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Alcuin als planender Architekt in York und Aachen *

  • Dietrich Lohrmann EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 24. September 2024
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Abstract

This article mentions first the recent advances in the study of Aachen Cathedral: the discussion about its dates of construction, the architects, and principally Alcuin as donneur d’idées of the decisive concept. It refers particularly to a little noticed statement at the end of Alcuin’s poem on the saint-bishops of York, where he indicates his share in the construction of a new church of St. Sophia in York. We then examine Alcuin’s role as a church planner, offer two new pieces of evidence for the progress of construction in Aachen ( 795–799 ), suggest the use of columns from Italy in Aachen and other churches ( Centula, Saint-Amand ) and conclude with Alcuin’s donation of Bible copies and his relationship to the oldest Vitruvius manuscript Harleianus 2767.

[*]Die Erforschung der Baugeschichte des Aachener Doms hat in den Jahren um 2010 erfreuliche Fortschritte gemacht. Zunächst gelangen einige neue archäologische Funde, die naturwissenschaftlich gesicherte Datierungshinweise für den Baubeginn brachten ( Arbeiten am Fundament frühestens im Jahr 793 ) [2]. Aus den hölzernen Ringankern am Ansatz des Zentralgewölbes konnte Dombaumeister Helmut Maintz wichtige Daten für den Abschluss des Baues ermitteln ( 803 +/- 810 ) [3]. Wenig später bestimmte Ulrike Heckner in einer bemerkenswerten Untersuchung das lang gesuchte Fußmaß, das mit großer Wahrscheinlichkeit bei der Planung des ‚Tempels Salomos in Aachen‘ zugrunde gelegt wurde. Sie rekonstruierte damit die geometrischen und arithmetischen Eigenschaften des gesamten Bauwerkes und sammelte, zusammen mit Christoph Schaab, wichtige Nachrichten zum Baumaterial, der Bautechnik und Bauausführung [4]. Etliche Fragen sind trotzdem offengeblieben, denn auch die schriftlichen Quellen haben ihr letztes Wort noch nicht gesprochen.

1. Die Architektenfrage

2013 resümierte Judith Ley im zweiten Band der neuen Aachener Stadtgeschichte neben vielem anderen die bisherigen Vorschläge für eine Klärung der Architektenfrage. Sie nennt zunächst den schon oft erwähnten Meister Odo. Dessen Name ist durch die Kopie einer Bauinschrift in einem alten, nach Wien gelangten Missale bekannt. Danach behandelt sie Alcuin, Karls des Großen berühmten Lehrer und Berater, als möglichen Schöpfer der Planungskonzeption. Drittens nennt sie Einhard, von dem seine Grabinschrift sagt, er habe im Auftrag Karls zahlreiche Bauwerke vollendet ( multa satis opera perfecit ). Hierzu hält die Autorin fest, dass Einhards möglicher Anteil an dem Aachener Bau ganz unbestimmt sei, er aber den römischen Architekturtraktat des Vitruv kannte und später unter Ludwig dem Frommen die Basiliken in Steinbach und Seligenstadt erbaute. Sie vergisst auch nicht, dass Einhard schon unter Karl in der zeitgenössischen Hofpoesie ebenso wie in Briefen scherzhaft den Namen des Erbauers der alttestamentarischen Stiftshütte „Beseleel“ ( Exodus 35, 30–35 ) erhalten hatte, ein deutlicher Hinweis auf seine architektonischen Kenntnisse bzw. Leistungen, der aber nicht besagt, dass Einhard auch an dem Aachener Bau beteiligt gewesen sein muss [5]. Erst ab 807 wird die Stellung Einhards deutlicher: Er hatte nun als Oberaufseher der königlichen Bauten in Aachen einen im Bauwesen bereits sehr erfahrenen Untergebenen, den späteren Abt von Saint-Wandrille, Ansegis [6].

Odo, Alcuin, Einhard: Mit dieser Nennung möglicher Architekten ist noch keine zeitliche Abfolge der Verantwortlichkeiten am Bau des Domes angesprochen. Eine bestimmte Abfolge liegt aber nahe. Im Fall des Meisters Odo bedeutet das Wort explevit im Eintrag des Wiener Missale meines Erachtens nicht, dass Karl ihn mit der „Ausführung des Planes“ betraute, wie das Faymonville einst glaubte, sondern eher, dass er den Bau vollendete [7]. Damit läge sein Anteil deutlich später als der Alcuins. Die unter seiner Leitung erfolgte Vollendung wäre im Zusammenhang mit dem Bau der Zentralkuppel zu sehen, würde also wie angedeutet durch die Datierung der Holzringanker dieser Kuppel bestimmt: Wir kämen auf eine Datierung „803 +/-10 AD“ [8]. Sicher ist, dass wir die Bezeichnung „Odo von Metz“ nicht länger benutzen sollten, denn die Kopie der angeblichen Inschrift in der Wiener Handschrift nennt ihn nicht so, sie sagt nur, dass er am Abschluss des Aachener Baues beteiligt war bzw. ihn vollendete und in Metz begraben liegt:

Infra capellam scriptum: Insignem hanc dignitatis aulam Karolus Caesar magnus instituit. Egregius Odo magister explevit, Metensi fotus in urbe quiescit[9].

In der Kapelle steht geschrieben: ‚Diese herausragende, würdevolle Halle begann der große Kaiser Karl. Der berühmte Meister Odo vollendete sie, er ruht behütet in der Stadt Metz‘.

Zu Alcuin und Einhard ist zu bemerken, dass Alcuin bei weitem der ältere war; seine Geburt wird überwiegend für das Jahr 735 angenommen, die Geburt Einhards für das Jahr 770. Wir möchten deshalb in einem ersten, noch sehr approximativen Versuch annehmen, dass Alcuin für Karl in der Planungsphase der maßgebende Berater war, während Odo erst nach dem Weggang Alcuins aus Aachen Ende 796 die volle Verantwortung für den Abschluss des Bauwerks übernommen hätte. Wie weit der nun etwa 26-jährige Einhard an diesen Aufgaben beteiligt war, bleibt vorerst offen. Multa satis opera perfecit, die Angabe Einhards mit Bezug auf ihn, muss sich nicht auf die Vollendung der Pfalzkirche beziehen wie bei Odos explevit, sondern bedeutet eher die Ausführung zahlreicher anderer Bauaufträge bis zu ihrem Abschluss, wobei Ansegis wie gezeigt ihm zur Seite stand.

