Rezensierte Publikation:
Barbara Sjoholm From Lapland to Sápmi. Collecting and Returning Sámi Craft and Culture. Minneapolis/London: University of Minnesota Press, 2023. 345 S.
From Lapland to Sápmi ist eine bemerkenswerte Kulturgeschichte. Sie erzählt von materiellen Objekten aus Sápmi, der geographischen wie ideell-kulturellen Heimat der Sámi in Nordeuropa, welche seit der frühen Neuzeit erforscht, jedoch oftmals ihren ursprünglichen Kontexten und Besitzer:innen entwendet wurden und im Folgenden in wissenschaftliche Sammlungen und öffentliche Museen in Skandinavien und Kontinentaleuropa gelangten – und sie erzählt von den Bestrebungen, diese Objekte zu dokumentieren und an Museen, die in den letzten Jahrzehnten in Sápmi selbst entstanden sind, zurückzugeben und sie damit geographisch, kulturell und politisch zu rekontextualisieren. Das Buch, das einen Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren vom späten 17. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart behandelt, ist nicht nur sehr informativ, es ist auch ein wichtiger Beitrag zur Geschichte samischer Kunst und Kultur, welche insbesondere den kontinentalen Blick auf die indigene Bevölkerung Norwegens, Schwedens, Finnlands und Nordwestrusslands im Laufe der Zeit kritisch spiegelt. Nicht zuletzt wird hier auch eine Geschichte europäischer Projektionen und Imaginationen, von ‚Exotismus‘, Kolonialismus und Dekolonialisierung erzählt – und von Identität(en). Damit schliesst Sjoholms Buch an die internationale juristisch-politische Debatte um die Rückgabe von Kulturgütern im Allgemeinen, insbesondere aber an indigene Bevölkerungsgruppen an, welche europäische und nordamerikanische Museen schon seit geraumer Zeit beschäftigt (Stichwort ‚repatriation‘).
Barbara Sjoholm (geb. 1950), US-Amerikanerin mit skandinavischen Wurzeln, ist bisher als Autorin vor allem von Essays, Memoiren und Reiseliteratur sowie als Übersetzerin aus dem Dänischen und Norwegischen, u. a. von Werken von Cora Sandel, Ebba Haslund und Helene Uri hervorgetreten. Ihr Reiseroman The Palace of the Snow Queen: Winter Travels in Lapland (2007, 2. Aufl. 2023) ist ihr erstes Buch über samische Kultur, Landschaft und Geschichte. Seit bereits mehr als zwanzig Jahren beschäftigt sich Sjoholm intensiv mit Nordskandinavien und der Kultur der Sámi, etwa in ihrer Biographie über die dänische Ethonologin und Künstlerin Emilie Demant Hatt (1873–1958), die selbst viele Jahre bei schwedischen Sámi zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbrachte: Ihre Aufzeichnungen Med Lapperne i højfjeldet (1913) übersetzte Sjoholm 2013 unter dem Titel With the Lapps in the High Mountains. A Woman among the Sami, 1907–1908 ins Englische, ebenso Demant Hatts Sammlung samischer Volkserzählungen und -märchen: By the Fire. Sami Folktales and Legends (2019; Original: Ved Ilden. Eventyr og Historier fra Lapland, 1922). Zwei Jahre zuvor, 2017, erschien zudem Sjoholms Biographie über die bemerkenswerte Dänin unter dem Titel Black Fox, gefolgt von zwei von Hatts abwechslungsreichem Leben inspirierten Romanen, Fossil Island und The Former World.
From Lapland to Sápmi ist mehr als eine Kultur-, Objekt- und Museumsgeschichte, es ist eine detailreiche Erzählung mit einem tiefen Interesse an Kultur, Religion, Geschichte und Identität dieser einzigen indigenen Bevölkerung Europas anhand ihrer Artefakte – und an den Narrativen, die über die Sámi anhand der Sammlungen ihrer Objekte selbst entstanden sind:
“Here I hope to look not only at the significance of unique objects as they were transported from Sámi communities to private homes and museums but also at how Sámi collections were positioned and repositioned in museums. I want to focus attention on who collected and why, to examine stories of punishment, avarice, curiosity, and appropriation. I want to explore the rationales that led collectors to view the Sámi as Other, while at the same time interacting with individual Sámi people as colleagues, collaborators, and sometimes personal friends.” (xvii).
