Rezensierte Publikation:
Wilhelm Heizmann (ed.): Völsi-Geschichten. Klaus Düwel: Die Geschichte vom Völsi. Wilhelm Heizmann: Die Inschrift von Fløksand und der Vǫlsa þáttr. Münchener Nordistische Studien. München 2021. 179 Seiten. Illustrationen.
Klaus Düwels Habilschrift Das Opferfest von Lade und die Geschichte vom Völsi. Quellenkritische Untersuchungen zur germanischen Religionsgeschichte hat eine lange Geschichte. Bereits 1971 in Göttingen als Habilleistung eingereicht, wurde der erste Teil der Abhandlung erst 1985 in überarbeiteter Form in Wien zum Druck befördert, während der Autor den zweiten Teil über den Vǫlsa þáttr lange Jahre für nicht publikationswürdig hielt. 2015 stimmte Klaus Düwel der Veröffentlichung schlielich unter der Bedingung zu, dass Wilhelm Heizmanns in vielerlei Hinsicht konträre Deutung dieser spätmielalterlichen Erzählung im selben Band nachzulesen sei. Leider konnte der Band erst kurz nach Klaus Düwels Tod erscheinen. Der Nachwelt wird aber eine Arbeit Düwels zugänglich gemacht, die, obgleich sie vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben wurde, auch heute noch einen wertvollen und anregenden Beitrag zur Völsi-Forschung darstellt. Der besondere Reiz dieses schmalen Buches liegt nicht zuletzt darin, dass es das bemerkenswerte Sinnpotenzial und, verbunden damit das breite Deutungsspektrum dieser kurzen prosimetrischen Überlieferung nachvollziehbar macht. Neben der Übersetzung des Vǫlsa þáttr nach dem Text der Flateyjarbók, die bereits Teil von Düwels Abhandlung war, enthält der Band auch den Originaltext.
Düwels Abhandlung über das Opferfest von Lade, wie es in der Hákonar saga goða beschrieben wird, reagiert nicht zuletzt auf die religionshistorische Forschung der Nachkriegsjahrzehnte, in der Quellenkritik noch vielfach kaum eine Rolle spielte. Düwel zufolge basiert die berühmte Opferschilderung weder auf mündlicher Überlieferung noch auf schriftlichen Quellen, sondern sei von Snorri selbst konstruiert worden, „um sich in der folgenden Darstellung der Auseinandersetzungen zwischen Hakon dem Guten und den Drontheimern um Göttertrunk und Opferfleischgenuß auf den Gesamtablauf der Kulthandlung beziehen zu können (Düwel 1985, 119). Ferner bekundet sich für Düwel in der “Geschichte vom apostatischen“ König ,ein theologisch-politischer Kontrast zwischen Norwegen und Island“ (Düwel 1985, S. 128) und in Verbindung damit eine isländische Kritik an der norwegischen Bekehrungspolitik. Düwels Abhandlung wurde überwiegend freundlich aufgenommen, sie hat aber auch eine fruchtbare Diskussion über die religionshistorische Relevanz von Sagaliteratur in Gang gebracht, für die hier stellvertretend nur der erhellende Beitrag von Preben Meulengracht Sørensen (1991]) angeführt sei. Meulengracht Sørensen argumentiert gegen Düwel, dass Snorri sich durchaus um eine stimmige Rekonstruktion der Vorzeit bemüht habe, doch er „har fortolket den og ’oversat’ den til sin samtids kristne forestillingsverden“ (Meulengracht Sørensen 1991, 239).
Eine in ihren grundlegenden Argumentationslinien ähnliche Diskussion wird seit Beginn des 20. Jahrhunderts über den Vǫlsa þáttr geführt; auch hier steht der religionshistorische Quellenwert einer stark christlich perspektivierten Überlieferung zur Debatte. Unübersehbar und unumstritten handelt es sich bei der Erzählung, in der ein Pferdepenis bei den Bewohnern eines abgelegenen Hofes in Nordnorwegen als Kultgegenstand fungiert, um eine satirisch gefärbte Auseinandersetzung mit dem Heidentum, das als unappetitlich, lächerlich und letzten Endes wesenlos denunziert wird. Düwel weist die seit Andreas Heusler verbreitete Annahme, dass die Erzählung gleichwohl uralte, kultgeschichtlich höchst relevante Überlieferung enthielte, zum einen mit dem Verweis auf die „überlegte Komposition“ (S. 39) zurück und klassifiziert sie als eine „Schreibarbeit aus der Zeit der Niederschrift der Flateyjarbók“ (S. 39). Die beiden Teile der Habilschrift verbindet also vordergründig die Überzeugung, dass beide Überlieferungen lediglich bezüglich des christlichen Mittelalters Aussagekraft besäen.