Für Alcuin nimmt Judith Ley an, er habe zusammen mit Theodulf von Orléans die „geistigen Grundlagen des außergewöhnlichen Kirchbaus“ gelegt. Sie notiert aber ebenso, dass seine Mitwirkung an der Planung der Pfalz „nirgends erwähnt“ wird [10]. Insofern mag ein Beleg für seine praktische Erfahrung im Kirchenbau an einem anderen Ort willkommen sein. Alcuin brachte diese Erfahrung bereits mit, als er 781/782 auf Einladung des Königs an den Hof kam.

2. Alcuin als Architekt in York

Alcuin stammte bekanntlich aus dem angelsächsischen York ( Eboracum ). Er wirkte dort während der zehnjährigen Amtszeit seines Lehrers Aelbert ( Bischof bzw. Erzbischof 768–778 ) als Leiter der Kathedralschule, aber auch als Baumeister. Vermutlich Ende 780, nach dem Tod seines 778 zurückgetretenen Lehrers, schrieb er zu dessen Lob den Schlussteil ( genau 200 Verse ) eines umfangreichen Gedichtes über die Heiligen der Kirche von York. Dort überschüttet er seinen Lehrer anfangs mit Ehrenbezeichnungen, er beschreibt seine Ausbildung, seine Sammelleidenschaft für Bücher und sein Lehrprogramm. Seinen Unterricht hatte Alcuin selbst zuvor mit Begeisterung in sich aufgenommen, er enthielt einen deutlichen Schwerpunkt in der Kalenderrechnung und Astronomie und umfasste auch mathematische Elemente, Geometrie und Astronomie: Wissen, das Alcuin später an Karl weitergab [11]. In Alcuins Lobpreis auf seinen Lehrer folgen Aelberts wichtigste Maßnahmen als neuer Bischof ( bis 773 ) und Erzbischof von York ( bis 778 ).

Danach werden die Baumaßnahmen erläutert. Zunächst wird die Anlage eines großen, reich verzierten Altars beschrieben, gewidmet dem heiligen Paulus, dann der Bau einer ganz neuen Basilika, die ihrerseits der heiligen Sophia geweiht war ( sophiae sacraverat almae ). Schließlich werden die beiden Hauptverantwortlichen genannt, die diesen Bau einträchtig verwirklicht hatten: Eanbald, der Nachfolger Aelberts als Bischof ( ab 778 ), und der Diakon Alcuin. Aelbert war ihr gemeinsamer Lehrer gewesen.

Die Basilika der hl. Sophia in York ist Alcuins Angaben zufolge unter seinem Lehrer Bischof Aelbert begonnen, ausgeführt und geweiht worden ( coepta, peracta, sacrata ). Geweiht wurde sie allerdings erst zwei Jahre, nachdem Aelbert sein Amt an seinen Nachfolger Eanbald übergeben hatte, und zehn Tage vor seinem Tod. Den Zeitpunkt des Todes seines Lehrers ( 8. November 780 ) hat Alcuin auf Tag und Stunde genau in den nachfolgenden Versen 1582–1584 festgehalten. Man kann vermuten, dass die Kirchweihe im Blick auf den sich verschlechternden Gesundheitszustand Aelberts etwas vorgezogen werden musste; sie fand zehn Tage vor dem Todestag 8. November statt, das heißt zwei Tage vor Allerheiligen, einem Festtag, der allerdings noch nicht überall in Europa etabliert war [12]. Deutlich ist in jedem Fall, dass das Gebäude nach einer Bauzeit von maximal zehn bis zwölf Jahren im Oktober 780 im Wesentlichen fertig gestellt war.

Alcuins kurze Baubeschreibung und das Patrozinium der hl. Sophia in York lassen einen Zentralbau erkennen, wenn man zwei Merkmale herausstellt, die große Höhe ( nimis alta domus ) und die „Umgänge“ ( porticus ), die offenbar sehr zur Schönheit des Gebäudes beitrugen: pulchraque porticibus fulget circumdata multis. Die Kirche bot Platz für dreißig Altäre. Überwölbt war der Innenraum aber wohl nicht: intus emicat egregiis laquearibus atque fenestris – „Im Innern glänzt er durch herrliche getäfelte Decken und Fenster.“ Es waren also wohl Flachdecken, jedenfalls nicht miri tholi – „wunderbare Gewölbe“, wie sie Theodulf von Orléans im Frühjahr 796 mit einem aus dem Griechischen abgeleiteten Fachbegriff für den Aachener Kirchenbau bezeugt [13].

Wichtig wären noch nähere Aufschlüsse über die genannte Sophienkirche in York, wie überhaupt unser Blick sich künftig auch auf die angelsächsische Architektur des 8. Jahrhunderts richten sollte, von Aachen aus nicht nur nach Italien und Byzanz, sondern auch nach Westen. Die Sophienkirche ist jedoch längst verschwunden. R. K. Morris vermutete 1986 eine Lage auf dem südlichen Ufer des River Ouse und einen Zusammenhang mit einer Christ Church in späteren Dokumenten sowie der Kirche Holy Trinity, Micklegate, die zuerst im Domesday Book erwähnt wird [14]. Dem schloss sich Edward James anlässlich der Aachener Alcuin-Tagung von 1991 an [15]. Archäologische Spuren konnten bis zu diesem Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden; sie scheinen auch heute noch nicht gefunden zu sein. Wir bleiben somit angewiesen auf die bereits referierten Aussagen Alcuins. Eine spätere Änderung des Patroziniums zugunsten des Christus- oder Trinitätspatroziniums scheint durchaus möglich zu sein. Die heutige Kirche Holy Trinity in York stammt in ihrer ältesten Gestalt aus dem späten 12. und 13. Jahrhundert.