Ausgehend von den ersten Forschungsreisen in die terra incognita des skandinavischen Nordens und ihren Darstellungen auf der Carta marina (1539) des Olaus Magnus, besonders jedoch in Johannes Schefferus’ Lapponia (1673), dem frühesten wissenschaftlichen Werk über Sápmi und die Sámi, widmet sich der erste Teil von Sjoholms Buch, ‚Northern Curiosities‘, dem Erforschen und Sammeln im äussersten Norden, das jedoch auch einherging mit der Christianisierung und Kolonialisierung im eigenen Land, insbesondere der Königreiche Norwegen-Dänemark und Schweden. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts sammelten Gelehrte wie Schefferus, Olof Rudbeck, Ole Worm und später Carl von Linné auf ihren Forschungsreisen samische Objekte verschiedenster Art – Alltagsgegenstände wie Löffel, Ski, Zaumzeug für Rentiere, aber auch Waffen und anderes. Begehrt waren insbesondere die berühmten heiligen Trommeln, die bis in die 1740er Jahre Symbol des samischen Widerstands gegen die schwedischen und dänisch-norwegischen Autoritäten waren. Das stark negativ geprägte Bild der ‚heidnischen‘ Sámi als ‚bösartig‘ und ‚zauberkundig‘ dominierte dabei oftmals diese frühen Vorstellungen. Viele der gesammelten Objekte gelangten als Schenkungen oder Nachlässe in Kunst- und Wunderkammern europäischer Fürstenhöfe, zahlreiche fanden ihren Weg bereits im 17. und 18. Jahrhundert in wissenschaftliche Sammlungen (etwa der Royal Society in London). Galt bereits das frühneuzeitliche Interesse nicht nur der Kultur der Sámi, sondern insbesondere auch der wirtschaftlichen Nutzung ihres Landes, setzte sich dieses ambivalente Interesse im 19. Jahrhundert fort: Von William Bullocks Exhibition of Laplanders (1822) in London war es nicht weit zu den zahlreichen ‚Tableau-Ausstellungen‘ lebender Sámi, ihrer Alltagsobjekte und Rentiere in europäischen Zoologischen Gärten im 19. Jahrhundert (etwa Hagenbeck in Hamburg), die sich grosser Beliebtheit erfreuten. Sie spiegelten zugleich das ethnographisch-ökonomische Interesse der Kolonialnationen an allen möglichen ‚exotischen‘ Exponaten wider. Das dem Publikum so vermittelte romantisierte Bild von Sámi in traditionellen Trachten entsprach jedoch nicht der Realität in Skandinavien selbst. Sjoholm hält fest:
“The collecting of objects, along with the collecting of folklore and myths, would take place against a backdrop of continued colonization of Sámi lands and resources, intensified state persecution, coerced education, language loss, and cultural appropriation and erasure.” (69)
Im ausführlichen zweiten Teil, ‚Collecting‘, geht es um die aufschlussreiche Geschichte der Entstehung ethnographischer Sammlungen in skandinavischen Museen seit dem 19. Jahrhundert. Er beginnt mit den Dokumentationen und Forschungen des norwegischen Sprachwissenschaftlers und Theologen J.A. Friis und seiner samischen Informanden Anders Bær und Lars Hætta im Oslo der 1870er und 1880er Jahre. Erste literarische Darstellungen mit samischen Protagonisten wie etwa die berühmt gewordene Erzählung Laila (1881/1890) stammen ebenfalls von Friis. Ebenso zur Sprache kommen die anthropologisch-anatomischen Untersuchungen von Gustaf und Lotten von Düben in den späten 1860er Jahren und inwiefern das Interesse an den Sámi insbesondere die Anfänge der Museumskultur in Schweden und Norwegen prägte. Die etwa von Artur Hazelius selbst oder in seinem Auftrag gesammelten zahlreichen Objekte samischer Alltagskultur und insbesondere auch ihrer religiösen Zeremonien wurden zum Kern der Sammlung des 1873 von Hazelius gegründeten Nordischen Museums in Stockholm, ähnlich wie das ‚samische Zelt‘ im ebenfalls von ihm errichteten Stockholmer Freilichtmuseum Skansen. Die von England ausgehende ‚Arts and Crafts‘-Bewegung, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts besonders in Schweden verbreitete (Stichwort hemslöjd) spielt hierbei zusätzlich eine Rolle, ebenso die Entstehung erster Sammlungen und kleiner Museen in Nordschweden selbst (Jokkmokk, Arjeplog, Umeå usw.). Bis heute erhaltene phonographische Aufnahmen samischer Sprache und Joiks aus dem frühen 20. Jahrhundert (etwa vom schwedischen Musikologen Karl Tirén) sind wertvolle Dokumente. Aufkommender Tourismus von Besuchern aus Europa wie Nordamerika und die beginnende Industrialisierung in Nordskandinavien wie auch die Sehnsucht nach einer der letzten ‚wilden‘ Landschaften Europas kommen ebenfalls zur Sprache wie die damit zusammenhängenden negativen Seiten eines ‚Ausverkaufs‘ der samischen Kultur.
Diskutiert wird auch die komplexe Rolle der Sámi selbst als einerseits Künstler:innen und andererseits ‚Objekte‘ ethnographischer Studien. Ende des 19. Jahrhunderts gab es zunehmend Bestrebungen, die samische Kultur, die primär als vom Aussterben bedrohte Nomadenkultur romantisch verklärt wurde, anhand der gesammelten Objekte zu dokumentieren und so zu einer Erinnerungskultur zu machen. Sjoholm kontextualisiert diese Ambivalenz auch mit den Anfängen eines politischen Aktivismus unter den Sámi selbst: der Gründung der weltweit ersten Zeitung eines indigenen Volkes (Samefolkets egen tidning) im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, der Einrichtung der Samischen Volkshochschule 1942 und der politisch-kulturellen Organisation ab 1945 (Same Ätnam).
