Abstract
This article focuses on the question as to what extent prayer can be defined as a form of capital. To this end, a look is first taken at Pierre Bourdieu’s classical theory of capital, in order to subsequently clarify whether prayer can be associated with one of Bourdieu’s forms of capital ( economic, cultural and symbolic capital ) or whether it seems more appropriate to expand Bourdieu’s theory by adding a sub-form. The paper then asks about the risks involved in the Middle Ages when attempts were made to convert the immaterial resource of prayer into other forms of capital, by looking at the ‘Vita Columbani’ from the early Middle Ages. Finally, the article focuses on the prayer brotherhoods as a typical medieval response to secure the exchange of gifts between the prayers and the powerful in medieval society.
Wenn sich die Aufmerksamkeit der Beter, die von weltlichen Aufgaben befreit sind, auf Gott konzentriert, verdankt sie den Kämpfern, dass sie sich unbekümmert der heiligen Muße widmen kann, den Bauern, dass sie durch deren Anstrengungen mit leiblicher Speise genährt wird. Nichtsdestoweniger werden die Bauern durch die Gebete der Beter zu Gott erhoben und durch die Waffen der Krieger eifrig beschützt. Gleichfalls werden die Krieger durch die Erträge der Felder versorgt und durch die Zehntabgaben der Händler zufriedengestellt, und die Vergehen der Waffen sühnt das heilige Gebet der Frommen, die sie schützen. Sie sind sich, wie gesagt, gegenseitig behilflich [1].
Die zitierten Worte stammen von Bischof Gerhard I. von Cambrai ( 1012–1051 ); so will es uns zumindest das Geschichtswerk glauben machen, das von eben jenem Bischof selbst in Auftrag gegeben wurde, die ‚Gesta episcoporum Cameracensium‘. Auch wenn damit wohl keineswegs ausgemacht sein dürfte, dass uns der Historiograph hier den authentischen Wortlaut von Gerhards Predigt überliefert hat, so dürfte doch unstrittig sein, dass in dem Zitat ein soziales Ordnungsprinzip zum Ausdruck kommt, welches im Wesentlichen auf dem Moment funktionaler Differenzierung basiert. Konkret wird die Gesellschaft hier in drei soziale Gruppen unterteilt, nämlich in Beter, Kämpfer und Bauern.
Das Wissen um dieses dreigliedrige, funktional differenzierte Gesellschaftsmodell verdankt die Forschung vor allem den Arbeiten des Religionswissenschaftlers Georges Dumézil [2] sowie im Hinblick auf das Mittelalter den beiden Mediävisten Georges Duby und Otto Gerhard Oexle [3]. Unter Rückgriff auf diese Denkfigur ließe sich auch all jenen Mittelalterbildern eine Absage erteilen, die dem vermeintlich „segmentären“ und „stratifikatorischen“ Mittelalter keine funktionale Differenzierung zutrauen, sondern dieses Prinzip als exklusives Strukturmerkmal der Moderne verstanden wissen wollen, wie es etwa von Niklas Luhmann vertreten wurde [4].
Der Ausspruch des Bischofs von Cambrai zeigt jedoch noch etwas anderes, was von der Mediävistik bisher nur unzureichend und gleichsam en passant als „gegenseitige[ s ] Geben und Nehmen“ angesprochen wurde [5]. Gerhard beschreibt hier nämlich das Zirkulieren unterschiedlicher Kapitalarten.
Was waren die Güter, die die jeweiligen Gruppen in diesem als Kreislauf gedachten Prozess anzubieten hatten? Die Ressource der Bauern dürfte dem modernen Betrachter noch am bekanntesten vorkommen, nämlich ökonomisches Kapital in Gestalt von Agrargütern ( reditus agrorum ). Das Gut, welches die Kämpfer bzw. Krieger in jenem Gesellschaftsmodell anzubieten hatten, ist deutlich weniger konkret, ja vielmehr abstrakter, immaterieller Natur. Es handelt sich um zwei immaterielle Ressourcen, nämlich um Sicherheit und Muße. Die Ware indes, welche die Beter zum Tausch anzubieten hatten, ist ebenfalls immaterieller Gestalt: preces, also Gebete. Vor allem letzterer Ressource, letzterer Kapitalart soll im Folgenden das Hauptaugenmerk gelten.
Dass auch Gebete einen Verkehrswert besitzen und folglich wie materielle Handelsgüter im Warentausch eingesetzt werden können, ist keine ganz neue Einsicht. Die Forschung verdankt sie einer Arbeit des bekannten Ethnologen Marcel Mauss über das Gebet aus dem Jahr 1909, wo es heißt: „Die Gebete sind nämlich häufig regelrechte Werte, sie tragen zum Reichtum der Priesterklasse bei.“ [6] Damit hatte der Ethnologe eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, nämlich dass auch immaterielle Größen, wie eben das Gebet, über einen – kontextabhängigen und damit variablen – Verkehrswert verfügen, was sie zu Handelsgütern macht [7]. Kurzum, das Gebet kann Ware, kann Ressource sein [8]. Von hier aus ist der ( Gedanken )Sprung zu Bourdieus Kapitaltheorie an sich nicht mehr weit beziehungsweise naheliegend [9]. Eine solche Verbindung wurde von der Forschung bisher jedoch überraschend selten, ja eigentlich bisher noch überhaupt nicht gezogen [10]. Dieser Umstand darf jedoch nicht ( nur ) dem mangelnden interdisziplinären Weitblick der Mediävisten angelastet werden. Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das Gut, welches die Mönche im Mittelalter zum Tausch ( beziehungsweise zum Verkauf ) anzubieten hatten, nicht wirklich in eine der Kategorien von Bourdieus Kapitaltheorie passt.