Im Zusammenhang lautet der Abschnitt zum Bau der Sophienkirche in York so [16]:

Ast nova basilicae mirae structura diebus, praesulis huius erat iam coepta, peracta, sacrata.

Auch wurde in den Tagen dieses Bischofs schon der Bau einer wunderschönen Basilika begonnen, ausgeführt und geweiht.

Haec nimis alta domus solidis suffulta columnis, suppositae quae stant curvatis arcubus, intus emicat egregiis laquearibus atque fenestris. Pulchraque porticibus fulget circumdata multis, plurima diversis retinens solaria tectis, quae triginta tenet variis ornatibus aras.

Dieses sehr hohe Gebäude war gestützt auf starke Säulen, die in den Rundbögen stehen. Der Innenraum leuchtet durch herrliche getäfelte Decken und Fenster, er glänzt schön umgeben von vielen Umgängen und hat vielerlei überdeckte Balkone, dazu dreißig Altäre mit verschiedenem Schmuck.

Hoc duo discipuli templum, doctore iubente, aedificaverunt Eanbaldus et Alcuinus, ambo concordes operi devota mente studentes.

Auf Weisung des Lehrers bauten diesen Tempel seine Schüler Eanbald und Alcuin, beide einvernehmlich und frommen Sinnes um das Bauwerk bemüht.

Hoc tamen ipse pater socio cum praesule templum ante die decima quam clauderet ultima vitae lumina praesentis, Sophiae sacraverat almae.

Diesen Tempel weihte der Vater gemeinsam mit dem Bischof zehn Tage, bevor sein Lebenslicht erlosch. Er weihte ihn der hohen Weisheit.

3. Beginn und Fortschritte des Baues in Aachen

Der Aachener Bau hatte im Frühjahr 796 wohl gerade die kleineren Gewölbe im Untergeschoss des Sechzehnecks erhalten und diente bereits für einen Empfang von Boten und eine Zeremonie mit Dankgebeten. Bezeugt wird das in Theodulfs langem Gedicht Nr. 25 zu Ehren Karls. Es beschreibt eine Szene des Frühjahrs 796 im Anschluss an die Eroberung des Avarenringes, die Übersendung des großen Avarenschatzes und die Erwartung von Gesandten der Araber aus Córdoba [17]:

Ver venit ecce novum, cum quo felicia cuncta teque tuosque adeant, rex, tribuente deo.

Schau, neuer Frühling kommt, mit ihm gelange zu Dir und den Deinen, König, viel Glück durch Gottes Geschenk.

Undique legati veniant qui prospera narrent, praemia sint pacis, omnis abesto furor.

Von überall her mögen Legaten kommen, die von Erfolgen berichten, sie seien Lohn des Friedens, jedes Kriegswüten sei fern.

Mox oculis cum mente simul manibusque levatis ad caelum grates fertque refertque deo. Consilii celebretur honos, oretur in aula, qua miris surgit fabrica pulchra tholis.

Augen, Sinn und Hände zugleich zum Himmel erhoben, danket er Gott immer neu. Feierlich halte man Rat und bete in der Kirche, deren Bau mit wunderbaren Gewölben in die Höhe wächst.

Das Gedicht liefert einerseits einen klar beschriebenen Zeitrahmen, das Frühjahr 796. Es wird durch die militärischen und politischen Erfolge bestimmt, die sich aus den Reichsannalen ergeben ( Avarenfeldzug, Erwartung von Gesandten aus Córdoba ), nennt am Schluss aber auch architektonische Details: Die neue Kirche wächst hervor ( surgit ), erste schöne Gewölbe sind fertiggestellt. Im Frühjahr 796 sind das am ehesten die unteren Gewölbe des Sechzehnecks. Der anschließende Zug der Festgesellschaft ( bergan zu den culmina palatinae sedis ) lässt die Aachener Pfalz deutlich als Ort der Szene erkennen. Tholus ist an sich eine griechische Bezeichnung für Gewölbe, sie ist aber schon Jahrhunderte früher latinisiert worden und findet sich beispielsweise schon im 5. Jahrhundert im ‚Carmen paschale‘ ( 1, 285 ) des Sedulius, eines viel gelesenen Dichters [18]. Der entscheidende Vers 62 Qua miris surgit fabrica pulchra tholis steht nicht im Konjunktiv wie die benachbarten Verse, er schildert demnach den tatsächlichen Baufortschritt. Von Kuppeln ( tholis includunt atria celsis ) spricht auch das Aachener Epos ( MGH Poetae 1, 368 Vers 105 ).

Neben dem sicher datierten Hinweis Theodulfs [19] gibt es noch, ebenfalls zu 796 gestellt, aber erst einige Jahre später anzusetzen, die südgallischen Berichte des ‚Chronicon Anianense‘ und der Chronik von Moissac, die auf Angaben des Benedikt von Aniane oder seines Umkreises zurückgehen dürften, der sich 802 in Aachen aufgehalten hat. Der Text aus Moissac hebt die aus Bronze gegossenen Tore und Gitter hervor ( portas et cancella fecit aerea ), der aus Aniane betont die Herkunft der Säulen und Marmorplatten aus Rom und Ravenna. Er begründet das damit, dass Karl sie anderwärts nicht hätte erhalten können: cum columnas et marmora aliunde habere non poterat, Roma atque Ravenna devehenda curavit[20]. Da die Gitter erst später im oberen Umgang eingesetzt wurden, lassen sich nur die Verse des Theodulf mit Sicherheit auf das Jahr 796 beziehen.

Eine noch etwas frühere Stelle in der karolingischen Dichtung nimmt ebenfalls Bezug auf den Bau der neuen Aachener Kirche. Sie findet sich in Angilberts großer Huldigung an König Karl ( David ), seine Familie und einige Hofleute. Nachdem er mehrfach wiederholt hat: „David liebt die Dichter, der Ruhm der Dichter ist David“ ( David amat vates, vatorum est gloria David ), und daran anschließend sagt, David wünsche am Hof weise Lehrer zum Lob der Künste und wolle damit die Weisheit der Alten wiederherstellen, erklärt er in Bezug auf den König [21]:

Fundamenta super petram quoque ponit in altum, ut domus alta deo maneat firmissima Christo. Felix sic lapides posuit sub dextera primum, inclita celsitrono fierent ut templa tonanti.

