Rezensierte Publikation:
Dieter Strauch Schwedisches historisches Recht. Vier Einblicke ins Mittelalter und in die frühe Neuzeit. 325 S, Wien/Köln: Böhlau Verlag.
Die vorliegende Monographie, welche vier hier erstmals im Druck publizierte Studien des Verfassers vereint, sucht laut Vorwort den Anschluss an die von ihm 2011 vorgelegte und 2016 neu aufgelegte umfassende Quellenkunde zum skandinavischen Recht.[1] Dabei konzentriert sich Dieter Strauch in den ersten drei Beiträgen auf die schwedischen Landschaftsrechte: Im ersten zeichnet er die Adaption kanonischen Rechts im Landschaftsrecht von Uppland (Upplandslagen) aus dem Jahr 1296 nach, im zweiten wird die Rechtslage der Frau in den Landschaftsrechten behandelt, im dritten die Entwicklung des gotländischen Rechts (Gutalagen) aus dem 13. Jahrhundert, wobei ein Schwerpunkt auf der Erschließung von Verordnungen der dänischen Könige aus den Jahren 1492 und 1537 liegt, welche die Entwicklung königlicher Herrschaft dokumentieren. Die vierte Studie schließlich behandelt die schwedische Staatsreform unter der Herrschaft Gustav II. Adolfs und Christinas (1611–1654) bzw. der Kanzlerschaft Axel Oxenstiernas. In der Abfolge der Studien entsteht so ein diachroner Eindruck von der Entwicklung des vormodernen schwedischen Rechts, wobei die einzelnen Abschnitte allerdings nicht aufeinander bezogen oder auf eine verbindende Fragestellung hin orientiert sind. Drei der Beiträge (zu Upplandslagen, der Frau und der Staatsreform) wurden bereits 2020 und 2021 vorab auf dem „Kölner UniversitätsPublikationsServer“ online publiziert,[2] ohne dass dies im Buch Erwähnung findet, wobei, soweit ersichtlich, mit Ausnahme der Einleitung zu Upplandslagen keine erheblichen Unterschiede zwischen den Online-Versionen und der Druckfassung bestehen.
Im sehr kurzen Vorwort wird die Wahl der Themen für die Einzelstudien und die Logik ihrer Anordnung mit Ausnahme von Upplandslagen nicht näher begründet. Dessen Relevanz erschließt sich über die planvolle Harmonisierung mit dem kanonischen Recht, die auch auf spätere schwedische Landschaftsrechte wirkte. In der Tat erweist sich die systematische Aufarbeitung des Verhältnisses von Kirchenrecht, römischem Recht und Rechtstext auch für den nicht juristisch Gebildeten als ausgesprochen informativ, sehr gut zugänglich und übersichtlich. So lässt sich gut nachvollziehen, wie etwa der Majestätsbegriff, Vorstellungen von der Wandelbarkeit des Rechts und die – im Gegensatz zu älteren Rechtstexten – dem König zugeschriebene Gesetzgebungskompetenz Ideen des römischen und des kanonischen Rechts aufgreifen, analog zum berühmten Prolog des älteren Jyske Lov, aber nicht von ihm abhängig. Wiederholte Vergleiche mit älteren Landschaftsrechten vermitteln einen klaren Eindruck von den Entwicklungen am Ende des 13. Jahrhunderts, auch im Hinblick auf den Pluralismus von weltlichem und kirchlichem Recht und den jeweiligen Gerichtsbarkeiten. Schließlich wird, anders als im Inhaltsverzeichnis angedeutet, die Umsetzung des Kirchenrechts im Abschnitt über das Kirchenrecht (Kyrkiobalk, etwa zum Zehnten, Kirchenbau und -unterhalt, zur Sakramentenspendung und dem Eherecht) ebenso dargestellt wie in den anderen,weltlichen‘ Abschnitten des Rechtstextes, z. B. zu Friedensbruch, Rache und Eidesleistung. Im Inhaltsverzeichnis sind alle 27 thematischen Teilkapitel hierzu unter der Kategorie „I. Im Kirchenabschnitt“ subsumiert, obwohl ab Nr. 18 (zur Landfriedensgesetzgebung) eigentlich eine andere Kategorie (nämlich außerhalb des Kirchenabschnitts) behandelt wird. Dieser Fehler, der auch in der Online-Version vorliegt, kennzeichnet Schwächen in der redaktionellen Qualität, die im Detail wiederholt begegnen.