Bekanntlich unterscheidet Bourdieu zwischen drei Arten von Kapitel in seiner Kultursoziologie. Zum einen wäre da das ökonomische Kapital, welches wohl am ehesten dem landläufigen Verständnis des Kapitalbegriffs entspricht [11]. Daneben kennt Bourdieu jedoch auch ein kulturelles Kapital, worunter er sämtliche Wissensbestände versteht beziehungsweise subsumiert, die ihren Inhabern in der gesellschaftlichen Interaktion mit anderen Akteuren einen Vorteil verschaffen können ( aber nicht zwingend müssen ). Anders als ökonomisches Kapital, das meist in irgendeiner objektivierten Form vorliegen muss – sei’s in Form von ( Bar )Geld oder aber Landbesitz, sei’s in Gestalt von Luxusgütern oder rein spekulativen beziehungsweise digitalen Werten wie Aktienpaketen und Staatsanleihen –, kann kulturelles Kapital auch ein innerer Wert sein; Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang auch von „inkorporiertem“ Kapital [12]. Zu denken wäre hier etwa an die Kenntnis einer bestimmten ( Programmier )Sprache oder einer wissenschaftlichen Methodik. Das heißt freilich nicht, dass kulturelles Kapital nur in verinnerlichter Gestalt begegnet, also zu den vielbeschworenen ‚inneren Werten‘ bzw. ‚soft skills‘ einer Person zählen würde. Es lassen sich auch objektivierte Formen antreffen, etwa ( Privat )Bibliotheken und Gemäldesammlungen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auch eine institutionalisierte Form in Gestalt von Bildungstiteln beziehungswiese akademischen Graden gibt es [13]. Vor allem aber, und das ist eine der Zentraleinsichten der Theorie, lässt sich das kulturelle Kapital in andere Kapitalarten ‚ummünzen‘, etwa das bereits angesprochene ökonomische Kapital. Dass sich beispielweise ein akademischer Grad auch in wirtschaftlicher Hinsicht ‚rechnet‘, also profitabel ist, dürfte eine – mal mehr mal weniger trügerische – Hoffnung nicht weniger Akademiker sein. Sodann kennt Bourdieu auch noch das symbolische Kapital, womit das Netz an sozialen Beziehungen angesprochen ist, über das die Akteure verfügen, beziehungsweise in welches sie eingebunden sind. Und ebenso wie die beiden anderen Kapitalarten, so lässt sich auch dieses relationale Gut, das symbolische Kapital also, im sozialen Spiel der Akteure einbringen und in andere Kapitalsorten konvertieren. Wie wichtig etwa soziale Kontakte ( familiäre Bande, konfessionelle Zugehörigkeit, Mitgliedschaft in einer politischen Gruppierung etc. ) für die Erlangung einer bestimmten wirtschaftlichen, akademischen oder aber politischen Position waren und wohl bis heute noch sind, darf als bekannt vorausgesetzt werden.
Entscheidend ist nun, dass sich die spezifische Ressource der oratores aus unserem Eingangsbeispiel, eben die Gebete, mit keiner der drei Kapitalarten assoziieren lässt, die Bourdieus Kapitaltheorie kennt. Zwar spricht Bourdieu in den wenigen Arbeiten, in denen er sich dem Phänomen ‚Religion‘ angenommen hat, zuweilen auch von religiösem Kapital, jedoch handelt es sich dabei im Vergleich zu der Kategorie des kulturellen oder symbolischen Kapitals um eine vergleichsweise amorphe Größe [14]. Am ehesten ließe sich das fragliche Phänomen, das im zeitgenössischen Diskurs als sanctitas, mithin als Heiligkeit [15] bezeichnet wurde, als eine Form von symbolischem Kapital fassen. Denn wie Letzteres so ist auch Heiligkeit eine relationale Größe, nur dass hier die Beziehung eben nicht zu einer Person der materiellen Welt unterhalten wird, sondern das fragliche Band die Grenze zwischen der immanenten Welt und der Sphäre der Transzendenz überwindet. Mit anderen Worten: Der Inhaber eines solchen Kapitals unterhält eine enge Beziehung zu Gott. Da es sich bei dieser besonderen Qualität der Heiligen jedoch nicht um eine genuine Qualität handelt, sondern um das Produkt sozialer Zuschreibung, hat Heiligkeit immer auch eine immanente, für die Menschen sichtbare Ausdrucksform [16].
Besser als jene Kapitalform mit einer der bestehenden Kategorien der Theorie zu assoziieren, wäre es jedoch, die Bourdieu’sche Kapitaltheorie um eine Kategorie zu erweitern, wie das von Seiten der Religionswissenschaften bereits vorgeschlagen wurde. Ob für diese Kapitalform nun der Begriff des religiösen oder doch des spirituellen Kapitals geeigneter beziehungsweise treffender erscheint, soll hier nicht ausdiskutiert werden – wobei ohnehin offen bleiben muss, wie sinnvoll beziehungsweise zielführend eine solche Diskussion wirklich ist [17]. Im Anschluss an eine Tübinger Forschergruppe ließe sich auch von einer ‚religiösen Ressource‘ sprechen – wobei beim derzeitigen Forschungstand offen bleibt, inwieweit dies wirklich einen heuristischen Mehrwert gegenüber der Begriffsbildung des religiösen oder spirituellen Kapitals darstellt [18]. Wesentlicher als die Frage der Etikettierung ist hier ohnehin eine andere Feststellung – nämlich, dass sich auch das religiöse Kapital in andere Kapitalarten ( oder eben Ressourcen ) umwandeln beziehungsweise konvertieren lässt – an diesem Umstand lässt unser Eingangsbeispiel keinen Zweifel aufkommen.
In einem Sakramentar aus dem ausgehenden 8. Jahrhundert findet sich sogar eine Umrechnungstabelle für Geld, Psalmen und Messen, also eine Liste der Kapitalkonvertierung. Dort heißt es in tabellarischer Form:
Für einen Solidus 100 Psalmen oder 3 Messen;
für eine Unze 150 Psalmen oder 3 Messen;
für 6 Unzen 6 Psalter und 3 Messen;
für ein Pfund 12 Psalter und 12 Messen [19].
Ob die Liste wirklich ‚exakt‘ ist, wie dies sich etwa Arnold Angenendt in einem Artikel zusammen mit seinem Schülerkreis gefragt hat, ist hier nicht entscheidend [20]. Wesentlich ist an dieser Stelle, dass die grundsätzliche Konvertierbarkeit von ökonomischem Kapital und religiösem Kapital verbrieft wird und sogar ein Konvertierungsschlüssel aufgezeigt wird.