‚Two Directions‘, der abschliessende dritte Teil von Sjoholms Buch, zeigt die seit den 1960er und 70er Jahren zunehmend stärkeren und mit der Forderung nach einer grösseren kulturellen und rechtlichen Gleichstellung verknüpften Bestrebungen insbesondere der schwedischen Sámi, ein zentrales samisches Museum in Sápmi selbst zu gründen bzw. das bereits seit 1966 bestehende Museum in Jokkmokk auszubauen. Seit den späten 1980er Jahren wurden Bestände mit samischen Objekten oder Dokumentationen über Sámi aus anderen schwedischen Museen hierhin überführt oder als Dauerleihgaben eingeworben. Zunehmend werden somit Fragen nach kulturellem Erbe, Geschichte(n) und nach Identität aufgeworfen und öffentlich diskutiert. Damit einher geht auch die Gründung von Organisationen wie die Truth and Reconciliation Commissions (TRC) in Norwegen, Schweden und Finnland. Wie Sjoholm zeigt, beeinflusst die Aufarbeitung der Geschichte des Umgangs skandinavischer Länder mit den Sámi und deren zunehmende politisch-historisch-kulturelle Rehabilitierung auch Projekte zur Rückgabe samischer Kunst an neugegründete Museen in Nordnorwegen (z. B. das ‚Bååstede‘-Projekt), aber es gibt auch problematische Aspekte wie die zunehmende wirtschaftlich-industrielle Vereinnahmung der Finnmark.
Objekte samischer Herkunft (gesammelt von Ethnographen, Anthropologen, und Touristen, vor allem im 19. und 20. Jahrhundert) befinden sich heute teilweise immer noch in verschiedensten Museen in Europa, der Rückgabeprozess ist noch nicht abgeschlossen. Wie sehr Kunst und Identität verwoben sind, zeigt sich darin, dass die Weitergabe der künstlerischen Fertigkeiten, insbesondere der für Material und Techniken verwendeten samischen Fachbegriffe nicht zuletzt auch das Weiterleben der samischen Sprachen bedeutet. ‚Repatriation‘ ist darum mehr als die blosse Rückgabe materieller Objekte an die Orte ihres Ursprungs und ihrer Verwendung: Es bedeutet
“returning knowledge, so that the knowledge connected to the artefacts is retrieved to the community. … [It] aims to transfer control of the cultural heritage to the source community. … These belongings carry the knowledge of the ancestors, they are the database, the language that opens to the descendants and they carry and evoke emotions at both a private and collective level.” (283–284)
Das moderne samische Kunsthandwerk, das unter dem Begriff dáidda bekannt ist, verknüpft darum Erzählen, Sprache, Geschichte und Kunst und drückt damit das ganzheitliche Identitätsverständnis samischer Künstler:innen aus. Die von Sjoholm abschliessend gestellten Überlegungen, „How Sápmi can be recollected and reimagined by the Sámi themselves“ (287) erscheint darum zentral. Sie resümiert: „These objects to be marveled at are still being created, just like Sápmi itself.“ (293) Sjoholm diskutiert, ohne selbst zu werten oder eine bestimmte politische Position einzunehmen, verschiedene historische und gegenwärtige Haltungen und Zugänge zu samischen Kulturobjekten und zeigt die sich wandelnden Formen von deren Präsentation und damit des Dialogs von Museen mit der Öffentlichkeit auf.
Sehr interessantes Bildmaterial, ein Register, Quellennachweise und ein Literaturverzeichnis runden das Buch ab. Sjoholm ist zwar keine professionelle Kulturhistorikerin oder Ethnologin, und manche Passagen mögen literaturwissenschaftlich oder historisch ausgebildeten Leser:innen stellenweise vielleicht etwas oberflächlich erscheinen. Doch ihre Darstellung beruht auf sorgfältigen und langjährigen Recherchen vor Ort und mit Fachpersonen und bringt viele interessante Dokumente, insbesondere über die museale ‚Vereinnahmung‘ und ‚Vermarktung‘ der Sámi-Objekte im skandinavischen, deutschen, englischen und französischen Kulturraum im 19. Jahrhundert. Ihr Buch ist ein wichtiger Beitrag zum in Skandinavien immer noch komplexen Kapitel der Aufarbeitung des eigenen Umgangs mit samischer Kultur, Geschichte und mit den Sámi selbst – und darüber hinaus auch zur internationalen aktuellen Debatte um die Aufgaben von Museen und Sammlungen wie auch Öffentlichkeit in Bezug auf die eigene Haltung zu Kulturgütern mit kolonialer Vergangenheit.
© 2024 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
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