Auf den Fels baute er Grundmauern in die Höhe, dass sein hohes Haus felsenfest bleibe für Christus. So legte er glücklich zuerst unter der Rechten die Steine, so dass für die Gottheit im Himmel eine berühmte Kirche entstehen sollte.

Dieses Gedicht ist etwas früher entstanden als das Theodulfs. Mit der Datierung hat sich ausführlich Dieter Schaller beschäftigt [22]. Angilbert, der Verfasser, weilt noch am Hof, er ist noch nicht zu seiner Romreise des Jahres 776 aufgebrochen. Er will mit seinem Gedicht vor allem auch die holde Weiblichkeit, die Schwester und die Töchter des Königs beeindrucken und erinnert sich am Schluss an seine eigene Zeit an der Hofschule. Für die Geschichte der Aachener Kirche bringt er – bisher kaum beachtet – das älteste schriftliche Zeugnis mit der Aussage, dass König Karl als erster Steine legte, das heißt wohl persönlich den Grundstein legte, wie man heute sagen würde. Der Bezug auf Karls rechte Hand unterstreicht das. Der Plural lapides könnte auch allgemeiner gemeint sein in dem Sinne, dass der König selbst für den Antransport und die Vermauerung der Steine sorgte.

 Querschnitt durch das Aachener Oktogon nach Ulrike Heckner, Der Tempel Salomos ( wie Anm. 3 ), erweitert um die Daten zu 795 ( Angilbert ) und 796 Frühjahr ( Theodulf ). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Ulrike Heckner.

Querschnitt durch das Aachener Oktogon nach Ulrike Heckner, Der Tempel Salomos ( wie Anm. 3 ), erweitert um die Daten zu 795 ( Angilbert ) und 796 Frühjahr ( Theodulf ). Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Ulrike Heckner.

Die moderne Gesteinskunde konnte die Provenienz der Steine des Oktogons genauer bestimmen. An der Südfront sieht man besonders gut in der Fläche die heimische Grauwacke, im Bogen der Fenster und im Winkel der Mauern jedoch Sandsteine, die von fern angeliefert wurden wie die aus Euville, Jaumont und Oberlothringen. Die oberlothringischen Steine sollen zuvor in römischen Bauten des kaiserlichen Trier Verwendung gefunden haben. In Zweitverwendung gelangten sie dann als Leistung eines hohen Vasallen, des Erzbischofs von Trier, nach Aachen; eine Nachricht des 12. Jahrhunderts bestätigt den Bezug zu Trier. Von Leistungen der Vassallen des ganzen Reiches spricht zumindest der spätere Karlsbiograph Notker. Wir haben nun schriftliche Nachrichten zu 795 und 796.

Die nächste Etappe in der frühen Baugeschichte folgt im Frühjahr 798. Es ist der schriftliche Beleg, der bisher allein hervorgehoben wurde und als der einzige galt [23]. Am Ende eines langen Briefes an König Karl entschuldigt Alcuin sich, dass er ihm nicht ins kriegerische Sachsenland folgen kann. Lieber möchte er ihm bei seiner triumphalen Rückkehr nach Jerusalem/Aachen mit Palmenzweigen und Knabengesang ( pueris cantantibus ) begegnen, dort, wo der Tempel Salomos kunstvoll errichtet werde ( Epist. 145 Ende ) [24]. Konkreter wird die bald folgende Nachricht vom Juli 798. Nunmehr sind auch die Gewölbe des Obergeschosses fertig. Zu entnehmen ist das dem oft zitierten Brief Alcuins an Karl ( Epist. 149 ) [25], der angeblich die einzige schriftliche Nachricht zur Baugeschichte der Aachener Kirche darstellt. Alcuin berichtet über Fragen, die er mit einer Karl sehr nahestehenden Dame besprochen habe, vermutlich der Königin Liutgard. Es geht um Säulen in Karls wunderbarem Kirchbau, die dort eingesetzt worden seien. Der Einbau dieser Säulen, vermutlich aus Italien überbracht, war offenbar ein besonderes Anliegen Alcuins, das er in seiner Aachener Zeit nicht mehr hatte realisieren können. In Aachen hatten die Säulen keine statische Funktion; ob das in York anders war, wie der Text dort behauptet, sei dahingestellt.

4. Alcuin als Ideengeber und Planer in Aachen

Die Bedeutung von Alcuins Aussagen über die Sophienkirche in York für die Frage seines Anteils an der Gesamtkonzeption der Aachener Pfalzkirche liegt vor allem darin, dass er die Annahme verstärkt, Alcuin sei in der eigentlichen Planungsphase der wichtigste Ideengeber gewesen. Als möglichen Planer hat man ihn schon oft genannt, dies aber nicht durch einen direkten Quellenbeleg stützen können. Der Eintrag im Wiener Missale nennt nur den „Kaiser“ selbst als Erbauer, ähnlich wie dies Einhard in seinem Rückblick auf das Leben Karls tut ( Kap. 26: Religionem christianam coluit [ … ] ac propter hoc plurimae pulchritudinis basilicam Aquisgrani exstruxit ). Doch hinter solchen Zuweisungen an den Herrscher verbirgt sich seit der Antike die Leistung der eigentlich kreativen Architekten [26].