An der grundsätzlichen Konvertierbarkeit bzw. Konvertabilität von religiösem und ökonomischem Kapital, also zwischen Gebeten und Geld, lässt auch die Lebensbeschreibung des heiligen Columban, die ‚Vita Columbani‘, keinen Zweifel aufkommen, um hier nur ein sehr bekanntes Beispiel aus dem Frühmittelalter anzuführen. Dem heiligen Iren wurden ob seiner besonderen Heiligkeit von Seiten der merowingischen Herrscher diverse materielle Güter regelrecht aufgezwungen; so stellt es zumindest sein Hagiograph Jonas von Bobbio dar, der seine Geschichte rund 30 Jahre nach Columbans Ableben im November 615 verfasste, nämlich zwischen den Jahren 639 und 643 [21]. Doch was im 7. Jahrhundert offenbar noch fehlte, waren die genauen Bedingungen, wie sich der „Himmel kaufen“ ließ, um eine schöne Formulierung von Berndt Hamm aufzugreifen [22]. Denn in der Lebensbeschreibung des heiligen Columban lassen sich deutliche Anhaltspunkte dafür finden, dass die Beziehungen zwischen den Mächtigen und den Gottesmännern im Merowingerreich alles andere als komplikationslos waren. Stein des Anstoßes war offenbar der Umstand, dass der heilige Columban keineswegs gewillt war, die in ihn gesetzten sozialen Erwartungen zu erfüllen. Weder legitimierte er die unehelichen Söhne des merowingischen Königs Theuderich II. für den Thron, noch gewährte er dem Herrscher oder irgendeinem anderen Laien Zutritt zu den inneren Bereichen seiner Klöster. Dieses Verhalten des Gottesmannes löste offenbar auf Seiten des Herrschers heftige Irritationen aus, wie Jonas’ Geschichte erkennen lässt. Der König selbst soll sich – angestachelt von seiner Großmutter Brunichild, die so etwas wie der Buhmann von Jonas’ Geschichte ist – höchstpersönlich zu einem von Columbans Klöstern, nämlich nach Luxeuil, begeben haben, um für sich wie für jeden anderen christlichen Besucher den uneingeschränkten Zugang zu allen Teilen des Klosters einzufordern. Seiner Forderung soll er dadurch Nachdruck verliehen haben, dass er sie zur Bedingung seiner zukünftigen Zuwendung erklärte: „Wenn du unsere verständnisvolle und großzügige Hilfe in Anspruch nehmen willst, so sollen alle überall Zugang haben.“ [23] In diesem Zitat wird also überdeutlich, dass sich der Streit zwischen König und Abt im Kern um den Grundsatz von Gabe und Gegengabe drehte. Während der König den Gottesmann ob der in Anspruch genommenen Gaben in der Pflicht sah, sein Kloster für alle Besucher zu öffnen, sperrte sich der Heilige offenbar gegen diese soziale Erwartungshaltung beziehungsweise die Logik von Gabe und Gegengabe. Er entgegnete dem König, dass er lieber auf die Zuwendungen des Königs verzichten würde, als dessen Forderung nachzukommen: „Solltest du zu zerstören versuchen, was bis auf den heutigen Tag durch die strenge Zucht der Regel fest zusammengehalten wurde, lege ich keinen Wert darauf, von dir in Zukunft Gaben oder irgendeine Hilfe zu bekommen.“ [24] Damit erteilt der Gottesmann nicht nur dem in der vormodernen Gesellschaft des Merowingerreichs weithin akzeptierten Prinzip des ‚Do ut des‘ eine Absage, sondern spricht sich geradezu performativ von sämtlichen sozialen Erwartungshaltungen frei, mit dem ihm offenbar nicht nur der König, sondern auch das weitere höfische Umfeld, der Adel sowie der Episkopat begegneten.
Doch nicht nur aus der Warte der burgundisch-merowingischen Dynastie erwies sich der Pakt mit dem Gottesmann im Nachhinein als Fehler; auch aus Columbans Perspektive zahlte sich die große Nähe zu der Herrscherdynastie inklusive der großen Landschenkungen nur bedingt aus. Der Heilige wurde bekanntlich gewaltsam gezwungen, die so mühsam in den Vogesen neuerrichtete Heimat namens Annegray und Luxeuil alsbald zu verlassen. Etwas zugespitzt formuliert, ließe sich daher konstatieren, dass sich die Verbindung für beide Seiten im Nachhinein als Fehler, richtiger: Fehlinvestition herausstellte. Weder der König noch der Abt erhielten, was sie sich von der jeweils anderen Seite versprachen. Kurzum, der „heilige Handel“ war gescheitert [25]. Zwar ließ sich der Gottesmann durchaus mittels materieller Zuwendungen zu Gebetshilfen beziehungsweise Fürbitten zugunsten des Donators bewegen, jedoch war dieser Tauschhandel noch relativ unberechenbar beziehungsweise unkalkulierbar – und folgte damit mitnichten der „merkantilen Logik des Warentauschs.“ [26] Mit anderen Worten: Die Transaktionen zwischen der religiösen und der politischen Sphäre waren im Frühmittelalter alles andere als unproblematisch, vielmehr wies jener Kapitaltransfer, mit Bourdieu gesprochen, eine hohe „Schwundquote“ [27] auf.
Dieser Befund ist im Lichte der Bourdieu’schen Kapitaltheorie nicht weiter verwunderlich. Denn, obgleich die unterschiedlichen Kapitalformen durchaus konvertierbar sind – sich also beispielsweise ökonomisches in kulturelles Kapital umwandeln lässt et vice versa [28] –, so ist die Kapitalkonvertierung dennoch ein gleichermaßen riskanter wie heikler Vorgang, weshalb Bourdieu auch vom „Schwundrisiko“, also einem Risiko des Kapitalschwundes spricht [29]. Dass sich ökonomisches und symbolisches Kapital in der Zeit der Kirchenreform nicht mehr problemlos in religiöses Kapital ‚ummünzen‘ ließen, dürfte bekannt sein. Hier genügt es, sich die Kampfbegriffe der Epoche vor Augen zu führen: Simonie, Eigenkirchenwesen, Laieninvestitur [30]. Der Blick auf die ‚Vita Columbani‘ zeigt jedoch, dass der fragliche Transfer bereits deutlich früher Irritationen erzeugte. Dies ist im Lichte des aktuellen Forschungsstandes durchaus bemerkenswert. Zwar wurde auf die grundsätzliche Konvertabilität von materiellen und immateriellen Ressourcen im monastischen Raum hingewiesen, dabei aber den Widerständen und Gefahren dieses Kapital- bzw. Ressourcentransfers zu wenig Aufmerksamkeit gezollt. So heißt es etwa in einer der jüngsten Studien zur Thematik schlicht: „Monasteries transformed calories into prayer.“ [31] Doch anders als es das Zitat suggeriert, lief der angesprochene Transformationsprozess beziehungsweise Kapitaltransfer zumindest im frühen Mittelalter nicht immer oder auch nur meistens reibungslos ab, wie der Blick in Jonas’ Lebensbeschreibung des heiligen Columban zeigt. Ganz offenbar war die Verbindung zwischen den beiden sozialen Teilsystemen, die im zeitgenössischen Sprachgebrauch wahlweise als claustrum und saeculum beziehungsweise interiora und exteriora firmierten [32], noch nicht so weit gediehen, wie dies so mancher moderne Beobachter gelten lassen will. Das Beispiel der ‚Vita Columbani‘ zeigt vielmehr, dass zumindest im frühen Mittelalter offenbar ( noch ) kein „Realitätszusammenhang zwischen irdischem und jenseitigem Kapital“ existierte, um es mit Berndt Hamm zu formulieren [33]. Mit anderen Worten, bilden auch im Mittelalter Diesseits und Jenseits nicht immer „eine Welt des ökonomischen Kalküls.“ [34]
Es überrascht daher nicht, dass man später nach Möglichkeiten suchte, dieses Risiko zu bannen, beziehungsweise richtiger: zu minimieren. Das Instrument der Wahl waren die Gebetsverbrüderungen beziehungsweise Gebetsbruderschaften [35]. Hierbei handelt es sich um eine mittelalterliche Institution, die zwar sicherlich nicht ausschließlich, aber doch auch dem Zweck diente, den Gabentausch zwischen den Mächtigen und Begüterten der mittelalterlichen Gesellschaft einerseits und den Gebetsspezialisten andererseits zu institutionalisieren und damit das Risiko des Kapitaltransfers zwischen ökonomischer und religiöser Sphäre zu reduzieren.
