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Über die Praxis von Koalitionsverhandlungen
  • Mathias Weilandt

    Mathias Weilandt ist Jurist und Staatssekretär und Amtschef a. D. des Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung. Kontakt: https://www.linkedin.com/in/mathiasweilandt.

    und Anna Maria Uhl

    Regierungsdirektorin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

Veröffentlicht/Copyright: 24. Mai 2025
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Zusammenfassung

Der Artikel beleuchtet wiederkehrende Strukturen, Themen und Dynamiken der Praxis von Koalitionsverhandlungen in Deutschland im Bund und den Ländern. Koalitionsverhandlungen sind nicht allein politische, sondern vor allem auch soziale und Beziehungsprozesse. Sie sind unreguliert und unterliegen oft nicht einmal verfassungsrechtlichen Fristen. Die Persönlichkeiten der Verhandler*innen prägen maßgeblich die Struktur und Dynamik der Gespräche. Die individuelle Strategie beeinflusst die Gestaltung der Verhandlungen und deren Effizienz. Das Vertrauen der Akteuere untereinander spielt eine fundamentale Rolle für das Gelingen der Verhandlungen. Damit wird ein Ausblick auf den langfristigen Erfolg der Regierungsarbeit ermöglicht, insbesondere bei neuen Koalitionskonstellationen. Es entsteht nicht nur durch sich wechselseitig stützende politische Interessen, sondern auch durch den persönlichen Umgang der Verhandler*innen miteinander. Indiskretionen und Medienleaks gefährden dieses Vertrauen und können Verhandlungen erschweren. Transparenz wiederum ist ein Balanceakt: Einerseits müssen die Parteien ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit informieren, andererseits erfordern erfolgreiche Verhandlungen geschützte Räume für vertrauliche Gespräche.

Abstract

This article focuses on recurring structures, themes and dynamics in the realm of building coalition-governments in German politics on the federal and state level. Negotiations to build a coalition government are unregulated processes without set rules and often even without time restraints. These negotiations are not just political processes, they are engrained by personal relationships and other social dynamics. The personalities of the main political negotiators are pivotal in defining and influencing the characteristics, structure and dynamics of the political negotiation process. The level of trust participants can build among each other is fundamental for a positive outcome and might already give insights into the potential success of the coalition during its reign, particularly with a new, not established coalition combination. This trust may not only originate in mutually aligning policy interests but will establish itself through the personal relationships among the participating personas. Indiscretions and media leaks might jeopardize this mutual trust and can disrupt negotiations. Transparency on the other hand can thus be a juggling act between a party’s need to inform and include its party members and the public on the one hand and the need for non-public and protected „rooms“ for confidential negotiations on the other.

1 Einleitung

Wer erinnert sich nicht an die berühmten „Balkonbilder“ aus den Jamaika-Sondierungen 2017? Als Angela Merkel, Cem Özdemir und Christian Lindner auf den Balkonen der Parlamentarischen Vertretung in Berlin demonstrativ Gesprächspausen einlegten. Oder kurz darauf das abrupte Ende dieser Sondierungen, als Christian Lindner die Gespräche mit „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“ beendete.

Solche Szenen des Scheiterns von Sondierungen und Koalitionsverhandlungen brennen sich ebenso wie die vertrauten Bilder des Händeschüttelns und des demonstrativen Unterschreibens eines dicken Koalitionsvertrags vor laufenden Kameras in das kollektive politische Gedächtnis ein.

Koalitionsverhandlungen und Sondierungen sind für die repräsentative Demokratie in der Bundesrepublik typische, regelmäßig nach Wahlen wiederkehrende Prozesse. In einer Zeit, in der absolute Mehrheiten zur absoluten Seltenheit geworden sind, gäbe es ohne sie keine Regierungen. Nach nahezu jeder Bundes- und Landtagswahl müssen sich Parteien in Verhandlungen über mögliche Regierungskoalitionen und -inhalte einigen. Diese Verhandlungen prägen die politische Landschaft als Ausgangspunkt für die Neuordnung und Neugewichtung der politischen Verhältnisse nach einer Wahl. Die Disruption und der Neuaufbau inhaltlicher und personeller Machtstrukturen werden durch sie beschleunigt. Durch die Benennung von Spitzenverhandler*innen werden etwa Vorentscheidungen für die anschließend in der Regierung zu besetzenden Positionen getroffen. Durch die Priorisierung wie das Ausblenden von Themen wird das Handlungsfeld der künftigen Regierung kartografiert. Durch den Umgang der Parteien und den persönlichen Umgang der Verhandler*innen wird das Klima für die gesamte Legislatur vorbestimmt. Kurzum: Koalitionsverhandlungen sind der Schlüssel zu gutem Regieren.

Seit der Wiedervereinigung hat sich das bipolare Parteiensystem in Deutschland, mit CDU/CSU und FDP auf der einen und Sozialdemokraten und Grünen auf der anderen Seite, in ein sich dynamisch veränderndes Vielparteiensystem gewandelt. Nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland im Herbst 2024 sind acht Parteien in zehn verschiedenen Konstellationen an Regierungen in Bund und Ländern beteiligt. Daraus ergeben sich kompliziertere Ausgangslagen mit alternativen Mehrheitsoptionen, die zugleich durch Unvereinbarkeitsfestlegungen der Parteien auf ein Maß reduziert werden, dass Minderheitsregierungen teils unausweichlich werden. Dieser Wandel hat erhebliche Auswirkungen auf die Verhandlungsprozesse zur Koalitionsbildung. Mehr Verhandlungspartner bedeuten schlicht mehr Verhandlungsarbeit.

Die Praxis der Koalitionsverhandlungen ist aus der Innenperspektive bisher wenig beschrieben worden. Auch wissenschaftliche Publikationen zum Thema sind in Deutschland rar gesät[1]. Der Aufsatz will auf Grundlage der praktischen Erfahrungen der Autor*innen einen Beitrag zur abstrahierenden Betrachtung regelmäßig wiederkehrender Themen in diesem für die praktische Politikgestaltung außerordentlich relevanten Prozess leisten. Er will einen Einblick und Überblick über die wesentlichen und wiederkehrenden Facetten des Prozesses geben.