Bauherr, Architekt und Bauleiter müssen keineswegs identisch sein. Der Herrscher als Bauherr wird genannt, weil er die Geldmittel bereitstellte, vielleicht einige Leitlinien und die Dimensionen vorgab und wie im Falle Aachens den Grundstein bzw. die ersten Steine legte. Karl mag mit dem Gedanken an eine feste Residenz in Aachen bald auch den Gedanken an einen repräsentativen Kirchenbau verbunden haben. Die gedankliche, geometrische und zahlensymbolisch ausgestaltete Erstkonzeption jedoch geht jetzt mit umso größerer Wahrscheinlichkeit auf Alcuin zurück, als dieser zuvor wohl auch die planerische Gestaltung der Sophienkirche in York übernommen hatte. Jedenfalls spricht etliches für diese Annahme, da er schon in York über ein breit gefächertes Wissen verfügte, er andere Kirchbauten auf dem Kontinent gesehen hatte, insbesondere 768 in Rom und Pavia, und er somit wesentliche Voraussetzungen für eine ideelle Konzeption des Kirchbaues bot, während sein Partner Eanbald in York als künftiger Bischof besser die organisatorischen Aufgaben und die bauliche Durchführung übernehmen konnte. Analog könnte sich die Aufteilung bei der Bauplanung und Bauorganisation in Aachen gestaltet haben.

Für Alcuin als den eigentlichen Ideengeber, der die konzeptionellen Aufgaben übernahm, in York wie in Aachen, sprechen im Übrigen seine Studien in York, sein Interesse für Geometrie und Arithmetik im Quadrivium der Artes liberales, aber auch Hinweise auf diese Dinge in seinen frühen Dialogen mit Karl und dessen Söhnen und Töchtern sowie in seinen späteren Briefen [27]. Auf seinen zahlreichen Reisen hat er sich stets für Bauten und ihre Erbauer interessiert und nach Besuchen zahlreiche Verse zu ihnen hinterlassen [28]. Alcuin hatte somit das geistige Format, die Liebe zur Mathematik, die nötige Erfahrung, und schließlich auch die glückliche Idee zur Auswahl einer Inschrift, die den Sinn des Aachener Baues erklärt und noch heute das Oktogon umrundet. Alcuin übernahm dazu die ersten sechs Verse von einem Autor des 5. Jahrhunderts ( Prosper von Aquitanien ) und fügte am Ende ein klärendes Distichon hinzu:

Sic Deus hoc tutum stabili fundamine templum,

Quod Karolus princeps condidit esse velit[29].

So wolle Gott, dass dieser Tempel, den der Princeps,

Karl begründete, auf festem Grund sicheren Bestand habe.

Es fragt sich, ob Alcuin hier an den Baugrund auf Mauern eines römischen Bades gedacht hat oder einfach nur an die neuen Fundamente, die wenige Jahre später auch ein Erdbeben aushalten konnten. Gut gewählt und besonders aussagekräftig sind in jedem Fall die beiden ersten Verse der Inschrift. Der erste betont die Idee des Friedens als Voraussetzung für einen erfolgreichen Bau ( pacis compage ligantur ), der zweite die ausgewogenen geometrischen Abmessungen des Oktogons ( inque pares numeros omnia conveniunt ). Die Nennung des Friedens kann man auf die politisch-militärische Lage des Frühjahrs 796 beziehen, wie sie Theodulf von Orléans beschrieben hat, als er von Dankgebeten unter den ersten Gewölben sprach und günstige Nachrichten aus Pannonien und Córdoba in Aussicht stellte ( Carmen 25, Verse 57–58 ):

Undique legati veniant, qui prospera narrent,

Praemia sint pacis, omnis abest furor.

Von überall mögen Boten kommen, die günstige Nachrichten bringen.

Sie seien Lohn des Friedens, jedes Kriegswüten ist weit weg.

5. Säulen aus Italien auch für Centula und Saint-Amand?

Karl hat im Bereich der repräsentativen Kirchenarchitektur nicht nur an Aachen gedacht, sondern auch andere repräsentative Bauten in seinem Reich gefördert. Ein solcher Bau war mit Sicherheit die Hauptkirche des Klosters Centula/Saint-Riquier, weit im Westen des Reiches nahe der Mündung der Somme in den Ärmelkanal. Dieses reiche Kloster hatte er 790 seinem engen Vertrauten Angilbert als Laienabt übertragen, demselben hoch gebildeten fränkischen Adeligen, der etwa um dieselbe Zeit um Karls Tochter Berta warb. Die Chronik von Saint-Riquier behauptet gut drei Jahrhunderte später, Karl habe Angilbert dazu den Dukat dieser Region übertragen. Vor allem habe Karl in Centula auch die Kosten für einen neuen Kirchbau in Analogie zu seiner Aachener Kirche übernommen und Wagen nach Rom gesandt, um dort Säulen für diesen Bau zu holen [30]. Dies wäre eine erste Nachricht in dem Sinne, dass Karl die italienischen Säulen nicht nur in Aachen einsetzte. Überlassung von Säulen nach Centula ist insofern besonders einleuchtend, als es sich um ein Ebenbild der Aachener Kirche handeln sollte und um einen eng vertrauten Empfänger, nämlich Abt Angilbert, der mehrere Reisen nach Italien im Auftrag Karls unternommen hatte, dort viel gesammelt hatte und an der Organisation der Transporte teilgenommen haben könnte [31]. Günstiger Seetransport hätte die Säulen über die Mündung der Somme und den kleinen Nebenfluss Scardon bis zu dem bedeutenden Kloster gebracht.

Beachtlich ist noch eine Nachricht aus dem frühen 11. Jahrhundert. Hier geht es um den Abtransport von kostbaren Säulen aus einem weiteren, eng mit dem karolingischen Hof verbundenen Reichskloster, gemeint ist Saint-Amand im heutigen Nordfrankreich. Diesmal erfolgte der Transport per Schiff auf den Flüssen Scarpe, Schelde und Maas von Saint-Amand nach Verdun. Auf Schelde und Scarpe hätten die Säulen zuvor auch nach Saint-Amand gelangen können. Abt des Klosters Saint-Amand ab 782 war der spätere Erzbischof von Salzburg Arn, ein enger Freund Alcuins. Er hätte die Säulen vom König erhalten. Das Kloster war zu seiner Zeit mehrfach durch Überschwemmungen des Flusses Scarpe beschädigt worden. Abt Arn erweiterte und verschönerte insbesondere die Krypta, supponens tectis firmatos ter quatuor arcus[32]. Er stand in enger Verbindung zu Karl und Alcuin. Wenn mit den arcus nicht nur Bögen, sondern auch die zugehörigen Säulen gemeint sind, was nach supponens naheliegt ( columnas passt nicht ins Versmaß ), könnten sie es sein, die 300 Jahre später wegen ihrer Schönheit nach Verdun transportiert wurden. Für den Abtransport wäre der Landweg nach Verdun kürzer gewesen, der viel längere Schiffsweg war aber schonender für die Säulen [33]. Unter diesen Gesichtspunkten halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass König Karl von den aus Italien geholten Säulen, deren Zahl wir nicht kennen, einige außer an seine Kirche in Aachen auch nach Centula und nach Saint-Amand gegeben hat.