Zwar wurde die erste dieser Gebetsgemeinschaften noch zwischen unterschiedlichen Gebetsspezialisten, also Mönchen, geschlossen, jedoch versuchten später zahlreiche Laien, sich auf diesem Wege die Gebetshilfe der Mönche urkundlich verbriefen zu lassen. Tatsächlich umspannte das fränkische Reich bald ein Gebetsnetzwerk, ein Kommunikationsnetz, das auch den Adel umfasste und Sozialität stiftete [36].
Um nur ein sehr bekanntes Beispiel aufzuführen: König Konrad I. ( 911–918 ) wurde bekanntlich während eines Aufenthaltes im Kloster St. Gallen zu Weihnachten 911 vom Konvent einstimmig zum frater conscriptus [37] gewählt, wie wir aus der Klosterchronik von Ekkehart IV. erfahren [38]. Damit wurde dem König künftig dasselbe Gebetsgedenken wie einem Mönch des Konvents zuteil [39]. Dass die Mönche diesen Schritt nicht nur aus selbstloser Sorge um das Seelenheil des Herrschers taten, wird durch die materiellen Aufwendungen ersichtlich, die der König dem Konvent zu diesem Anlass machte. Laut der Klosterchronik schenkte der König jedem der Brüder ein Pfund Silber für ihre Kleidung [40]. Die Knaben wurden hingegen mit einer anderen Art von Gabe bedacht. Der König schenkte ihnen Zeit, nämlich „ganze“ drei Tage zum Spielen „für jetzt und in alle Zukunft“, wie es bei Ekkehart heißt [41]. Doch der König beschenkte nicht nur jeden einzelnen Mönch und Novizen des Klosters, sondern seine Großzügigkeit galt auch der Kommunität als Ganzer. Zunächst erwähnt unser Chronist die Geschenke des Herrschers für die Altäre der beiden Klosterkirchen, die Gallus-Basilika und die Kirche St. Otmar, die er mit feinen Decken, Gold und Silber ausstattete [42]. Sodann förderte der König die Kommunität auch in rechtlicher Hinsicht, indem er deren Immunität durch Hand und Siegel bestätigte, wie es in einer im Jahr darauf ausgestellten Urkunde heißt [43]. Dass diese Urkunde gleichsam als Gegenleistung für die Aufnahme des Herrschers in das Gebetsgedenken der Mönche angesehen werden muss, wird durch Ekkeharts Darstellung deutlich, der den Urkundentext paraphrasiert und in die Ereignisse rund um den Weihnachtsbesuch des Königs im Jahr 911 einordnet [44]. Dem Zweck der Gebetsverbrüderung dienten aber offenbar auch die bedeutenden Landschenkungen bei Stammheim, die der König dem Kloster zu diesem Anlass machte, nämlich „als materielle Sicherung für ein Gedächtnismahl der Mönche zu seinen Gunsten“, so hat Joachim Wollasch den Vorgang seinerzeit erläutert [45].
Doch bevor sich der Herrscher mit den St. Galler Mönchen verbrüderte, scheint er offenbar deren kommunikativen Kernkompetenz auf den Zahn gefühlt zu haben, so stellt es zumindest unser Chronist in reichlich anekdotischer Form dar [46]. Konrad soll sich nämlich selbst ein Bild von der strengen Disziplin der Jungmönche gemacht haben, indem er ihnen während der Litanei Äpfel vor die Füße schütten ließ, um ihre Disziplin auf die Probe zu stellen. Das Resultat soll den Herrscher regelrecht in Staunen versetzt haben, wie der Chronist weiter berichtet, da sich nicht einmal die Jüngsten der Knaben gerührt oder auch nur nach den Leckereien geschielt hätten [47].