2 Regeln und Traditionen

Erstaunlich ist, dass Koalitionsverhandlungen als zentrale politischen Prozesse in unserer parlamentarischen Demokratie nahezu unreguliert sind. Das Grundgesetz geht von ihnen aus, verhält sich zu ihnen aber nicht. Auch sonst gibt es keine Vorschriften oder Geschäftsordnungen, die ihren Rahmen bilden. Ungeachtet der Ernsthaftigkeit und Bedeutung des Prozesses für unsere Demokratie sind Koalitionsverhandlungen, wie zuvor auch der Wahlkampf, stark von einem Wettkampfcharakter geprägt. Ein spielerischer Umgang mit dem Wechsel von politischer Gegnerschaft im Wahlkampf und seinen wechselseitigen Verletzungen hin zu einer gelebten Partnerschaft in einer Koalition gehört zu einem professionellen politischen und demokratischen Selbstverständnis. Kenntnisse, Strategien und Fertigkeiten im Verhandlungsprozess entscheiden über die erfolgreiche Durchsetzung der eigenen politischen Positionen und den Gewinn politischer Macht. Auch die mediale und öffentliche Betrachtung reflektiert die Verhandlungen als politisches Spiel mit Sieger*innen und Verlierer*innen. So betrachtet sind Koalitionsverhandlungen ein Spiel ohne Regeln.

Lediglich die Fristen zur Konstituierung des Parlaments und zur Wahl der Regierungschef*in und damit der maximale zeitliche Rahmen für den Verhandlungsprozess findet sich in mancher Landesverfassung. Beispielsweise sieht die Verfassung in Bayern längstens vier Wochen (Artt. 44 Abs. 1 i.V.m. 16 Abs. 2 Bayerische Verfassung), in Sachsen bis zu fünf Monaten vor (Artt. 60 Abs. 3 i.V.m. 44 Abs. 3 Satz 1 Sächsische Verfassung), jeweils gerechnet ab dem Wahltag. Das Grundgesetz und andere Landesverfassungen wie die in Schleswig-Holstein oder Thüringen sehen dagegen gar keine Frist für die Wahl der Regierungschef*in vor.

Die Gestaltung der Verhandlungen orientiert sich in Ermangelung von Regeln vielmehr an innerhalb und zwischen den Beteiligten überlieferten Traditionen, Gepflogenheiten und individuellen Erfahrungen, sozusagen an geübter Praxis. Gerade deshalb sind diese Verhandlungen ein Brennglas des politischen Spiels an sich: Alles ist verhandelbar. Es gewinnt nicht unbedingt derjenige, der das beste Argument oder das Momentum auf seiner Seite hat, sondern manchmal derjenige, der es schafft, dem anderen sein Spiel und seine Regeln aufzuzwingen.

Damit ist alles Teil der Verhandlungen: Das Set-Up (Wer darf mitmachen, wer darf was verhandeln?), der Prozess (in welchen Stufen und Fristen wird verhandelt? Welche Fachgruppen gibt es und was dürfen sie entscheiden? Werden erst die Inhalte oder erst die Machtfragen geklärt?) und das Ergebnis (Wie umfangreich und detailliert ist der Koalitionsvertrag?).

3 Sondierungen und Koalitionsverhandlungen

Sondierungen sind die Ouvertüre der Koalitionsverhandlungen. Manchmal, so wie bei den eingangs erwähnten Jamaika-Sondierungen im Bund 2017, bleibt es bei dieser Ouvertüre. Die Oper bleibt Fragment.

Ob die Beteiligten unmittelbar in Koalitionsverhandlungen einsteigen oder mehr oder weniger ausführliche Sondierungen vorgeschaltet werden, ist Teil der frühen Verhandlungen zwischen den politischen Spitzen der beteiligten Parteien. Wenn es mehrere Optionen gibt und/oder sich die Beteiligten noch fremd sind, werden Sondierungen vorgeschaltet und ggf. parallel für mehrere Koalitionsoptionen geführt. Gerade ein Wahlsieger mit Auswahl zwischen zwei oder mehr Partnern hat hier ggf. ein besonderes Interesse sich teuer umwerben zu lassen.

In Drei-Parteien-Konstellationen kann es auch zu vertraulichen Vorgesprächen oder Vorsondierungen kommen. Hier sprechen die Vertreter*innen der potentiellen Gesprächspartner zunächst bilateral miteinander. Dies kann insbesondere dem größten Partner nützen, der üblicherweise als Einladender, geschickt zwischen den Junior-Partnern pendelnd, diese gegeneinander ausspielen kann. Daher kann es auch für die Junior-Partner attraktiv sein, sich zunächst bilateral anzunähern, um einer Dominanz durch die große Fraktion vorzubeugen. In Erinnerung blieb hier das berühmte Zitrus-Selfie aus den Vorsondierungen der Ampel-Verhandlungen 2021, als Annalena Baerbock, Robert Habeck, Volker Wissing und Christian Lindner demonstrativ auf ihren Instagram-Kanälen einen gemeinsamen Auftakt für die Koalition setzten – ohne den potentiellen Kanzler (Jarzebski 2024: 83).

Wollen die Beteiligten den informellen Charakter der Gespräche besonders betonen, so vermeiden sie bereits etablierte Begriffe wie Sondierungen. So war es etwa bei den Brombeer-Verhandlungen nach den Landtagswahlen in Sachsen, als CDU und SPD die Vertreter*innen von BSW jeweils zu „Kennenlerngesprächen“ einluden.

Sondierungen werden von den Beteiligten häufig mit dem Statement eröffnet, die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen seien „kein Automatismus“. Nur wenn sich die „klare Handschrift“ ihrer Partei in einer Zusammenarbeit erkennen ließe, würde man auch in eine Regierung einsteigen. Durch solche Drohkulissen werden Verhandlungspositionen aufgebaut.

Bei „ungeübten“ Konstellationen müssen ausführlichere Sondierungen dazu beitragen, ggf. früher entstandene Hürden und Gräben zwischen den Parteispitzen wie auch intern bei den jeweiligen Mitgliedschaften abzubauen. Nach dem Kennenlernen werden Schnittmengen und rote Linien wechselseitig eruiert: Welche der vielen im Wahlprogramm angeführten und im Wahlkampf beworbenen Projekte sind dem Gegenüber tatsächlich wichtig?