6. Frühe Planung?

Fraglich ist noch der Zeitpunkt, wann Alcuin im Auftrag Karls seine Planung in Aachen begonnen haben mag. Im Jahre 787 ist er kurz nach England gereist, um an einer wichtigen Synode mitzuwirken. Von angeblich 787 stammt aber auch schon der Brief Papst Hadrians I., der es Karl gestattete, aus dem Palast in Ravenna Mosaiken und Marmor zu entnehmen. Schon damals ging es also um größere, repräsentativ auszuschmückende Bauvorhaben [34].

In den Jahren 790–793 ist Alcuin erneut, nunmehr länger, nach York zurückgekehrt. Spätestens nach dieser letzten Reise, bei der er auch die Sophienkirche in York noch einmal gesehen haben dürfte, muss seine Konzeption für die Aachener Pfalzkirche entstanden sein. Nicht ausgeschlossen erscheint jedoch, dass die Aachener Planung wesentlich weiter zurückgeht als bisher angenommen. Wie wir sahen, erfolgten Planung, Durchführung und Weihe der Sophienkirche in York in einem Zeitraum von zehn bis zwölf Jahren, die Planung also sicher früh, etwa 767–769, wenn man für die Bauzeit wie in Aachen mindestens zehn Jahre hinzunimmt. Damit befinden wir uns für den Planungsbeginn in York etwa zeitgleich mit Alcuins erster Romreise ( 768 ) und Rückreise durchs Frankenreich mit dem ersten Besuch bei König Karl. Schon die Hinreise mit Halt in Pavia dürfte Aelbert und Alcuin in Italien Anregungen für einen neuartigen Kirchenbau vermittelt haben [35].

Die bereits bestehende ältere Kirche in Aachen war allem Anschein nach nicht sehr repräsentativ [36]. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass Karl und Alcuin schon bei ihrem ersten Treffen über einen künftigen schöneren Kirchenbau in Aachen gesprochen haben. Zu dem frühen Winteraufenthalt Karls in Aachen Anfang 769 kommt ein ähnlich langer Winteraufenthalt König Pippins wenige Jahre zuvor ( 765 ). So knapp die Nachrichten dazu auch sind, man sollte, wie schon Harald Müller betont hat [37], die Bedeutung dieser frühen Aufenthalte Pippins und Karls für die weitere Entwicklung Aachens nicht unterschätzen. Die beiden Winteraufenthalte legen es nahe, bereits zu diesem Zeitpunkt an die Existenz eines festen Königspalastes zu denken. Eine bisher in Aachen verbreitete Anschauung suggeriert zwar eher ein gleichzeitiges Entstehen von Palast und Oktogon, doch ist diese Annahme von jüngeren Bauhistorikern deutlich dementiert worden [38]. Zuerst kam der Palast mit dem Granusturm, dann mit gutem Abstand die repräsentative neue Kirche, denn es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Mauerwerk des Oktogons der Kirche mit weither geholten kostbaren Steinblöcken ( zum Teil, wie bemerkt, aus römischen Ruinen in Trier ) und andererseits den viel elementareren Grundmauern des Palastes und den Mauern des Granusturmes, vollständig aus heimischem Steinmaterial.

In derselben frühen Zeit vor 770 dürften in Aachen bereits die infrastrukturellen Arbeiten an der Umleitung eines Baches, der Pau, begonnen haben. Es ging darum, Wasser ins Zentrum der Pfalz zu führen [39]. Spätestens während der Winteraufenthalte Pippins und Karls dürfte sich gezeigt haben, dass der Hof dringend Wassermühlen benötigte, um die Mehlversorgung des Hofes und der Bewohner zu gewährleisten. Karl bestätigt das indirekt in seinem späteren ‚Capitulare de villis‘ Kap. 62. Was für die Klöster nach Kapitel 66 der ‚Regula Benedicti‘ galt, dürfte auch für die Pfalzen notwendig gewesen sein. Mühlen waren schon während der Bauzeit größerer Gebäude nötig, um die Vielzahl der Bauleute mit Brei und Brot zu versorgen, so nachweislich bei der großen Baustelle des Karlsgrabens in Franken [40]. Neben Getreidemühlen wurde mit guter Wahrscheinlichkeit auch eine Malzmühle benötigt, um für Bauarbeiter, Bewohner und Gäste genügend Bier brauen zu können. Als Standort kommen die späteren Malzmühlen am Johannisbach in Frage [41]. Mit den entsprechenden Wasserbauten als Infrastruktur war also anzufangen, gleichzeitig aber auch mit dem Bau einer ersten steinernen Königshalle.

Nach 769 dürfte eine längere Unterbrechung der oberirdischen Bauten eingetreten sein, da Karl durch Kriegszüge in Aquitanien, in Italien und nicht zuletzt durch den unerwartet langen Widerstand in Sachsen stark abgelenkt war und er erst 788 wieder für längere Zeit nach Aachen zurückkehrte.

7. Das Aachener Zentralgewölbe

Den Plan kleinerer Gewölbe ( tholi ), die Theodulf, wie wir sahen, schon im Frühling 796 erwähnt ( zuerst wohl nur im unteren Umgang des Sechzehnecks ), muss Alcuin im Zuge seiner Gesamtplanung mit Fachleuten besprochen haben [42]. Das große Klostergewölbe im Zentrum des Oktogons dagegen ist mit Sicherheit erst nach seinem Fortgang aus Aachen entstanden, wahrscheinlich erst nach dem Erdbeben von 803, denn im Tambour und in der Kuppel finden sich keine Erdbebenrisse. Die bemerkenswerte Statik ist unter Hinweis auf das leichte Travertinmaterial und hölzerne wie eiserne Ringanker erst jüngst deutlich herausgearbeitet worden [43]. Gerade diese Ringanker fielen schwerlich in Alcuins Kompetenz.