Doch nicht nur die Disziplin der St. Galler Novizen soll der König auf die Probe gestellt haben. Der Chronist berichtet noch von einer weiteren „Ergötzlichkeit“ [48], die die Jungen über sich ergehen lassen mussten. In Anwesenheit des Herrschers mussten die Novizen ihre Lesefähigkeit der Reihe nach unter Beweis stellen, wie unser Chronist berichtet [49]. Auch diesen Test sollen die Jungen ähnlich bravourös gemeistert haben wie die Apfelprobe, was der König seinerseits durch einen besonderen Gunsterweis goutiert habe. Ekkehart berichtet uns von einer Goldmünze, die der Herrscher jedem Jungen in den Mund gelegt habe, nachdem er sich von deren Lesefähigkeit ein Bild gemacht hatte [50]. Als einer der Jüngsten das güldene Geschenk jedoch wieder ausgespien und zu weinen beziehungsweise schreien begonnen habe, soll der offenbar zu Scherzen aufgelegte Herrscher dies mit folgenden Worten quittiert haben: „Der da wird mal ein guter Mönch sein, wenn er am Leben bleibt.“ [51]
Ob sich auch nur etwas von dem soeben Berichteten im Ranke’schen Sinne ‚eigentlich‘ so zugetragen hat, wird sich schwerlich eruieren lassen [52]. Denn anders als für die materiellen und immateriellen Gaben des Herrschers gibt es für jene Szenen keine urkundliche oder historiographische Bestätigung [53]. Erschwerend kommt noch hinzu, dass der Chronist über das Berichtete aus einer erheblichen zeitlichen Distanz schrieb, nämlich rund 150 Jahre später [54]. Es wäre aber verfehlt, die fraglichen Szenen deswegen vorschnell als reichlich klamaukige Anekdoten abzutun, die lediglich dem Zweck dienten, die anvisierten Leser der Chronik zu unterhalten – was sie sicherlich auch taten. Doch die Anekdoten sollen mehr als nur unterhalten. Was die beiden Szenen dem Leser nämlich unmissverständlich vor Augen stellen ( sollen ), ist die kommunikative Leistungsfähigkeit der St. Galler Gebetsspezialisten [55]. Die Knaben erweisen in den beiden Prüfungen nämlich zwei Kernkompetenzen, über die ein erfolgreicher Beter nach zeittypischer Auffassung unbedingt verfügen musste, wenn er Gottes Ohr erreichen wollte. Die Lesefähigkeit war laut dem zeitgenössischen Gebetsverständnis nämlich für die Gott-Mensch-Kommunikation von ebenso zentraler Bedeutung wie die strenge Disziplin der Gebetsspezialisten. Letzteres erklärt sich dadurch, dass bereits der geringste Formfehler als Bedrohung für die Kommunikation mit Gott wahrgenommen wurde, weshalb eine strenge Disziplin der Beter letztlich unumgänglich erschien [56]. Das Gewicht von Lesefähigkeit und Lateinkenntnissen für die fragliche Kommunikation ergibt sich hingegen aus der verbreiteten Auffassung, dass sich Gottes Ohr nur dem in korrektem Latein vorgetragenen Wort öffne. Oder mit den pointierten Worten von Mayke de Jong: „Obviously, the Carolingian God liked to be addressed only in correct Latin.“ [57] Offenbar verfügten die St. Galler Novizen über diese beiden Kernkompetenzen, was sie zu Gebetsspezialisten macht; dies will uns der Chronist mit den geschilderten Szenen zumindest weismachen.
Auch wenn die fraglichen Szenen damit noch lange nicht als Tatsachenberichte gelesen werden dürfen, so ist es doch im Kern plausibel, dass sich der Herrscher zunächst ein Bild von der kommunikativen Leistungsfähigkeit jener Kommunität verschaffte, die er für sein Totengedenken im Auge hatte. Denn der Akt der Gebetsverbrüderung war, wie wir bereits gesehen haben, ein kostspieliges Unterfangen. Kurzum, Konrad erscheint in den ‚Casus Sancti Galli‘ als kluger Kaufmann, der sich zunächst informiert, bevor er sich „den Himmel kauft“ – um erneut auf die treffende Formulierung Berndt Hamms zurückzukommen [58]. Dass der Herrscher dabei vor allem bei den Novizen ansetzte, ist ebenfalls plausibel. Denn Konrad war zum Zeitpunkt seines Besuchs in St. Gallen mit 30 Jahren noch recht jung, weshalb durchaus zu vermuten stand, dass die zukünftige Totenmemoria zu seinen Gunsten wohl nicht den älteren, sondern den jungen Konventsmitgliedern zufallen würde. Mit anderen Worten: Der Herrscher stellt die zukünftigen Träger seines Gebetsgedächtnisses auf die Probe.
Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die unterschiedlichen „Ergötzlichkeiten“, mit denen Konrad die St. Galler Mönche ( vor allem die Novizen ) heimsucht, also als Maßnahme der Qualitätssicherung. Dies könnte auch der Schlüssel zum Verständnis einer weiteren Anekdote sein, die sich in der Klosterchronik findet. Ekkehart berichtet nämlich von einem offensichtlich spontanen Besuch des Königs im Refektorium [59] des Klosters, also dem Speisesaal der St. Galler Mönche. Auf den ersten Blick liest sich die fragliche Szene recht harmlos. Ekkehard schreibt, dass der König zur hora mensę, also zur Essenszeit, in Begleitung von zwei Bischöfen das Refektorium der Brüder betreten habe [60]. Anschließend erfährt der Leser, dass Konrad zusammen mit seinen zukünftigen Gebetsbrüdern gespeist habe, wobei sich der Herrscher äußerst bescheiden gegeben und selbst die seinem Rang gebührende Sonderbehandlung ausgeschlagen habe; fast ist man geneigt, in diesem Kontext von der sprichwörtlichen Extrawurst zu sprechen [61].
Doch ganz so harmlos, wie das Gebaren des Herrschers auf den ersten Blick auch erscheinen mag, war Konrads Verhalten nicht. Ganz im Gegenteil: Gemessen an der Benediktsregel stellte das Handeln des Herrschers einen regelrechten Affront dar [62]. Denn die Regel sieht vor, dass Gäste und Mönche getrennt voneinander speisen, damit Erstere nicht das Schweigen Letzterer stören [63]. Auch die Lebensgewohnheiten von St. Gallen untersagen das Handeln des Herrschers aufs Strengste, wie aus einer anderen Passage der Klosterchronik deutlich wird, in der davon die Rede ist, dass sich die St. Galler Mönche in claustro niemals mit Laien gemeinmachen dürften, was bekanntermaßen auch den Speisesaal miteinschließt [64]. Besonders deutlich wird die Virulenz der Szene jedoch durch einen Vergleich mit einer anderen Geschichte, die auch in St. Gallen bekannt war [65]. Die Rede ist von der ‚Vita Columbani‘, von der bereits oben mehrfach die Rede war [66]. In diesem hagiographischen Text ließ sich nachlesen, dass Laien seit den Tagen des heiligen Columban jedweder Zutritt zu den inneren Bereichen der columbanischen Klöster, den sog. septa secretiora, strengstens untersagt war [67]. Wie gefährlich die Übertretung dieser Regelung sein konnte, macht die Geschichte ebenfalls auf dramatische Weise deutlich. Laut Jonas von Bobbio besiegelt der merowingische Herrscher Theuderich II. durch sein unbedachtes Eindringen in das Refektorium eines von Columbans Klöstern, Luxeuil, gar das Ende seiner ganzen Dynastie [68].