Je nachdem, wie ausführlich in den Sondierungen bereits gefundene Kompromisse gesichert werden sollen oder wie umstritten die Auswahl eines Partners parteiintern ist, können die Ergebnisse der Sondierungen auch – mehr oder weniger umfangreich – in sogenannten Sondierungspapieren festgehalten und Parteigremien zur Abstimmung über die tatsächliche Aufnahme von Koalitionsverhandlungen vorgelegt werden. Beispiele hierfür sind die ergebnisoffenen Sondierungen Ampel vs. Grün-Schwarz in Baden-Württemberg 2021 oder Schwarz-Grün vs. Schwarz-Rot in Berlin und Hessen 2023, in denen die Wahlsieger in Sondierungspapieren umfangreich Preise sichern konnten.

Schließlich wird in den Sondierungsgesprächen auch über die Abläufe, Zeitpläne sowie Zuschnitte und Größen von Verhandlungsgruppen der folgenden Koalitionsverhandlungen gesprochen.

So unterschiedlich Sondierungen in ihrer Gestaltung sind, so sehr unterscheiden sie sich in ihrer Dauer. Von zwei Wochen mit drei Treffen in einer kleinen Verhandlungsrunde der jeweiligen Spitzen bis hin zu mehrmonatigen Verhandlungen mit Fachgruppen, als eine Art vorgezogener Koalitionsverhandlungen, ist alles möglich. Neben den bereits genannten Fristen in einigen Landesverfassungen setzen hier nur bereits terminierte Parteitage einschließlich damit verbundener Mietverträge für Veranstaltungsorte zeitliche Grenzen.

4 Strukturen und Persönlichkeiten

Sind die Sondierungen erfolgreich abgeschlossen und haben die zuständigen Parteigremien der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zugestimmt, beginnen sodann die eigentlichen Koalitionsverhandlungen regelmäßig mit einer Phase in Fachgruppen. Hier sitzen die Fachpolitiker*innen aller Seiten zusammen und schreiben erste Entwürfe für die jeweiligen Kapitel. Der genaue thematische Zuschnitt der Fachgruppen ist, wie oben beschrieben, Verhandlungssache und wird häufig aus bestehenden oder gewünschten Ministerialzuschnitten hergeleitet. Auch die Besetzung der Verhandlungsleitungen und Auswahl der Verhandler*innen ist bisweilen ein Präjudiz für künftige Ressortzuschnitte oder Führungspersonalien. So sind etwa bei den Verhandlungen zur Kenia-Koalition in Sachsen 2019 aus den Zuschnitten der Verhandlungsgruppen spätere Ressortzuschnitte erwachsen, wie etwa ein Ministerium der Justiz und Demokratie, Europa und Gleichstellung.

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Im Anschluss an die Fachgruppen folgt eine Phase in der sogenannten Hauptgruppe. Die Hauptgruppe besteht aus den (erweiterten) politischen Spitzen der Parteien, wobei in ihrer Zusammensetzung Rang, Namen, Proporz und Quotierung berücksichtigt werden müssen. Sie bearbeitet zentrale Themen wie Haushalt und Finanzen und nimmt sich der Punkte an, die auf Fachebene nicht geeint werden konnten. Im Zentrum der Verhandlungen hier stehen oft größere ideologisch aufgeladene Symbolthemen, deren Klärung zumeist nicht nur eine fachliche Einigung bedingen, sondern auch stellvertretend eine Klärung der Machtfragen offenlegen, da Partner ggf. von wichtigen Wahlversprechen abrücken müssen.

Auch in den Fachgruppen bereits erzielte Einigungen können durch die Hauptgruppe wieder streitig gestellt, sogenannte „Fachbruderschaften“ aufgelöst werden. So werden parteiübergreifend unstreitige, aber teure Nice-to-have-Projekte, deren Finanzierung nicht gesichert ist, wieder vom Tisch genommen. Insgesamt gilt für diese Phase der Verhandlungen: Nichts ist verhandelt, bevor nicht alles verhandelt ist.

Zwischen Haupt- und Fachgruppen etabliert sich in manchen Set-ups eine Steuerungsgruppe. Sie soll die Sitzungen der Hauptgruppe vorbereiten, Zeitpläne und logistische Details klären. Manchmal soll sie zudem auch Kompromisse und Verhandlungspakete für die Hauptgruppe oder Spitzengruppe vorbereiten.

Das eigentliche Machtzentrum, in dem die zentralen und finalen Absprachen getroffen und Großkonflikte aufgelöst werden, bildet die Spitzengruppe. Heikle Fragen, unter anderem auch die der Ressortaufteilung und -zuschnitte, können so im kleinsten Kreis mit ein bis zwei Personen je Partei verhandelt werden.

Bei der Wahl und Gestaltung der Gruppenstrukturen spielen die internen Kulturen der beteiligten Parteien eine entscheidende Rolle. So müssen etwa die Einen die breite Beteiligung und Einbindung von Facharbeitsgemeinschaften und Basis sicherstellen, wodurch die Verhandlungsstrukturen oft personell aufgebläht werden, weil das Gegenüber dann in entsprechender Anzahl am Verhandlungstisch vertreten sein möchte. Hingegen haben die Anderen gegebenenfalls mehr Personen, die qua Amt einen „Anspruch“ auf eine Beteiligung in Verhandlungen erheben können, in den Strukturen zu berücksichtigen.

Im politischen Raum prägen generell die handelnden Persönlichkeiten die Strukturen. Das gilt umso mehr für den regellosen Raum von Koalitionsverhandlungen. Hier schlagen individuelle Eigenschaften, persönliche Vorlieben und Abneigungen, aber auch aktuelle innere und äußere (politische) Verfassung der Beteiligten besonders stark durch: Detailversessen oder moderierend über den Dingen schwebend? Machtpolitikerin oder Sachpolitiker? Cholerisch oder ruhig? Wer kann mit wem? Welche Narben hat der Wahlkampf hinterlassen? Kommt die Wahlsiegerin oder -verliererin an den Tisch?