Ebenso informativ und über ein kleinteiliges Inhaltsverzeichnis aufgeschlossen wie der erste ist der umfangreiche zweite Abschnitt zur Rechtslage der Frau; auch hier werden die Positionen des kanonischen wie des römischen Rechts allgemeinverständlich dargelegt, ehe Aspekte von Ehe, Nachkommenschaft, Erbe und Geschäftsfähigkeit sowie des Strafrechts in den Landschaftsrechten und dem Stadtrecht vergleichend erläutert werden. In der Kleinteiligkeit auch der Belegpraxis an den Rechtstexten, die mitunter katalogartig wirkt, stellt dieser Abschnitt eine Fundgrube etwa für Arbeiten zum Geschlechterverhältnis dar, welche die Orientierung in den komplizierten Bestimmungen der Rechtstexte enorm erleichtert. Passagenweise orientiert sich die Darstellung dabei so eng an den Quellen, dass deren Sprache sich ins Deutsche durchdrückt. Bemerkenswert ist neben den erschöpfenden Verweisen auf die Rechtstexte selbst die verwendete Literatur, die einen älteren Forschungsstand repräsentiert; jüngere Publikationen gerade auf Englisch oder in skandinavischen Sprachen sind kaum berücksichtigt. Dies ist einerseits dem klassisch rechtshistorischen Zugriff auf das Material geschuldet, indem Strauch sich auf normative Texte beschränkt, während die jüngere Forschung in ihrem Bestreben, die alltägliche Praxis zu erhellen, in erheblichem Ausmaß auch narrative Texte heranzieht oder Erkenntnisse der Archäologie nutzbar zu machen sucht.[3] Andererseits wirken nicht zuletzt deshalb manche Positionen veraltet. So ist die Praxis der „germanischen Wasserweihe“ Neugeborener vor der Christianisierung (90f.) ausgesprochen umstritten, weil eben von der früheren Forschung aus narrativen Texten des Hochmittelalters abgeleitet; das Kirchenasyl kann nicht länger mit Jacob Grimm als Fortsetzung eines heidnischen Tempelasyls gedeutet werden (139), und im Hinblick auf das Eherecht (72–78, 98–100) wäre die u. a. von Jan Rüdiger untersuchte Praxis der Polygynie gerade auch im Hochmittelalter zu berücksichtigen gewesen.[4] Insgesamt bildet Strauch so die Welt der normativen Texte ab, wobei die Brüchigkeit der hier entworfenen Ordnung im historischen Alltag, etwa zwischen dinggenossenschaftlicher Realität und königlichem Herrschaftsanspruch, nicht zur Sprache kommt. Auch überkommene termini technici wie „Notzucht“ oder „Hurerei“ wirken veraltet. Trotz der klaren Systematisierung sind nicht immer alle relevanten Informationen an einem Ort versammelt, überdies finden sich Überschneidungen zwischen den ursprünglich getrennt publizierten Abschnitten. So sind die Ausführungen über die Zulassung der Frau als Zeugin auf dem Ding im Beitrag zu Upplandslagen (59f.) und zur Rechtslage der Frau (150) wortgleich. Die Buße für eine Totgeburt als Folge von Misshandlung der Schwangeren findet sich einmal unter der entsprechenden Überschrift mit Verweis auf das Visbyer Stadtrecht (130), einmal im Teil zur Frau als Klägerin und Zeugin mit Fundstellen in Gutalagen und Bjärköarett (151), was der Übersichtlichkeit nicht zuträglich ist. Nichtsdestoweniger entsteht in diesem umfangreichsten Beitrag zum Buch ein eindrucksvolles Gesamtbild der rechtlichen Bestimmungen, welche Frauen im schwedischen Mittelalter und der frühen Neuzeit betrafen, auch wenn man sich eine stärker vergleichende Perspektive etwa im Hinblick auf abweichende Strafen für Männer und die gesamteuropäische Entwicklung gewünscht hätte.