An dieser Stelle drängt sich daher die Frage auf, wie sich das unbotmäßige Gebaren Konrads I. erklären lässt, weshalb der König also den Schritt in die inneren Bereiche des St. Galler Klosters wagte. Oder vorsichtiger formuliert: warum unser Chronist den König einem solchen Risiko aussetzt, wenn er Konrad in seiner Geschichte das Refektorium betreten lässt. Denn freilich wissen wir auch in diesem Fall nicht, ob sich auch nur etwas von alledem, was Ekkehart in der fraglichen Szene schildert, ‚eigentlich‘ so zugetragen hat. Aber dieses Caveat entbindet den Historiker keineswegs von der Frage. Denn zumindest dem Hagiographen wird die Brisanz der Szenerie klar gewesen sein, die er schrieb – ebenso wie seiner anvisierten Leserschaft. Immerhin gab es in St. Gallen eine Abschrift jener Geschichte, in der nachzulesen war, dass ein Verhalten wie jenes von Konrad I. zum Niedergang ganzer Dynastien führen konnte, eben in der oben angesprochenen ‚Vita Columbani‘ [69]. In dem ältesten Bibliothekskatalog der Kommunität, der auf das 9. Jahrhundert datiert wird, findet sich nämlich unter der Rubrik De vita sanctorum patrum auch ein Eintrag, der die Existenz einer Abschrift von Jonas’ Geschichte in St. Gallen belegt: Vita sanctorum patrum Columbani et Galli in voluminibus II [70]. Es ist daher mehr als wahrscheinlich, dass unser Chronist Jonas’ Lebensbeschreibung des heiligen Columban kannte. Selbst wenn die Anekdote vom Besuch des Königs im Refektorium also ‚nur‘ dem Kopf beziehungsweise der Fantasie des Chronisten entsprungen sein sollte, bleibt die Frage nach dem Warum.
Wollte unser Chronist hierdurch schlicht die Macht des Königs demonstrieren, indem er Konrad sich über geltendes Klosterrecht hinwegsetzen lässt? Dies wäre durchaus möglich. Bereits eine bairische Provinzsynode sah sich zu Beginn des 9. Jahrhunderts, wohl um das Jahr 800, dazu veranlasst, hochgestellte Personen ( maiores personae ) von dem Verbot auszunehmen, das sämtlichen Laien den Zutritt zu den inneren Klosterbereichen untersagte. Interessant ist nun, wie die Konzilsväter diese Ausnahmeregelung beziehungsweise Sondergenehmigung begründeten. Dies sei laut dem Kanon nämlich deswegen notwendig, weil es den Mönchen – der Text spricht hier in der ersten Person Plural – nicht möglich sei, Personen von Rang gänzlich zu meiden [71]. Die Sondergenehmigung liest sich also fast wie ein pragmatisches Zugeständnis beziehungsweise Eingeständnis von ganz konkreten soziokulturellen und machtpolitischen Gegebenheiten. Es könnte also durchaus sein, dass wir es in der fraglichen Szene mit einem solchen Fall zu tun haben, den die Synode von Reisbach im Auge hatte. Doch St. Gallen lag bekanntlich nicht in der fraglichen Kirchenprovinz, weshalb man vorsichtig damit sein muss, diese zitierte Regelung ( vorschnell ) als Erklärung für unseren Fall geltend zu machen. Dagegen spricht auch die Art der Darstellung. Denn von einer Sondergenehmigung oder vorherigen Erlaubnis erfährt der Leser nichts. Der Chronist stellt es vielmehr so dar, als sei Konrad I. völlig unangekündigt in den Speisesaal der Mönche geplatzt, was auch durch die Worte deutlich wird, die Ekkehart dem Herrscher zu diesem Anlass in den Mund legt. Konrad soll den Mönchen nämlich entgegengerufen haben: „Nun werdet ihr wohl oder übel mit uns teilen müssen!“ [72]
Ein anderer Erklärungsansatz wäre es, dass der Herrscher durch sein Tun seinen besonderen Status als Sakralkönig ostentativ zur Schau stellen wollte. Dieser Status hob den König in der Sichtweise zumindest einiger Zeitgenossen über einen gewöhnlichen Laien hinaus und machte ihn gleichsam zum Mittler zwischen Gott und den Menschen [73]. Aufgrund dieser Sonderstellung könnte Konrad nun auch Einlass zu den inneren Bereichen des St. Galler Klosters beansprucht haben, weil er sich selbst eben nicht als Laie auffasste – so ließe sich die Szene vielleicht interpretieren.
Wäre es aber nicht auch denkbar, dass sich Konrad durch sein spontanes Eindringen in das Refektorium schlicht ein Bild von der Askeseleistung bzw. -qualität seiner zukünftigen Gebetsbrüder verschaffen wollte, die sich ja nicht zuletzt auf dem Tisch der Kommunität erweist? Denn neben der bereits erwähnten Lesefähigkeit und der Disziplin war doch die Askese ( mit ihren rigiden Ernährungsvorschriften ) unbestreitbar eines der Herzstücke der vita religiosa und damit Grundvoraussetzung und Gelingensbedingung der Kommunikation mit Gott. Freilich wird sich hier kein abschließendes Urteil fällen lassen können, aber in Kombination mit den beiden anderen Proben, erscheint die vorgeschlagene Interpretation meines Erachtens zumindest denkbar, ja plausibel.
Doch wie man die Anekdoten auch immer bewerten mag, zumindest an der Historizität der Gebetsverbrüderung zwischen Konrad I. und den St. Galler Mönchen kann wohl kein Zweifel bestehen [74]. Zwar konnte der Herrscher bisher noch nicht mit einem der im St. Galler Verbrüderungsbuch genannten Namen in Verbindung gebracht werden; dieser Umstand ist aber wenig aussagekräftig, da uns bekanntlich ein Großteil des Textes nicht überliefert ist [75]. Für die Historizität der geistlichen Verbindung zwischen König und Kommunität spricht hingegen die Tatsache, dass der Name des Königs im St. Galler Necrolog verzeichnet ist [76]. Sollte Gerd Althoff indessen recht mit seiner These behalten, dass man den Herrschernamen Chuonradus erst im Jahr 932 in das Necrolog eintrug [77], dann wären die St. Galler Mönche ihrem Versprechen gegenüber dem König jedoch erst reichlich spät nachgekommen, da Konrad I. bereits am 23. Dezember 918 verstarb [78]. Denn erst mit diesem Akt kam der verstorbene Herrscher in den Genuss des Totengedenkens, das von den Mönchen am Todestag vollzogen wurde.