Ist der Chefverhandler ein akribischer, detailversessener Zahlenfuchs, so wird sich die Hauptgruppe vermutlich in großer Detailtiefe mit den Kosten der Projekte beschäftigen. Ist die Chefverhandlerin eher auf das große Ganze oder die Machtfragen fokussiert, so wird eine Steuerungsgruppe mit weitreichenden Mandaten eingerichtet, die so viel wie nur möglich ohne Beteiligung der Spitzen klären soll.

Die Spitzenpersönlichkeiten geben den Takt vor, wie schnell und zielorientiert Kompromisse geeint werden. Sie dienen den Fachverhandler*innen als Vorbild für ihre eigenen Beziehungen zu den Verhandlungspartnern. Jeder Verhandlungsprozess ist damit so individuell, wie die Persönlichkeiten, die ihn gestalten.

5 Bund und Länder

Die Länder bilden den Bund, nicht umgekehrt. Dieser Verfassungsgrundsatz wird durch Vertreter*innen der Länder in vielfältiger Weise auch in Koalitionsverhandlungen betont. Angesichts dessen nimmt es kaum Wunder, dass in den Verhandlungsgruppen im Bund die Beteiligung von Landespolitiker*innen eine Selbstverständlichkeit ist.

Vertreter*innen der CSU nehmen hier eine Sonderrolle ein. Sie haben als einzige die Freiheit, ausschließlich die Perspektive Bayerns vertreten zu können. Ihr bundespolitisches Wirken ist an den Länderinteressen gegenüber dem Bund ausgerichtet. Ihre Persönlichkeiten sind gleichsam eine Art Zwitterwesen aus Landes- und Bundespolitiker*in. Dies vereinfacht Abstimmungswege – die Landesverwaltung sitzt quasi immer mit am Tisch – und schafft so die Situation, dass Kabinette mit CSU-Beteiligung bei Gesetzesvorhaben in der Regel früher Länderperspektiven in den Blick nehmen müssen.

Hingegen wird im Rahmen von Koalitionsverhandlungen auf Landesebene die Einmischung von Bundespolitiker*innen in den Verhandlungen in der Regel mit Argwohn betrachtet. Von Seiten der Bundesparteien wird deshalb meist bereits vor dem Wahltag im Land betont, dass die Frage, mit welchen Partnern und zu welchen Inhalten Verhandlungen geführt werden, allein von den Landesverbänden zu beantworten sei. In der Folge werden Wortmeldungen von Parteikolleg*innen von anderswo gern brüsk zurückgewiesen, mit dem Hinweis, man könne die eigenen Angelegenheiten ja wohl selbst klären. Bedienen sich Parteien gleichwohl Personal aus dem Bund oder aus anderen Ländern, wird dies von den Verhandlungspartnern regelmäßig spitz adressiert.

Der inhaltliche Verhandlungskatalog in Bund und in den Ländern orientiert sich selbstredend an ihren jeweiligen Zuständigkeiten, die sich wiederum aus der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes ergeben. Gewichtige bundespolitische Themenkomplexe wie die Außen- und Sicherheitspolitik haben daher bisher in Koalitionsverhandlungen der Länder keine Rolle gespielt. Dies hat sich in jüngerer Vergangenheit nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen 2024 erheblich verändert, als die Verteidigungspolitik und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zentrale Bedeutung in den Verhandlungen hatte. Mangels Einflusses der Länder auf dieses Politikfeld wurden rein symbolische Formulierungen zum Hauptstreitpunkt der Sondierungen. So wird der Verhandlungsprozess zur Fortsetzung des Wahlkampfes: Nach den Wahlen ist vor den Wahlen.

Umgekehrt sind auch auf Bundesebene originäre Länderaufgaben als Profilierungsgebiet attraktiv. Obwohl sich die Länder Einmischung in ihre Kernkompetenzen in aller Regel verbitten, spielt der Zustand des Bildungssystems auch in Bundestagswahlkämpfen regelmäßig eine gewichtige Rolle. Hier gilt es, in Koalitionsverhandlungen unter Beteiligung der Vertreter*innen der Länder einen Weg zu finden, der den „Kronschatz“ der Länderkompetenz vor gestalterischer Einflussnahme des Bundes schützt und zugleich dem Gestaltungsversprechen der Bundespolitik Rechnung tragen kann. Eine Quadratur des Kreises, die in der Regel durch die Vereinbarung von Bundesprogrammen, wie beispielsweise 2018 mit dem DigitalPakt Schule, aufgelöst wird.

Landeskoalitionsverhandlungen müssen sich zudem mit der Frage befassen, wie die Regierung künftig im Bundesrat arbeiten möchte. Das Land muss dort einheitlich abstimmen, sonst werden seine Stimmen ungültig. Hieraus entsteht nicht selten ein Konfliktpotenzial und eine Notwendigkeit zur fortlaufenden Koordinierung. In dem bis in die 2000er Jahre vorherrschenden bipolaren Parteiensystem hatte die Bundesrats-Koordinierung eine geringere Komplexität, da auch die Landesregierungen Teil der dichotomen Welt aus A (SPD)- oder B (Union)-Seite waren. Dies hat sich durch die Mannigfaltigkeit der Koalitionen und der Bildung von Dreierbündnissen aus acht Parteien in zehn verschiedenen Konstellationen erheblich verändert. Durch Regelungen zur künftigen Bundesrats-Koordinierung in Koalitionsverträgen kann dieses Konfliktpotential abgemildert werden.

Die Bundesrats-Koordinierung kann in Koalitionsregierungen Dauerverhandlungen bedeuten, die in den Leitungsbereichen der Staatskanzleien wie auch der Fachressorts einen nicht unerheblichen personellen Ressourcenaufwand erfordern. Im Rahmen der Bundesratsarbeit bzw. der bundespolitischen Positionierung eines Landes kommt den Landesvertretungen beim Bund eine entscheidende Rolle zu. Alle Koalitionspartner werden in den Verhandlungen darauf drängen, dass innerhalb der Landesvertretung eine eigenständige Stelle oder ein Referat angelegt ist, welche den Fach- und allgemein politischen Leitlinien ihrer jeweiligen politischen Farbe folgen. Der Hauptteil der Arbeit in den im Laufe der Legislatur folgenden Dauerverhandlungen über die Positionierung des Landes wird sodann von diesen sogenannten Spiegelreferenten erledigt. Hier kommt ein weitverbreitetes Sprichwort zum Tragen, nachdem Bundesratspolitik Referentenpolitik und der Bundesrat das Beamtenparlament ist.