Das Strophenmaterial, das für die religionshistorische Evaluierung des Vǫlsa þáttr eine entscheidende Rolle spielt, erachtet Düwel gleichfalls für spätmittelalterlich. Die sich daran anschließenden wortgeschichtlichen Untersuchungen führen Düwel ebensowenig zu dem Schluss, der Þáttr könnte heidnisches Vorzeitwissen bewahrt haben wie die zuerst von Magnus Olsen vorgenommene Indienstnahme des Vǫlsa þáttr zur Deutung der Runeninschrift auf einem Schrapmesser aus Fløksand (Nordhordaland), die auf die Zeit um 350 datiert wird. In der Nennung von Leinen und Lauch in der Inschrift und der Verwendung von Leinen und Lauch zur Konservierung des Pferdepenis in der Erzählung und besonders auch der Nennung des Begriffspaars in einem Vers des Þáttr erblickt Olsen den Beweis für einen über tausend Jahre bestehenden Phalluskult in Norwegen. Düwels Kritik läuft darauf hinaus, dass Olsen sich in einem Zirkelschluss bewege, indem er unzulässigerweise die Deutung der Völsi-Strophen mit der Runeninschrift kurzschließe. Als Zeugnis der germanischen Religionsgeschichte ist der Vǫlsa þáttr für Klaus Düwel ebensowenig zu retten wie die Opferschilderungen in der Hákonar saga goða.
Klaus Düwel führt eine Reihe bedenkenswerter wortgeschichtlicher wie vor allem auch textanalytischer Argumente für eine spätmittelalterliche literarische Formung des Vǫlsa þáttr an, bei der seiner Ansicht kaum auf älteres Traditionswissen zurückgegriffen worden ist. Gleichwohl ist die Diskussion um die religionshistorische Relevanz der spätmittelalterlichen Geschichte bis heute nicht verstummt; dabei sind die Positionen, die die geschilderten Kulthandlungen als frei erfunden abtun, in der Forschung durchaus nach wie vor marginalisiert. Zu den Forschern, die eine in zentralen Punkten zu Düwel diametrale Position vertreten, gehört Wilhelm Heizmann. Der Ausgangspunkt seines Aufsatzes Die Inschrift von Fløksand und der Vǫlsa þáttr ist, wie der Titel schon andeutet, wiederum die ominöse Inschrift des 4. Jahrhunderts, die Düwel als alten Beleg für einen Phalluskult so dezidiert abgelehnt hatte, die aber, wie Heizmann mit Hilfe anderer Zeugnisse überzeugend darzulegen vermag, mit hoher Wahrscheinlichkeit durchaus in einen kultischen oder rituellen Kontext passt, zumal vor allem dem Lauch in der medizinischen Magie der Germanen eine zentrale Bedeutung zukommt. Dass Schrapmesser wie das von Fløksand typischerweise in Frauengräbern gefunden wurden und auch das häusliche Fruchtbarkeitsritual im Vǫlsa þáttr von Frauen ausgeübt wird, ist in diesem Zusammenhang ebenso interessant wie die Parallelen zu antiken Phalluskulten (vgl. zu der Inschrift auch Düwel/Nedoma 2023], 37).
Zusammengelesen liefern die beiden in Völsi-Geschichten versammelten Beiträge wie erwähnt einen profunden Einblick in die verschiedenenen Deutungsperspektiven, die sich auf den Vǫlsa þáttr werfen lassen. Während der bleibende Wert von Klaus Düwels Habilitationskapitel vor allem in der Analyse des Þáttr als literarischem Text liegt (ein in der Forschung insgesamt eher unterbelichteter Aspekt), zeigt Wilhelm Heizmanns religionshistorische Studie in ihrem Materialreichtum auf überzeugende Weise, „dass es sich bei den im Vǫlsa þáttr geschilderten Vorgängen um den vielfach (christlich, satirisch, literarisch, ideologisch etc.) gebrochenen Reflex heidnischer Kultpraxis handelt“ (S. 135). Die umfangreiche Bibliographie bietet einen guten Zugang zu der überaus spannenden und facettenreichen Forschungsgeschichte zum Vǫlsa þáttr selbst, aber auch zu der geheimnisumwitterten Runeninschrift von Fløksand.