Doch selbst wenn die St. Galler Mönche ihr Versprechen gegenüber Konrad I. nicht sogleich erfüllt haben sollten, tat dies der Anziehungskraft dieser Gebetsgemeinschaft keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Konrad I. stand mit seinem Begehren keineswegs allein da. Dies bezeugt die urkundliche Überlieferung des Klosters auf eindrückliche Weise. Etwa drei Viertel des Urkundenbestandes – bis ins 10. Jahrhundert sind insgesamt rund 800 Pergamenturkunden überliefert – sind Schenkungen pro remedio animae [79]. All diese Urkunden bezeugen also einen Kapitaltransfer zwischen einem mächtigen ( und begüterten ) Stifter und der Gemeinschaft der Beter – und sichern diesen Kapitaltransfer zugleich vertraglich ab, eben durch die Übernahme des Stifternamens in das Verbrüderungsbuch und später das Necrolog [80].
Dass es bei der sozialen Praktik der Gebetsverbrüderung im Kern um einen Transfer unterschiedlicher Kapitalarten ging, also um eine reziproke Handlung, wird in kaum einem Textzeugnis so unverblümt formuliert wie in einer Urkunde eines gewissen Wolfhart, die sich im besagten Urkundenbestand des St. Galler Klosters findet. In jener Urkunde heißt es:
Ich [ … ] Wolfhart bin durch göttliche Eingebung ermahnt, mir für irdischen Besitz ewigen zu erkaufen und für vergängliche Güter bleibende zu erwerben. Eingedenk der heilsamen Weisungen: Gebt und euch wird gegeben, und: Es gibt niemanden, der sein Haus und seine Äcker um meinetwillen verlässt, der nicht hundertfachen Lohn erhält, übereigne ich also dem Kloster St. Gallen, [ … ] als Hilfe für meine Seele und die meiner Frau alles, was ich in der Mark Kempraten [ … ] besitze [81].
Wie unschwer zu erkennen ist, dienten die Urkunden dem Zweck, den Gabentausch zwischen den Stiftern und den Beschenkten zu verbriefen. Denn in den jeweiligen Urkunden, die uns auch aus anderen monastischen Zentren vorliegen, ist oft peinlich genau geregelt, zu welcher Gegenleistung sich die beschenkten Beter ihrerseits verpflichteten. In einer Urkunde des Hausmeiers Pippin aus dem Jahr 751 für das Kloster Saint-Denis, worin der Klostergemeinschaft der Besitzanspruch über diverse Güter bestätigt wird, die dem Kloster in der Vergangenheit entfremdet worden waren und deren Restitution in der Urkunde angeordnet wird, wird in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht ( und vertraglich fixiert ), was sich der Herrscher im Gegenzug für seine Parteinahme für die Beter aus Saint-Denis verspricht:
[ … ] auf dass es ihnen besser gefällt, für uns, unsere Söhne sowie für den Bestand des fränkischen Reiches unablässig Tag und Nacht zu beten und die Barmherzigkeit des Herrn anzuflehen und täglich unseren Namen sowohl in der Messe als auch in ihren besonderen Fürbitten am Grab des heiligen Dionysius zu rezitieren – wie sie es uns versprochen haben [82].
Doch nicht nur die Mächtigen profitierten von der vertraglichen Absicherung, sondern auch die Mönche waren Nutznießer der Verträge, denn auch ihnen wurde verbrieft, zu welchen Leistungen die Kongregation verpflichtet war und welche Gegenleistung sie hierfür im Gegenzug erhielt. Der Vorteil der vertraglichen Absicherung war also beidseitig.
Aus anderem Zusammenhang wissen wir auch, wie kostspielig ein solches Totengedenken in St. Gallen war. Der Chronist der Klostergeschichte erläutert am Beispiel des Konstanzer Bischofs Salomon III., welche Gegenleistungen für die Aufnahme in die Gebetsgemeinschaft vonnöten waren: Hierfür musste man dem Konvent mindestens so viel spenden, wie zum Lebensunterhalt eines Mönches jährlich notwendig war [83]. Dieser Kurs war offensichtlich nicht zu hoch gegriffen, sondern wurde später auch andernorts zur Mindestanforderung für ein Ehrenkanonikat, war also mit einem Wort zukunftsfähig [84].
Die Gegenleistung für die oftmals sehr kostspieligen Schenkungen der Stifter war ein reiches Gebetsgedenken, das die monastischen Gemeinschaften ansonsten nur ihren Konventsmitgliedern zuteilwerden ließen. Laut Wollasch lässt sich der Durchschnittswert der Gedenkleistungen für einen verstorbenen Mönch folgendermaßen kalkulieren: „[ … ] Meßfeier und Totenoffizium, also das Gebet der mönchischen Tagzeiten für den Verstorbenen an seinem Todestag, 30 Tage hindurch, gerechnet von seinem Todestag an, sowie an jedem Jahrestag seines Todes.“ [85] Zudem verpflichtete sich der Konvent zu Armenspeisungen, die wiederum der Zahl an Messen und Totenoffizien entsprachen [86], das heißt, 30 Tage lang nach dem Tod des Verstorbenen und zudem an dessen Todestag wurde ein Armer so wie ein Mönch der Kongregation verpflegt. Dies bedeutet zugleich, dass das System der Gebetsverbrüderung nicht als reine Kapitalakkumulation im Sinne kapitalistischer Wertmaximierung gesehen werden darf, sondern auch einen karitativen Aspekt hatte – auf diese Verquickung hat insbesondere Joachim Wollasch hingewiesen [87].
Man hat das fragliche System, das auf einem Austausch unterschiedlicher Kapitalarten beziehungsweise Ressourcen basierte, bereits als „System Cluny“ bezeichnet [88]. Ob dieses System jedoch eine „rapide wirtschaftliche Notlage“ für die burgundische Klostergemeinschaften bedeutete, also wirtschaftlich unprofitabel war, wie Wollasch meinte, darf doch stark bezweifelt werden [89]. Richtig ist zwar, dass im Laufe der Zeit auch immer wieder Kritik an der enormen Gebetsleistung Clunys geäußert wurde und die schiere Masse der Gott-Mensch-Kommunikation auch als Last, ja Zumutung empfunden wurde. Ein erstes Zeugnis für jenen Unmut in den eigenen Reihen sind die Gewohnheiten des Ulrich von Cluny, die im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts zusammengestellt wurden. Dort heißt es an einer Stelle, dass einige Mönche den Wunsch hegen würden, die langen Lesungen zu reformieren, die für sie nicht weniger schwer zu hören seien, als einen Klumpen Blei zu schleppen [90]. Und an anderer Stelle ist davon die Rede, dass von einigen Mönchen der Totendienst an den Sonntagen als lästig ( onerosum ) empfunden wurde [91].