6 Parteien, Fraktionen und Regierung

Die Parteien sind die Herrinnen des Verfahrens. Es beginnt häufig am Tag nach der Wahl mit den Sitzungen der Parteigremien, die über die Aufnahme von Gesprächen entscheiden und einem Anruf der oder des Vorsitzenden der stärksten Partei bei der oder dem Vorsitzenden der potenziellen Koalitionspartner. In der Folge wird die organisatorische Seite des Verhandlungsprozesses von und zwischen den Parteizentralen abgestimmt, jedoch bei amtierenden Regierungschef*innen häufig durch Vertraute, die bereits mit der Koordinierung des politischen Geschäfts in der vorangegangenen Legislatur betraut waren (z. B. Kanzleramtsminister oder Chef*innen der Staatskanzlei), maßgeblich gesteuert.

Die Bandbreite der organisatorisch zu beachtenden Punkte reicht vom Raummanagement, über die Wahl der Verköstigung – auch in einem Mettigel auf dem Verhandlungstisch kann eine politisches Annäherung liegen (Reinhard 2019) – bis zum Nachhalten und Auswerten der parteiinternen Mitschriften aus den Verhandlungsgruppen. Ein weinseliges Gelage zum Abschluss der Verhandlungen – wie etwa im Falle der Regierung Merkel II 2009 – garantiert allerdings keineswegs spannungsfreies Regieren (Bergmann 2018, S. 316 f.). Die Kosten für die Verhandlungen tragen die Verhandlungspartner in der Regel zu gleichen Teilen, beispielsweise durch paritätische Aufteilung der federführenden Organisation. Hierfür werden vorsorglich Budgets bereits in den Wahlkampfhaushalten eingestellt.

Angesichts der Tatsache, dass die wesentlichen personellen und fachlichen politischen Ressourcen in den Regierungsstrukturen und Fraktionen verankert sind und regelmäßig Akteur*innen gleichzeitig mehrere Ämter in Partei, Fraktion und/oder der noch amtierenden Regierung innehaben, stellt sich die Frage nach deren Einbindung.

Wenngleich die Verhandlungen von den Parteien geführt werden, so dienen sie zunächst allen voran der Vorbereitung der Wahl einer Regierungschef*in im Parlament. Regelmäßig unterzeichnen deshalb neben des Parteichefvorsitzenden auch die Fraktionsvorsitzenden die Koalitionsverträge und sind Teil des Koalitionsausschusses. Die Infrastruktur der Fraktionsräume im Parlament und die Unterstützung durch die parlamentarischen Berater*innen bieten personelle und Infrastrukturressourcen für die Koalitionsgespräche, die regelmäßig genutzt werden.

Problematischer ist die Nutzung von Ressourcen der Ministerialverwaltung im Rahmen der Verhandlungen; Staatsaufgabe und Parteiarbeit müssen voneinander abgegrenzt werden. Die Exekutive ist nicht Teil der Koalitionsverhandlungen. Diese dienen vielmehr dazu, die Grundlagen für die Wahl der Spitze der Exekutive durch das Parlament zu legen. Gleichzeitig stehen die Verhandlungen im Interesse einer funktionierenden Transition politischer Macht auf Seiten der Exekutive und die Sicherstellung der Kontinuität bei der Erfüllung der staatlichen Aufgaben. Aus diesem Spannungsfeld heraus haben sich in Bund und Ländern unterschiedliche Usancen entwickelt. Teils werden Ministerialgebäude und andere Räumlichkeiten im Landeseigentum genutzt, teils nutzt man ausschließlich Partei- und Parlamentsinfrastruktur. Teils müssen die Parteien für die Nutzung der Regierungsräumlichkeiten bezahlen, teils nicht.

Auch die Teilnahme von Beamten und Angestellten der Ministerialverwaltung ist geübte Praxis der Koalitionsverhandlungen (dazu ausführlich Schneider 2024: 609 ff). Da Regierungsbedienstete grundsätzlich nicht in ihrer dienstlichen Funktion oder ihrem Amt an Verhandlungen teilnehmen dürfen, sondern dies in ihrem (ehrenamtlichen) politischen Engagement für eine Partei in ihrer „Freizeit“ tun (anders und sehr weitgehend am Beispiel der Beteiligung von bayerischen Beamten bei den schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen im Bund 2009 dagegen die Auffassung der Bayerischen Staatskanzlei; Bayerischer Landtag 2009: Drs. 16/2547), können sich praktische Probleme ergeben, etwa wenn Verhandlungen während der Kernarbeitszeit stattfinden. Hier gilt es seitens des Dienstherrn, eine für alle Beteiligten gleichermaßen geltende praktikable Lösungen zu finden, die einerseits der hohen Bedeutung stringent und sachkundig geführter Koalitionsverhandlungen für das gesamtstaatliche Interesse gerecht werden, anderseits aber gewährleisten, dass staatliche Ressourcen nicht einseitig in den Dienst einer (Regierungs-)Partei gestellt werden.

Dieses gesamtstaatliche Interesse an einer auf fachlich festen Grundlagen stehenden Regierungsbildung begründet schließlich auch die Notwendigkeit, dass sich die Verhandlungspartner – und zwar alle gleichermaßen – mittels Anfragen an die Ministerialverwaltung von dieser beraten lassen dürfen. Häufig betrifft dies Fragen nach der praktischen bzw. regulatorischen Umsetzbarkeit politischer Projekte, deren personeller und finanzieller Kosten oder – insbesondere, wenn beide Partner noch nicht Teil der Regierung sind – detaillierte Hintergrundinformationen, etwa zum Zustand des Haushaltes, zu Rücklagen und Überschüssen (siehe Abschnitt 10 Finanzen).

7 Vertrauen und Transparenz

Koalitionsverhandlungen finden unter höchster medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit statt. Berichte aus und Spekulationen über Verhandlungsstände, besonders aber über die Ressortverteilung und die Klärung des künftigen Regierungspersonals sind Premium-Content.

