2021
  36. Susanne Thürigen, Turm, Spiegel, Buch. Astronomische Tischuhren in Süddeutschland zwischen 1450 und 1650. (Object Studies in Art History, Bd. 6.) Berlin/Boston, De Gruyter 2022
  37. Daniel Bellingradt / Anna Reynolds (Eds.), The Paper Trade in Early Modern Europe. Practices, Materials, Networks. (Library of the Written Word, Vol. 89.) Leiden, Brill 2021
  38. Joachim Fichtel, Die Zwickauer Propheten. Nicolaus Storch und die radikale Reformation. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2023
  39. James R. Fichter, Tea. Consumption, Politics, and Revolution, 1773–1776. Ithaca, NY, Cornell University Press Services 2023
  40. Jeremy Adler, Goethe. Die Erfindung der Moderne. München, Beck 2022
  41. Eduardo Posada-Carbó / Joanna Innes / Mark Philp (Eds.), Re-imagining Democracy in Latin America and the Caribbean, 1780–1870. Oxford, Oxford University Press 2023
  42. Daniel Ristau, Die Familie Bondi und das „Jüdische“. Beziehungsgeschichte unter dem bürgerlichen Wertehimmel, 1790–1870. (Bürgertum. NF., Bd. 22.) Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2023
  43. Hans-Joachim Hoffmann, Johann Anton Joseph Hansen (1801–1875). Ein streitbarer Trierer Theologe und seine Anstöße zu Reformen in Kirche, Staat und Gesellschaft. Münster, Aschendorff 2023
  44. Katrin Brösicke, Kulturkontakt Krieg. Spanienbilder deutschsprachiger Teilnehmer am spanischen Unabhängigkeitskrieg 1808–1814. 2., durchges. und korr. Aufl. (Krieg in der Geschichte, Bd. 116.) Paderborn, Schöningh 2023
  45. M. Talha Çiçek, Negotiating Empire in the Middle East. Ottomans and Arab Nomads in the Modern Era, 1840–1914. Cambridge, Cambridge University Press 2023
  46. Jennifer C. Snow, Mission, Race, and Empire. The Episcopal Church in Global Context. New York, Oxford University Press 2024
  47. Saskia Coenen Snyder, A Brilliant Commodity. Diamonds and Jews in a Modern Setting. Oxford, Oxford University Press 2023
  48. Kevin Kenny, The Problem of Immigration in a Slaveholding Republic. Policing Mobility in the Nineteenth-Century United States. Oxford, Oxford University Press 2023
  49. Alexander Sievers, Die Ökonomisierung der Kartografie. Kartenhandel im 19. Jahrhundert in Deutschland. (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Beih. 31.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  50. Gundula Gahlen, Nerven, Krieg und militärische Führung. Psychisch erkrankte Offiziere in Deutschland (1890–1939). (Krieg und Konflikt, Bd. 17.) Frankfurt am Main, Campus 2022
  51. Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster Diener (Bearb.), „Ew. Kaiserlichen und Königlichen Majestät alleruntertänigster Diener“. Briefe Georg Ernst Hinzpeters an Kaiser Wilhelm II. aus den Jahren 1897–1906. Edition und Kommentar von Georg Schneider. (Sonderveröffentlichung des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg e. V., Bd. 27.) Bielefeld, Verlag für Regionalgeschichte 2023
  52. Antonio Scaglia, Max Weber – Der revolutionäre Wandel zur Moderne. Nichtlegitime Herrschaft und Demokratisches Charisma. Berlin, Duncker & Humblot 2024
  53. Stefan Berger / Philipp Müller (Eds.), Dynamics of Emigration. Émigré Scholars and the Production of Historical Knowledge in the 20th Century. Oxford, Berghahn 2022
  54. Hans-Peter Ullmann, Kontrolle und Beratung. Der deutsche Rechnungshof im Wechsel der politischen Systeme des 20. Jahrhunderts. Göttingen, Wallstein 2021
  55. Pepijn Corduwener, The Rise and Fall of the People’s Parties. A History of Democracy in Western Europe since 1918. Oxford, Oxford University Press 2023
  56. Dennis Werberg, Der Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten. Eine Veteranenorganisation und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus. (Zeitalter der Weltkriege, Bd. 25.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  57. Günter Erbe, Nicolaus Sombart. Utopist, Libertin, Dandy. Köln, Böhlau 2023
  58. Jens Wehner, „Technik können Sie von der Taktik nicht trennen“. Die Jagdflieger der Wehrmacht. (Krieg und Konflikt, Bd. 15.) Frankfurt am Main, Campus 2022
  59. Stefanie Palm, Fördern und Zensieren. Die Medienpolitik des Bundesinnenministeriums nach dem Nationalsozialismus. (Veröffentlichungen zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945, Bd. 7.) Göttingen, Wallstein 2023
  60. Andrea Erkenbrecher, Oradour und die Deutschen. Geschichtsrevisionismus, strafrechtliche Verfolgung, Entschädigungszahlungen und Versöhnungsgesten ab 1949. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 126.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  61. Jutta Braun, Politische Medizin. Das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR 1950 bis 1970. Göttingen, Wallstein 2023
  62. Luiz Guilherme Burlamaqui, The Making of a Global FIFA. Cold War Politics and the Rise of João Havelange to the FIFA Presidency, 1950–1974. Übers. von John Ellis-Guardiola. (RERIS Studies in International Sport Relations, Vol. 1.) Berlin/Boston, De Gruyter 2023
  63. Louis Howard Porter, Reds in Blue. UNESCO, World Governance, and the Soviet Internationalist Imagination. Oxford, Oxford University Press 2023
  64. Erik Linstrum, Age of Emergency. Living with Violence at the End of the British Empire. Oxford, Oxford University Press 2023
  65. Jane Freeland, Feminist Transformations and Domestic Violence Activism in Divided Berlin, 1968–2002. (British Academy Monographs.) Oxford, Oxford University Press 2022
  66. Stephen Brooke, London, 1984. Conflict and Change in the Radical City. Oxford, Oxford University Press 2024
  67. Michael Hecker / Bärbel Friedrich, Die ostdeutschen Universitäten im vereinten Deutschland. Eine Erfolgsgeschichte in Ost-West-Perspektive. Halle, Mitteldeutscher Verlag 2023
  68. Eingegangene Bücher
  69. Eingegangene Bücher
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