Literatur
Düwel, Klaus. 1985. “Das Opferfest von Lade. Quellenkritische Untersuchungen zur germanischen Religionsgeschichte.” Wiener Arbeiten zur germanischen Religionsgeschichte 27.Suche in Google Scholar
Düwel, Klaus, and Robert Nedoma. 2023. Runenkunde. 5, aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart: J.B. Metzler.10.1007/978-3-476-04630-7Suche in Google Scholar
Sørensen, Preben Meulengracht. 1991. “Håkon den gode og guderne. Nogle bemærkninger om religion og centralmagt i det tiende århundrede – og om religionshistorie og kildekritik.” In Fra stamme til stat 2: Høvdingesamfund og Kongemagt (Jysk Arkæologisk Selbskabs Skrifter 22, 2), (red) Peder Mortensen, and Birgit M. Rasmussen. Aarhus. S, 235–44.Suche in Google Scholar
© 2024 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Obituary
- In memoriam: Kurt Schier
- Special Issue Articles
- Nordischer Klang 2023: Lese/Kulturen
- Nordischer Klang 2023: Lese/Kulturen – Lektürepraktiken im Norden vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
- Drottning Sofia Magdalenas läsning. Böcker, konversation, och socialt spel vid det Gustavianska hovet
- Literarische Öffentlichkeit ohne Lesen. Zur Neubetrachtung von Rifbjergs lytterroman (1972)
- Articles
- Begegnungen mit dem Tod in der norwegischen Gegenwartsdramatik
- Say that It Is so! Exclamation Marks and Affect in Eva-Stina Byggmästar’s Poetry
- Bygda som postruralt landskap i Marit Eikemos Hardanger (2019)
- Ellen Key och klimatfrågan: drömmen om en ny natur
- Akkusativ med presens partisipp i norsk
- Book Reviews
- Camilla Storskog: Afterlives – Scandinavian Classics as Comic Art Adaptations
- Walter Baumgartner: Ostsee-Barock (II). Theater, Gelegenheitsdichtung, Kirchenlied
- Daniel Alexander Nagelstutz: Die Neue Eiszeit. Eine imagologische Analyse des Grönland-Diskurses im deutschsprachigen Raum (1933–2021)
- Wilhelm Heizmann: Völsi-Geschichten. Klaus Düwel: Die Geschichte vom Völsi. Wilhelm Heizmann: Die Inschrift von Fløksand und der Vǫlsa þáttr
- Dieter Strauch: Schwedisches historisches Recht. Vier Einblicke ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit
- Barbara Sjoholm: From Lapland to Sápmi. Collecting and Returning Sámi Craft and Culture
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Obituary
- In memoriam: Kurt Schier
- Special Issue Articles
- Nordischer Klang 2023: Lese/Kulturen
- Nordischer Klang 2023: Lese/Kulturen – Lektürepraktiken im Norden vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart
- Drottning Sofia Magdalenas läsning. Böcker, konversation, och socialt spel vid det Gustavianska hovet
- Literarische Öffentlichkeit ohne Lesen. Zur Neubetrachtung von Rifbjergs lytterroman (1972)
- Articles
- Begegnungen mit dem Tod in der norwegischen Gegenwartsdramatik
- Say that It Is so! Exclamation Marks and Affect in Eva-Stina Byggmästar’s Poetry
- Bygda som postruralt landskap i Marit Eikemos Hardanger (2019)
- Ellen Key och klimatfrågan: drömmen om en ny natur
- Akkusativ med presens partisipp i norsk
- Book Reviews
- Camilla Storskog: Afterlives – Scandinavian Classics as Comic Art Adaptations
- Walter Baumgartner: Ostsee-Barock (II). Theater, Gelegenheitsdichtung, Kirchenlied
- Daniel Alexander Nagelstutz: Die Neue Eiszeit. Eine imagologische Analyse des Grönland-Diskurses im deutschsprachigen Raum (1933–2021)
- Wilhelm Heizmann: Völsi-Geschichten. Klaus Düwel: Die Geschichte vom Völsi. Wilhelm Heizmann: Die Inschrift von Fløksand und der Vǫlsa þáttr
- Dieter Strauch: Schwedisches historisches Recht. Vier Einblicke ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit
- Barbara Sjoholm: From Lapland to Sápmi. Collecting and Returning Sámi Craft and Culture