Zugleich stellen Koalitionsverhandlungen, insbesondere bei zuvor intensiv und konfliktorientiert geführten Wahlkämpfen, eine Zäsur für die Kommunikations- und Vertrauensverhältnisse der Verhandlungspartner dar. Dies gilt bei Fortsetzung einer bestehenden Koalition, bei der in der Regel dennoch eine zumindest teilweise inhaltliche wie personelle Neuausrichtung stattfindet. Es gilt umso mehr, wenn sich die künftigen Partner zuvor in Regierung und Opposition gegenüberstanden. In beiden Fällen bilden die Koalitionsverhandlungen auch atmosphärisch die Basis für den Umgang miteinander.

Koalitionsgespräche schaffen einen zeitlich, räumlich und personell massiv verdichteten Verhandlungsrahmen. Die Beteiligten befinden sich über einen Zeitraum von Monaten nahezu täglich über viele Stunden in einer Art dauerhafter Klausur miteinander. Viele beschreiben die Phasen als die intensivsten ihrer politischen Laufbahn, intensiver als das politische Alltagsgeschäft in Regierung und Parlament, intensiver als die jeweils vorausgehenden Wahlkämpfe. Man könnte den Verhandlungsprozess insoweit als notwendige, umfangreiche Team-Building Maßnahme der Koalitionsregierung in spe begreifen. Nicht selten dient dieser Prozess aber zugleich auch der Hierarchiebildung innerhalb der jeweiligen Koalitionsparteien. Auch hier gibt es Besonderheiten im Schwesternverhältnis der Unionsparteien, da CDU-Vertreter*innen in Anwesenheit der CSU bisweilen weniger Spielraum für Kompromisse zeigen (können), als ohne sie.

Wenn Menschen in einen solch intensiven Austausch miteinander treten, kommen auch ihre grundlegenden Bedürfnisse zum Tragen. Man isst und trinkt zusammen an den Verhandlungstischen. So manch nächtliche Verhandlungspause wird für ein Nickerchen genutzt, so manch Lieblingssong wird über die Konferenzanlage zum Besten gegeben. Manche gehen raus eine rauchen und kommen mit einem neuen Einigungskorridor zurück. Vorlieben und Abneigungen werden offenbart, Privates wird – gewollt oder ungewollt – sichtbar. Kurzum man lernt sich kennen, Freundschaften entstehen – nicht selten überleben sie sogar die Koalition selbst.

Dieser menschliche, allzu menschliche Prozess des Kennenlernens wird so zu einem zentralen Mechanismus zur Herstellung von Vertrauen und Transparenz in einem humanistisch-demokratischen Regierungssystem. Indem die Handelnden insbesondere auch als Führungspersönlichkeiten aus ihren Gruppen heraus als Individuen hervortreten, werden sie mit ihren jeweiligen Stärken und Schwächen als Mensch erkennbar.

Für den Erfolg der konkreten Koalition auch über die Dauer der Legislatur hinweg erscheint es zugleich unmittelbar von Bedeutung, wie gut es gelingt, in diesem Stadium enge, tragfähige Beziehungen zwischen den politischen Spitzenkräften wie auch zwischen den Fachpolitiker*innen der Koalition einzugehen. Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Diejenigen Beteiligten, die es schaffen, jenseits politischer Eitelkeiten feste und verbindliche Strukturen und kollegiale Nähe aufzubauen und eine Vertrauenskultur zu etablieren, werden auch innerhalb des Koalitionsalltags erfolgreicher sein und so das vielbeschworene „Wohl des Landes über Parteigrenzen hinweg“ fördern können.

Ein Gradmesser, ob und wie es den Partnern gelingt, dieses Vertrauen zu bilden, ist die Intensität und Qualität, mit der aus den internen Verhandlungsrunden an Medien kommuniziert wird. Jede unabgestimmte Kommunikation hat einen politischen Preis, der in der Währung Vertrauen bezahlt wird. Nicht selten gilt das Prinzip der Reziprozität: Hat ein Partner Inhalte aus den Verhandlungen durchgestochen, werden Krisengespräche geführt und die Indiskretion in der Regel kurzfristig mit einer eigenen beantwortet.

Besonders heikel ist dies bei der Frage des zukünftigen Regierungspersonals und der Ressortverteilung. In der Diskussion der Parteiöffentlichkeit dürfen Fragen des Personals und der Ressortverteilung keinesfalls eine hohe Bedeutung einnehmen. Sie gelten bei den Mitgliedern, die im Ringen der Koalitionsverhandlungen ihre Sachthemen behandelt wissen wollen, als vor allem dem Vorteil der Aspirant*innen dienend. Wer sich hier zu früh exponiert, ist schnell verbrannt und wird möglicherweise nicht berücksichtigt. Gleichwohl hat dieser Punkt bei der strategischen Gestaltung der Verhandlungen eine zentrale Bedeutung. Um zu wissen, welche Punkte des Koalitionsvertrages priorisiert abgearbeitet werden sollen, für welche Projekte (parteispezifische) Haushaltsmittel eingestellt werden müssen, ist es erforderlich zu wissen, welcher Partner im Lauf der Legislatur einerseits Kosten und Aufwand der Umsetzung und ggf. die Verantwortung für das Scheitern zu tragen hat bzw. andererseits welcher Partner die Lorbeeren der erfolgreichen Umsetzung (etwa das sprichwörtliche Durchschneiden eines Bändchens bei einem Förderprojekt) einfahren kann. Es ist deshalb von allergrößter Bedeutung zu klären, wer mit wem und an welchem Zeitpunkt der Verhandlungen diese Fragen innerparteilich und sodann in der künftigen Koalition beantwortet, um die Balance von Vertrauen und Kommunikation zu halten.