Treffen unsere Schlussfolgerungen zu, so ergab sich in Aachen zu Beginn der Planung möglicherweise eine ähnliche Situation wie Jahrhunderte später in Florenz, wo eine Lösung für die gewaltige Vierungskuppel bei Baubeginn noch ganz offen war und sie erst der große Architekt Filippo Brunelleschi um 1420 mit einem ganz neuen Konzept ermöglichte. Zu diesem Konzept gehörten auch Holz- und Eisenringe. Brunelleschi hatte ihren Einsatz schon in römisch-antiken Bauwerken beobachten können [44]. Ähnliches gilt möglicherweise auch für den Aachener Kuppelbauer.

Der Bau der Aachener Kirche war 798 mit Aufstellung der Säulen in der ersten Etage weit fortgeschritten, die Lösung für das Hauptgewölbe blieb aber offen. Sie fand nicht Alcuin, sondern möglicherweise erst der Meister Odo. Seinen Ursprung sehe ich, wie schon betont, weder in Armenien noch in Metz, sondern eher in Italien. Alcuin selbst war schwerlich ein Fachmann im Bau großer Gewölbe. Während der Zeit seines Rückzuges nach Tours schrieb er an Karl zwar etliche Briefe, erwähnt das Bauwerk, wie wir sahen, aber nur zwei Mal 798, im Juni mehr allgemein: „Wo der Tempel des weisen Salomo kunstvoll für Gott erbaut wird“, im Juli in Bezug auf die Säulen der Empore und den „allerschönsten und bewundernswerten Bau.“ [45]

Darüber hinaus ist klar, dass die Konzeption einer repräsentativen Kirche für den Frankenherrscher sich nicht vornehmlich am Vorbild einer bischöflichen Stiftskirche im nordenglischen York ausrichten konnte, wie das einst Peter Joseph Bock vermutete [46]. Viel eher hatte diese königliche Kirche einem Vergleich mit Bauten im Machtbereich des byzantinischen Kaisers standzuhalten. San Vitale in Ravenna bleibt somit das wichtigste erhaltene Vorbild für die Kirche in Aachen, auch wenn Alcuin selbst Ravenna wohl nie gesehen hat. Ein Plan oder eine Zeichnung mag ihm vorgelegen haben. Für den Bau der Gewölbe ist mit der Anwerbung von Baumeistern aus Italien zu rechnen, wenn nicht direkt aus dem byzantinischen Bereich. Die Bezeichnung tholi für die kleineren Gewölbe in Theodulfs Gedicht von 796 bietet freilich keine haltbare Stütze für einen byzantinischen Ursprung, denn die Entlehnung dieses Terminus aus dem Griechischen reicht, wie wir sahen, mindestens bis ins 5. Jahrhundert zurück.

8. Alcuins Bibelschenkungen für Aachen

Auch zur internen Ausstattung der Aachener Pfalzkirche hat Alcuin einiges beigetragen. Von Tours aus überbrachte er 799 ein Bibelexemplar mit folgenden Versen [47]:

Munera sed Domini caelestibus inclyta dictis

porto tibi plenis, optime rex, manibus.

Nempe novae ac veteris pariter pia famina legis

in hoc conduntur corpore quippe sacro.

Haec ego porto libens ad sancta sacraria templi,

quod tua mens noviter condidit alma Deo.

Erhabene Gaben durch himmlische Worte des Herrn bring ich Dir, bester König, mit vollen Händen, denn fromme Worte des Neuen und Alten Gesetzes sind in diesem heiligen Werk enthalten. Das bring ich froh zu den Heiligtümern der Kirche, die Dein hoher Sinn neuerlich für Gott gestiftet hat.

Streng betrachtet enthalten diese Verse ebenfalls ein frühes schriftliches Zeugnis für den neuerlich gestifteten Aachener Kirchenbau. Der Bibelcodex stammt offensichtlich aus dem sehr aktiven Scriptorium des Klosters St. Martin in Tours. Somit besteht ein enger Zusammenhang zu Alcuins Brief Nr. 195 an Karls Schwester Gisela, die Äbtissin von Chelles, der er kurz vor Ostern 800 einen ersten Teil seines Kommentars zum Evangelium des Johannes übersandte, wobei er hinzufügte, er hätte vielleicht die vollständige expositio des Evangeliums schon geschickt, hätte ihn nicht der Befehl des Königs ( domni regis praeceptum ) zur Emendation des Alten und Neuen Testaments beschäftigt. Eine gründliche Revision des gesamten Bibeltextes kann das aus zeitlichen Gründen kaum gewesen sein, aber zumindest eine rasche Durchsicht, bevor sich das Scriptorium an die Arbeit machte. Im gleichen Zusammenhang entstand wohl auch Alcuins langes Versgedicht über den Inhalt der biblischen Bücher ( Carmen 69 mit 204 Versen; kürzere Fassungen in den Carmina 66 und 68 ).

Eine weitere Bibel für Aachen, in Tours entstanden, versah Alcuin erneut mit Widmungsversen und sandte sie wohl noch vor der Kaiserkrönung durch einen Boten zur Pfalz des Königs. Man kann als Boten, Alcuins Briefen 261–262 folgend, an seinen Schüler Fridugis denken, und vielleicht deutet sich mit den Gottesdienern ( Dei famulis ) die Gemeinschaft an, die zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt aus der Gruppe der kaiserlichen Pfalzkapläne ein Kapitel von Kanonikern bilden sollte [48]. Dass es sich um das gleiche Exemplar handeln könnte wie in den vorauf zitierten Versen, nehme ich nicht an, da in einem Fall die Kirche, im andern die Pfalzgebäude gemeint scheinen. Auch ist der Überbringer im ersten Gedicht Alkuin selbst, im zweiten offenbar ein Bote. Die Verse lauten [49]:

Perge, libelle sacer, cunctis praeclarior odis,

Prospere, pacifice nunc miserante Deo.