Im nächsten Jahrhundert wurde die Kritik anscheinend lauter und schärfer. In der Zeit, als Petrus Venerabilis den Cluniazensern als Großabt vorstand, wurden das Ausmaß der Liturgie und die Zusätze zu derselben bereits von einigen Mönchen als mühsam, ja sogar verhasst ( laboriosa immo odiosa ) wahrgenommen, wie sich der Abt in den Statuten ausdrückt [92]. Zudem belegt Petrus Venerabilis in den Reihen jener Mönche, denen er selbst als Abt vorstand, eine regelrechte Abscheu ( taedium ) gegenüber der Länge der Liturgie [93]. Offenbar teilte er die Bedenken seiner Mitbrüder zumindest ansatzweise, da er versuchte, die Leistung der Armenspeisung, die im Kontext des Totengedenkens stand, zurückzuschrauben, nämlich auf ein „wirtschaftlich vertretbares Maß“ [94] von 50 Anniversarien pro Tag [95]. Um diesen Eingriff in das liturgische Totengedenken zu rechtfertigen, – was wie jeder Eingriff in den „normativen Bestand der tradierten Gebräuche“ [96] des Klosters nicht unproblematisch war, wie Petrus Venerabilis in der Praefatio zu seinem Statutenwerk selbst eingestand [97] –, rekurrierte er auf die große finanzielle Belastung, die jene Praxis für die Gemeinschaft darstellen würde: „Die Substanz keines Klosters nämlich könnte, wenn diese von den früheren Mönchen eingerichtete Gewohnheit bewahrt würde, lange dafür ausreichen.“ [98] An anderer Stelle hat Petrus Venerabilis die Notwendigkeit seiner Reformmaßgaben, die letztlich auf Erwägungen der wirtschaftlichen Praktikabilität fußten, mit dem ökonomischen Argument begründet, „[ … ] damit nicht die Toten die Lebenden verdrängen.“ [99] Was hier noch als Potentialis formuliert ist, erscheint bei Joachim Wollasch bereits als Faktum: „Die Toten begannen, in Gestalt der Armen die Lebenden auszuzehren.“ [100] Ja, laut Kassius Hallinger soll die schiere Masse der Gebetsleistungen gar der Grund dafür gewesen sein, warum sich unter Petrus’ Abbatiat „Scharen erholungsbedürftiger Kluniazenser“ in die Eremus der nahgelegenen Wälder rund um Cluny zurückgezogen hätten [101]. Tatsächlich wird in einer Klosterchronik erwähnt, dass sich in der Zeit von Petrus Venerabilis einige der 400 Mönche in den Wäldern Clunys aufhielten [102]. Dass die Eremus jedoch gleichsam als Naherholungsort fungierte, wo die Mönche einmal so richtig hätten „aufatmen“ dürfen, wie Hallinger sich ausdrückt [103], davon steht in der Quelle freilich nichts. Auch gegenüber dem Diktum eines Petrus Venerabilis ist Vorsicht geboten [104]. Diese und ähnliche Stimmen aus der Reihe der schwarzen Mönche sollten den Historiker nämlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Institution der Gebetsverbrüderung äußerst lukrativ für die Klöster war [105].
Dass dem Klerus im Mittelalter enormer Besitz, aber auch andere materielle und immaterielle Ressourcen zuflossen, dürfte hinlänglich bekannt sein [106]. Als Beispiel sei hier nur eine Urkunde aus dem St. Galler Bestand genannt, die auf das Jahr 772 datiert wird und eine Transaktion von Eigentumsverhältnissen in Fischingen im Breisgau urkundlich fixiert. Interessant an diesem, an sich nicht erwähnenswerten Vorgang ist, dass als Verkäufer hier ein Priester namens Macanrad erscheint, der alle seine „Ländereien, Weinberge, Hörigen, Vieh, Mobiliar, Gebäude und alles, was er sich durch Messfeiern und Gebete erworben hat“, verkauft [107]. Die Urkunde lässt also durchblicken, woher dem Priester der Besitzstand zufloss oder, um es anders zu formulieren, was die Quelle seines Reichtums war. Tatsächlich bezeugt die Urkunde, dass kultische Einkünfte „selbst auf einem Dorf beträchtlich“ gewesen sind [108]. Wenn Gebete und Messen bereits einem einzelnen ( Dorf )Priester enormes Kapital zufließen ließen, um wie viel größer muss dann die Kapitalakkumulation großer monastischer Gemeinschaften gewesen sein, die unablässig beteten? Mit anderen Worten ist wenig damit gewonnen, wenn der Historiker die enorme Gebetsleistung, die die schwarzen Mönche schulterten, nur als Bürde betrachtet; denn durch die fragliche Gebetspraxis avancierten die Klöster zu den „allergrößten Landeignern“ im Mittelalter [109]. Dieser Umstand wurde sicherlich nicht zufälligerweise gerade von evangelischen Kirchenhistorikern in aller Deutlichkeit herausgestrichen: „Ihrem Anspruch nach blieb die Kirche zwar eine Kirche der materiell und geistlich Armen, de facto aber wurde sie durch die Verquickung von Jenseitsangst, Heilssicherung und Geldinvestition zu einem riesigen merkantilen Apparat und einer Geldkirche, [ … ].“ [110] Grundlage für diesen materiellen Reichtum der Klöster und für die politische Machtstellung der Äbte war eine immaterielle, nämlich kommunikative Ressource, die in der Kommunikation mit Gott gewonnen wurde. Es steht daher zu vermuten, dass die unterschiedlichen Mönchsgemeinschaften auch in Konflikt um jenes begehrte Gut gerieten. Denn die Frage, wer der bessere Beter sei, war nicht nur für die Heilsvorsorge relevant; sie war auch ausschlaggebend dafür, welcher Kommunität mehr Novizen zuliefen und wer von den Reichen und Mächtigen als effektiverer Gebetsbruder betrachtet wurde. Könnte sich die Kontroverse zwischen den weißen und schwarzen Mönchen im Kern gar um diese Frage gedreht haben? Diese drängende Frage kann hier noch nicht eingelöst werden, sondern sei lediglich als Anknüpfungspunkt für weitere Studien zum Themenkomplex ‚Kommunikation mit Gott‘ genannt [111].
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