8 Koalitionsvertrag und nicht-öffentliche Papiere

„Habemus Koalitionsvertrag!“ ruft es nicht selten nach der letzten Nachtsitzung aus übermüdeten Verhandlerkehlen in die „war rooms“ (die Rückzugsräume der Verhandlungsparteien, in denen die Berater*innen auf die Rückkehr ihrer Chefs warten). Die letzten offenen Punkte sind geklärt, Ressorts verteilt, der Vertragstext final geeint. Nun bleibt fleißigen Mitarbeiter*innen noch die Aufgabe, binnen weniger Stunden die umfangreiche redaktionelle Glättung und sprachliche Harmonisierung des Werkes mit einer regelmäßig dreistelligen Seitenzahl vorzunehmen, bevor der Vertrag schließlich wenige Stunden später durch die politischen Spitzen der Öffentlichkeit vorgestellt wird und sodann durch die Gremien oder die Mitglieder der Parteien abgesegnet werden kann.

Koalitionsvereinbarungen sind politische Papiere, keine Verträge im zivil- oder öffentlich-rechtlichen Sinn. Konkrete vor den Gerichten einklagbare Ansprüche und Rechtsfolgen lassen sich aus ihnen nicht begründen. Die Auslegung des Koalitionsvertrags obliegt daher auch keiner objektiven Instanz, sondern allein der politischen Deutung und Erzählung durch die Beteiligten, die Opposition, die Medien und die Öffentlichkeit.

Die Prosa der Vertragstexte enthält auslegungsbedürftige sprachliche Codes, aus denen die Verbindlichkeit der Festlegungen abgeleitet werden kann und muss. Zwischen der Formulierung „wird“ oder „soll“ liegt ein gewaltiger Unterschied. Ebenso in der Unterscheidung, ob einzelne Festlegungen oder der gesamte Text unter Haushaltsvorbehalt stehen oder nicht (siehe Abschnitt 10 Finanzen).

Das Gleiche gilt für Prüfaufträge. Derlei bedeuten in der Regel, dass sich die Verhandlungspartner nicht auf einen Nenner verständigen konnten, es aber einem der Beteiligten besonders wichtig war, diesen Punkt für seine Mitglieder und Wähler*innen im Koalitionsvertrag zu erwähnen. Noch geringer ist die Umsetzungswahrscheinlichkeit für Projekte, die keine Erwähnung im Text gefunden haben. So oder so ergibt sich also aus den gewählten Formulierungen und Auslassungen häufig eher, welche von den Projekten der Beteiligten keine Umsetzung erfahren werden, als umgekehrt.

Konkretere Festlegungen werden teilweise in Papieren und Budgetlisten festgehalten, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind (siehe Abschnitt 9 Vertragstreue oder Dauerverhandlungen). In derlei Papieren verpflichten sich die Spitzen der Partner gegenseitig, bestimmte konkrete Projekte des Koalitionsvertrags umsetzen zu wollen, diese nicht durch die Macht ihrer Ministerialbürokratie oder fiskalische Einwände zu verzögern oder gar gänzlich auszusitzen. Neben inhaltlichen Projekten kommen solche Vereinbarungen auch bei der Besetzung von wichtigen Ämtern unterhalb der politischen Spitzenebene zur Anwendung. Beispiele hierfür sind etwa Vorschlagsrechte für EU-Kommissare, hohe Ämter der Rechnungshöfe oder auch für besondere Beauftragte. Dies selbst dann, wenn die Positionen vom Parlament durch Wahl zu besetzen sind.

9 Vertragstreue und Dauerverhandlungen

Soweit der Erfolg einer Regierung an der möglichst harmonischen Abarbeitung des Koalitionsvertrags im Laufe einer Legislatur gemessen wird, hängt dieser entscheidend an der Qualität und Präzision der gefundenen Einigungen. Allgemein gilt die Relation, je politisch umstrittener das Thema zwischen den Beteiligten ist, desto konkreter sollte der errungene Konsens fixiert werden. Deshalb wird sich in nicht-öffentlichen Nebenabreden zum Beispiel teils bereits auf konkrete Eckpunkte und Formulierungen künftig zu schaffender Gesetze oder Verordnungen verständigt. Wird dagegen im Sinne des kurzfristigen Einigungserfolgs auf konkrete Festlegungen verzichtet, ist der Boden für Dauerverhandlungen und -konflikte bereitet. So schön die Vereinbarung zur Schaffung eines Gesetzes mit einem bestimmten Titel in die Kommunikation erfolgreich abgeschlossener Verhandlungen eingebaut werden kann, so wenig sagt diese über die Regelungen des Gesetzes aus. Die eigentlichen Streitpunkte liegen, wenn sie nicht ohnehin allein symbolpolitischer Natur sind, fast immer im Detail einzelner Normen.

In der Praxis der Umsetzung der Koalitionsverträge bedeutet dies, beginnend ab dem Zeitpunkt der ersten Ressortbeteiligung mit einem Referentenentwurf, die Neuvermessung des in den Koalitionsverhandlungen abgesteckten Rahmens durch die Ministerialbürokratie, die, abhängig vom Thema, mehr oder weniger stark durch ihre politischen Hausspitzen mit Marschbefehlen ausgestattet ist. Erneut werden alle Einwendungen ins Feld geführt, die bereits in den Koalitionsverhandlungen abgearbeitet wurden, seien sie rechtlicher, finanzieller oder fachlicher Natur. Je umfangreicher diese in den Verhandlungen bereits diskutiert und – möglichst schriftlich – ausgeräumt wurden, desto störungsfreier nimmt das Vorhaben seinen Weg durch das Verfahren.

Es bleibt freilich immer die Möglichkeit der politischen Blockade durch einen Koalitionspartner im Kabinettsverfahren. Für diese Situationen ist im Koalitionsvertrag in der Regel die Einrichtung eines Clearing-Mechanismus und eines Koalitionsausschusses vorgesehen, der meist aus Spitzenvertreter*innen sowohl aus Regierung als auch Fraktion und Partei besetzt ist. Der Koalitionsausschuss übernimmt das Controlling der Umsetzung des Koalitionsvertrags, klärt Auslegungsfragen und ist dazu berufen, Blockaden zu lösen. Das bedeutet in der Praxis zuweilen, im Vertrag geeinte Projekte erneut verhandeln zu müssen, ggf. sogar erneut einen politischen Preis dafür zu zahlen, dass ein eigentlich schon geeintes Projekt tatsächlich umgesetzt wird. So bleibt der Koalitionsvertrag auch auf Dauer der Legislatur ein Rahmen lebendiger politischer Auseinandersetzung.