Et pete praeclari praeclara palatia regis,

Ut maneas Christi semper in aede sacra.

Atque Dei famulis pacis fer munera cunctis,

dextera quos Domini protegat atque regat.

Quos colo corde, fide, sancto quoque semper amore cum lacrimis optans, ut vigeant, valeant.

Heiliges Buch, berühmter als alle Oden, reise nun wohl und friedlich durch Gottes Erbarmen, und gelange zu den berühmten Palästen des berühmten Königs, dass du in Christi heiligem Haus stets verbleibest. Und bringe Gaben des Friedens allen Gottesdienern, welche die Rechte des Herrn schütze und lenke. Sie ehre ich im Herzen, Glauben und steter heiliger Liebe, wünsche ihnen unter Tränen Kraft und Gesundheit.

9. Alcuin und Vitruv

Am Beginn dieser Untersuchung erwähnten wir den Hinweis von Judith Ley auf Alcuins Kenntnis des Vitruv. Auch hier lohnt es, näher hinzuschauen. Alcuins frühester Bezug auf Vitruvs Werk über die Architektur steht in einem seiner späten Briefe an den nunmehrigen Kaiser Karl ( Epist. 308 ). Er bezieht sich auf das Vorwort zum zweiten Buch Vitruvs, die Erwähnung des Dinokrates als Architekt Alexanders des Großen. Diese Stelle zitiert Alcuin ausführlich und übernimmt die Erklärung des Dinokrates vor Alexander: ad te cogitationes et formas, tuae claritati condignas, adfero – „Dir bringe ich Gedanken und Formen, die Deinem Ruhm würdig entsprechen.“ [50] Möglicherweise sieht sich Alcuin in einem ähnlichen Verhältnis zu Karl wie seinerzeit der Architekt Dinokrates zu Alexander und denkt an seine früheren Begegnungen mit Karl. Im selben Brief spricht er von Schärfung des Geistes der jungen Leute, eine Formulierung, die dem Titel der bekannten mathematischen Aufgabensammlung entspricht, mit der sich vor allem Menso Folkerts beschäftigt hat [51].

Auf das Vorwort zu Vitruvs fünftem Buch scheint Alcuin ebenfalls anzuspielen, wenn er in seinem Brief 308 den Geometrieunterricht des Pythagoras erwähnt. Sein Hinweis auf Aristippus ebenda geht auf das Vorwort zu Vitruvs sechstem Buch zurück. Karl hat nach solchen Philosophennamen gefragt und Alcuin danach noch einmal in einem Vitruvexemplar nachgelesen [52]. Zur Erinnerung: Das zweite Buch des Vitruv behandelt die Baustoffe und die Arten des Mauerwerks, das fünfte Buch die öffentlichen Bauten, das sechste die Ökologie der Bauten. Die Rezeption des Vitruv durch Alcuin beschränkte sich möglicherweise nicht nur auf die Theorie [53].

Bekannt ist, dass die älteste Abschrift des Vitruv, der Codex Harleianus 2767 in der British Library, nach Bernhard Bischoff „um 800 im Grenzbereich zwischen Ost- und Westfranzien“ geschrieben sein soll [54], nach einem Archetyp in angelsächsischer Schrift. Seine „splendid calligraphy“ und der dominante Einfluss dieser Handschrift in der späteren Überlieferung weisen nach L. D. Reynolds auf eine Entstehung am Hof Karls des Großen. Alcuin und Einhard seien die ersten, die in jener Zeit auf den Inhalt anspielten [55]. Die beiden Schlussblätter des Vitruvius Harleianus fand Bischoff in Oxford Bibl. Bodl., ms. Rawlinson D 893fol 136v. Dort fügte ein dankbarer früher Leser am Ende hinzu: Compos voti factus sum qui cognoverim quae sint in structuris et aedificiis adservanda. – „Ein Wunsch ging mir in Erfüllung, als ich erfuhr, was man bei Bauen und in Bauwerken beachten muss.“ [56] Woher Alcuin seine Zitate nahm, bleibt offen; ein Zusammenhang mit der Entstehung des Codex Harleianus erscheint möglich.

10. Resumée

Insgesamt wirft der Hinweis Alcuins auf seine Tätigkeit in York als Architekt der dortigen Sophienkirche zumindest einen Lichtstrahl auch auf die Frühgeschichte des Aachener Domes. Der Hinweis ist in Verbindung zu sehen zum bisher unbekannten Datum des ersten Treffens zwischen Karl und Alcuin, das schon 768/769 anlässlich der Rückreise Alcuins von Rom nach York durch das Reich Karls stattfand. Schon damals, als Alcuin bereits in der Planungsphase für die Sophienkirche in York stand und gerade zuvor in Italien eine Reihe jüngerer Kirchbauten kennengelernt hatte, kann im Gespräch mit Karl auch der Plan neuer Kirchen im Frankenreich ein wichtiges Thema gewesen sein. Hat dieses erste Treffen in Aachen stattgefunden, was naheliegt, da Karl in der fraglichen Zeit des Winters 769/770 drei Monate in Aachen verweilte, so liegt auch der Gedanke an einen künftigen Kirchenbau in Aachen nicht fern. Die politischen und kriegerischen Verwicklungen der 770–780er Jahre dürften eine rasche Umsetzung dieses Vorhabens in die Praxis verhindert haben. Der Bau der Aachener Pfalzkirche begann erst ca. 20 Jahre später. Ende 795 erwähnt der einflussreiche Angilbert die Grundsteinlegung durch den König. Ende 796, als Alcuin Aachen verließ, waren die Gewölbe des Sechzehnecks im Erdgeschoss fertig. Im Frühsommer 798 folgte der Einbau der aus Italien herangeschafften Säulen im oberen Umgang. Danach dürfte der Architekt Odo sich für die Vollendung des großen Klostergewölbes eingesetzt haben; als Planer des Gesamtgebäudes kommt er schwerlich in Frage.

Online erschienen: 2024-09-24
Erschienen im Druck: 2024-09-15

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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