Im dritten Abschnitt wird das gotländische Recht (Gutalagen) aus dem 13. Jahrhundert vorgestellt, das sich vor den anderen Landschaftsrechten durch eine begleitende Geschichte Gotlands und seiner Christianisierung in altgutnischer Prosa, die so genannte Gutasaga, auszeichnet, in der unter anderem das besondere Verhältnis der Gotländer zum schwedischen König und Gotlands Einbindung in die Kirchenorganisation historisch begründet werden. Deren Inhalt wird hier weitgehend unkritisch wiedergegeben, ehe die Besonderheiten des Gutalag gegenüber den festlandschwedischen Rechtstexten vorgestellt werden. Eine kurze Betrachtung der politischen Geschichte Gotlands ab dem 13. Jahrhundert leitet schließlich über zum wesentlichen Teil dieses Abschnitts, in dem die ergänzenden Verordnungen der dänischen Könige von 1492 und 1537 in Übersetzung gegeben und kommentiert werden, so dass sich die Entwicklung des gotländischen Rechts bis zur Einführung des Schonischen Rechts und schließlich – nach der Einordnung Gotlands in das schwedische Reich 1645 – des schwedischen Landrechts nachvollziehen lässt. In diesen nicht eindeutig als solche gekennzeichneten Übersetzungen und dem begleitenden Kommentar liegt der eigentliche Mehrwert des Abschnitts, denn Gutalagen selbst liegt seit 2015 in einer umfassend kommentierten und mit einer reichen Einleitung versehenen englischen Übersetzung von Christine Peel vor, die Strauch zwar erwähnt, auf die er aber sonst in seiner Behandlung von Gutalagen keinerlei Bezug nimmt, so dass man Peels Erläuterungen etwa zur Gutasaga zur Kenntnis nehmen sollte.[5] Was dort fehlt, nämlich die Erschließung der königlichen Verordnungen, welche die Entstehung eines Königsgerichts und die generelle Entwicklung des Herrschaftsgedankens erkennen lassen, wird hier geleistet.
Im vierten Abschnitt schließlich vollzieht Strauch die Entwicklung staatlicher Strukturen in der schwedischen Großmachtzeit unter Axel Oxenstierna nach. Es wird zunächst am Beispiel des Hofgerichts deutlich, wie das Amtsprinzip durchgesetzt und der Adel mit privilegiertem Zugang zu den Staatsämtern versehen wird, was wiederum die Stellung des Reichskanzlers in der sich verfestigenden Administration stärkt. Die regeringsform („Verfassung“) Oxenstiernas von 1634 schließlich sieht neben dem Hofgericht fünf weitere Kollegien vor, so dass die Administration des Militärs, der Kanzlei, der Finanzen und der Schulen, Hospitäler und Gefängnisse in die Hände eines entstehenden Berufsbeamtentums übergeht, mit dem Resultat einer oligarchisch-bürokratischen Regierungsform, die dem Reichskanzler an Stelle der minderjährigen Königin großen Einfluss verschafft.
In ihrer Allgemeinverständlichkeit und Aufbereitung des reichen Quellenmaterials liefern die vier Abschnitte das, was der Titel verspricht: Sie vermitteln Einblicke in die schwedische Rechtsgeschichte und sind eine Fundgrube rechtsgeschichtlichen Wissens. Da die Kapitel jedoch inhaltlich durchaus sehr verschiedene Themen behandeln, die paratextuell nicht miteinander verbunden sind und mit Ausnahme der Studie zum Status der Frau auch kein Resümee enthalten, steht der Rezensent dem Resultat etwas ratlos gegenüber. Eine leitende Fragestellung, eine übergreifende Hypothese oder ein anderer roter Faden jenseits des Referenzrahmens Schweden sind auch nach eingehender Lektüre nicht erkennbar. Es obliegt also den Leserinnen und Lesern, eigene Fragen an das hier aufbereitete Material heranzutragen. Neben einer Erklärung des Vorgehens und einer stärkeren Kontextualisierung der Erkenntnisse, gerade im europäischen Vergleich, wäre dem Buch im Detail auch eine gründlichere Redaktion zu wünschen gewesen. Es finden sich wiederholt Fehler bei der Zeichensetzung oder bei Kursivierungen sowie Schreibfehler bei Fachtermini (so auf 79, 103, 119, 149, 153, 165, 181, 222). Auch die Abkürzungen sind nicht konsequent vereinheitlicht, was nicht einschlägig Orientierten etwa bei der Identifikation von Äldre Västgötalag (Abkürzungen ÄVgL oder VgL I) und Yngre Västgötalag (YVgL oder VgL II) Schwierigkeiten bereitet.
Diese kritischen Anmerkungen schmälern nicht Dieter Strauchs Verdienst um die Erschließung weiterer Bereiche der skandinavischen Rechtsgeschichte über seine Quellenkunde hinaus. Es ist begrüßenswert, dass die Beschäftigung mit dem skandinavischen Recht, die in der deutschsprachigen Rechtsgeschichte kaum mehr stattfindet, hierdurch einen Impuls erhält, der hoffentlich über die Fachgrenze hinaus in die gesamte Mediävistik wirkt. Strauchs Arbeit bildet dabei eine Parallele zu Initiativen in der anglophonen Forschung, etwa zur großangelegten Neuübersetzung der skandinavischen Landschaftsrechte oder dem „Lexicon of Medieval Nordic Law“,[6] die bei Strauch noch nicht berücksichtigt sind und die Interessierte daher ebenfalls konsultieren sollten.
© 2024 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
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