10 Finanzen – gerechnet oder ungedeckt

Der Erfolg eines Koalitionsvertrages und einer Koalition steht und fällt mit der Umsetzung der geplanten Projekte und damit entscheidend dadurch, ob und wie die notwendigen finanziellen Mittel dafür aufgebracht werden können. Nicht zuletzt das Ende der Ampel-Regierung im November 2024 hat dies eindrücklich gezeigt.

Üblicherweise gibt es im Rahmen von Koalitionsverhandlungen drei Wege, sich der Finanzierung der Vorhaben zu nähern:

  • Der gesamte Koalitionsvertrag wird mit einem Haushaltsvorbehalt versehen. Somit sind alle im Koalitionsvertrag genannten Maßnahmen zwar geplant, müssen aber im Rahmen von Haushaltsverhandlungen erneut verhandelt und priorisiert werden.

  • Die Parteien einigen sich auf Prioritäten, benennen diese aber nicht explizit im Koalitionsvertrag, sondern in nicht-öffentlichen Nebenpapieren (siehe Abschnitt 8 Koalitionsvertrag und nicht-öffentliche Papiere).

  • Der Koalitionsvertrag benennt ausdrücklich finanzielle Spielräume (oder auch Einsparungsnotwendigkeiten) und ggf. eine Abrede darüber, welche Projekte fest im Rahmen dieser Spielräume geeint sind und welche Projekte darüber hinaus einem Haushaltsvorbehalt unterliegen.

Kommen Koalitionspartner aus der Opposition und hatten somit keinen vertieften Einblick in die Haushaltssituation sowie keinen Zugang zu den Ressourcen der Ministerien (im besten Fall dem Finanzministerium), sind sie in den Verhandlungen zunächst klar im Nachteil. Dieses Ungleichgewicht in der Verhandlungsposition kann es für den neu in die Regierung eintretenden Partner attraktiv machen, sich nicht in finanzieller Detailtiefe festzulegen. Die mit den parlamentarischen Ressourcen der Opposition ausgearbeiteten Konzepte stehen den mit Unterstützung des Beamtenapparats ausgearbeiteten Einschätzungen der Ressorts gegenüber wie David gegen Goliath. Hier erscheint es oft vorzugswürdig, sich an der oben erstgenannten Variante zu orientieren, auch wenn dies die Priorisierung von Projekten in die Zeit der Regierung verschiebt. Jede Haushaltsverhandlung ist dann auch eine neuerliche Koalitionsverhandlung.

Je nach Haushaltssituation, je nach der Aussicht auf strukturelle Lücken oder absehbare Überschüsse in der mittelfristigen Finanzplanung, verändert sich der finanzpolitische Druck auf die Koalitionspartner. Gerade in schwierigen Haushaltslagen kann es politisch angebracht sein, die Prioritäten offen zu lassen, um flexibler auf sich im Lauf der Legislatur verändernde Situationen reagieren zu können. Gleichzeitig kann ein zu „realistischer“, ein zu sehr durchgerechneter Koalitionsvertrag den Wind des Neuen, mit der sich eine Koalition gerade an ihrem Beginn umgeben sollte, dämpfen, wenn sie von vornherein eingestehen muss, welche Wahlversprechen man sich absehbar nicht wird leisten können. Die oben genannte zweite Variante vermeidet es daher, diese Debatte öffentlich führen zu müssen. Allerdings setzt dies hohe Vertraulichkeit über die Nebenabreden voraus. Die normative Kraft des Faktischen ist manchmal in kleineren Häppchen bekömmlicher.

In Zeiten von Überschüssen und finanziellen Spielräumen, erscheint die dritte Variante charmant. Sie gibt allen Beteiligten Sicherheit und Transparenz und zieht größere Projekte vor die Klammer zukünftiger Haushaltsverhandlungen.

Eine wichtige Erleichterung für die Haushaltsaufstellungen im Laufe der Legislatur können auch frühzeitige Abreden zu deren Struktur und Verfahren bieten. Etwa durch die Einrichtung einer Haushaltskommission, welche zu erwartende Debatten im Kabinett vorstrukturieren kann. Der Vorteil von einer solchen Haushaltskommission ist, dass die Spitzen der Partner dadurch von Anfang an den komplizierten Prozess der Haushaltsaufstellung top-down steuern und so die Diskussion der Fachminister*innen im Kabinettsverfahren in wesentlichen Punkten obsolet wird. Auch ein solches Gremium wird jedoch nur dann erfolgreich sein können, wenn es, wie die gesamte Koalition, von den Beteiligten gewollt und mit Leben gefüllt wird.

11 Ausblick

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2025 schafft auf den ersten Blick eine denkbar unkomplexe Ausgangslage: Allein eine schwarz-rote Koalition kommt in Betracht. Diese Konstellation ist eingeübt, sie hat die Bundesrepublik in zwölf der letzten 20 Jahre regiert. Zugleich erscheinen die Koalitionsverhandlungen und die bevorstehende Legislatur angesichts der von Deutschland international erwarteten Führungsrolle in Europa von geradezu weltpolitischer Bedeutung. Die vertrauensvolle Zusammenarbeit einer neuen Bundesregierung ist jetzt entscheidender denn je, sowohl für das Ansehen Deutschlands auf internationaler Ebene, wie auch für den Rückhalt der Regierung in der eigenen Bevölkerung. Die Dimension der Aufgabe kann und sollte die Bedeutung des Vertrauens der Beteiligten zueinander in den gemeinsamen Fokus rücken und die spielerischen Komponenten der Verhandlungen zurückdrängen, um so Zutrauen in diese Regierung innerhalb wie außerhalb Deutschlands zu gewinnen.

Über die Autoren

Mathias Weilandt

Mathias Weilandt ist Jurist und Staatssekretär und Amtschef a. D. des Sächsischen Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung. Kontakt: https://www.linkedin.com/in/mathiasweilandt.

Anna Maria Uhl

Regierungsdirektorin im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

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Online erschienen: 2025-05-24
Erschienen im Druck: 2025-05-23

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 24.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/fjsb-2025-2029/html
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