Einleitung
Und lerne ich eine Sprache neu kennen,
dann lehrt mich die Sprache, mich neu zu kennen.
Das macht die Sprache – die Macht der Sprache.
Und glaube ich, ich beherrsche meine Sprache,
beherrscht womöglich meine Sprache mich.
Das macht die Sprache – die Macht der Sprache.
[…]
Und wenn ich meine Sprache verkommen lasse,
dann lässt am Ende meine Sprache mich verkommen.
Das macht die Sprache auch – die Macht der Sprache.
Und liebe ich meine Sprache,
dann liebt ganz sicherlich die Sprache mich.
Das macht die Sprache – die Macht der Sprache.
Und wenn ich denke, ich spreche jetzt hier – in diesem Text – über die Sprache,
dann spricht die Sprache eigentlich viel mehr noch über mich.
Das macht die Sprache – ich kenn die doch!
(Bas[tian] Böttcher) [1]
1 Vorüberlegungen: Sprache – interdisziplinär und theologisch
Sprache ist ein vielfältiges und komplexes Phänomen. Sie organisiert den Alltag (Alltagssprache), ist sowohl Gegenstand als auch Medium wissenschaftlichen, aber auch gesellschaftlichen Diskurses und prägt sich dort in je besonderer Weise aus (Wissenschaftssprache; formalisierte Sprache; gendergerechte Sprache), findet sich als gesprochene (Wort) und geschriebene (Text) Sprache, unterliegt historischen Wandlungen und lokalen Ausprägungen. Sie prägt Selbst- und Weltverhältnis des Einzelnen und formiert soziale Gemeinschaften. Für das Selbstverständnis des Menschen ist Sprache zentral. Um es in den Worten von Wilhelm von Humboldt zu sagen: »Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.« [2]
Das Wissen über und das Wissen um Sprache findet sich daher in sehr unterschiedlichen Disziplinen. Biologie, Neurowissenschaften und Linguistik fragen nach der Entstehung und Entwicklung von Sprache (Sprache als evolutionäres Phänomen). Literaturwissenschaften, historische Disziplinen, Soziologie und Kulturwissenschaften erkunden kulturelle Dimensionen des Phänomens Sprache (Sprache als kulturelles Phänomen). Religionswissenschaften und Theologien evaluieren die sprachlichen Formen und Praktiken unterschiedlicher Religionen (Sprache als religiöse Praxis). Doch auch wenn das Phänomen Sprache in vielen Disziplinen verhandelt wird, ist das Wissen über Sprache nicht auf unterschiedliche Disziplinen aufteilbar. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Sprache ist auf Interdisziplinarität angewiesen.
Diese Einsicht aufgreifend spürt das vorliegende Jahrbuch dem Phänomen Sprache im Ausgang von theologischen Fragestellungen nach. Es geht davon aus, dass Religionen sprachlich konstituiert sind und sich in sprachlichen Praktiken formatieren. So sind rituelle Praktiken oftmals kommunikative Praktiken (z. B. Gebet, Orakel, Beichte) oder mit Sprachhandlungen verbunden. Gotteskonzepte werden in sogenannten Heiligen Texten versprachlicht (Schriftsprache, Übersetzungen). Auch der Umgang mit den sogenannten Heiligen Texten ist sprachlich strukturiert (schriftliche Auslegungstraditionen) und wird sprachlich inszeniert (z. B. Gebet, Liturgie und Predigt). Dass Religion auf den Gebrauch von Sprache angewiesen ist und sich sprachlich vollzieht, gilt sowohl für deren individuelle wie soziale Dimension. Auch das Handeln transzendenter Größen wie Götter wird in vielen Religionen oft als Handeln in und mit Sprache konzeptualisiert (z. B. schöpferisches oder zerstörerisches Handeln; Fluch oder Segen; Berufungen). Die Rede vom Wort Gottes dient der Beschreibung, Autorisierung und Sakralisierung sogenannter Heiliger Texte.
Insbesondere das Christentum hat die konstitutive Verbindung von Religion und Sprache in sein Selbstverständnis integriert. Es versteht sich als Religion des Wortes, da es den Erlöser selbst mit der Kategorie des Wortes beschreibt (Joh 1,1: »Im Anfang war das Wort«) und damit auf den Sprechakt Gottes bei der Schöpfung der Welt rekurriert (Gen 1,3). Das Christentum ist aus der Kommunikation über dieses Sprachhandeln Gottes entstanden und erneuert sich immer wieder aus sprachlicher Kommunikation. Ein verstummendes Christentum käme an sein Ende. Der Protestantismus hat im Anschluss an Martin Luther derjenigen Glaubenskommunikation, die sich in gesprochener Sprache vollzieht, eine fundamentale und zentrale Stellung zugewiesen. Er kennt aber, wie andere Konfessionen und Religionen, zugleich weitere Formen sprachlicher Religionskommunikation – die Sprache der Gesten, der Blicke, der Rituale, der diakonischen Praktiken etc. Bei diesen Beobachtungen nimmt das vorliegende Jahrbuch seinen Ausgang.
2 Die Beiträge: Sprache macht Religion – Religion macht Sprache
Aus den schier unübersichtlichen interdisziplinären wie auch innertheologischen Möglichkeiten, sich über Sprache zu verständigen, sind einige ausgewählt und vier thematischen Einheiten zugeordnet worden. Diese Themeneinheiten sind nicht willkürlich oder additiv zu lesen, sondern dienen der Entfaltung zweier Perspektiven: Erstens wird die oben skizzierte Überlegung aufgegriffen, dass Sprache und Religion aufs Engste miteinander verknüpft sind. Religion ist ein sprachliches Phänomen. Sprache kann religiös sein. Zweitens greifen wir die Beobachtung auf, dass Sprache und Macht korrelieren. Sprache »macht« etwas und Sprache hat Macht. »Das macht die Sprache – Die Macht der Sprache« – auf diese eindrucksvolle Formel hat Bas Böttcher diesen Sachverhalt gebracht und in einem Poetry Slam performativ zur Darstellung gebracht (unbedingt ansehen!). [3] Sprache ist wirksam. Das gilt auch für das Gebiet der Religion. Sprache macht Religion, Religion macht Sprache. Sprache hat Macht – in der Religion und über die Religion. Religion hat Macht – in der Sprache, durch Sprache, über Sprache. In dieses thematische Geflecht sind die Beiträge eingewoben.
Das erste Kapitel nimmt die Eröffnung des Johannesprologs im Titel als Frage auf: »Im Anfang war das Wort« – mit dieser Formulierung wird aus religiöser Sicht die schöpferische und wirklichkeitskonstitutive Macht des Wortes und der Sprache konstatiert, zugleich aber dem Geistig-Sprachlichen ein Vorrang gegenüber dem Materiellen eingeräumt. Während der Beitrag von Michael Moxter die Implikationen des johanneischen Gedankens in philosophischer und theologischer Perspektive diskutiert, zeichnet Hans Peter Hahn mit dem Verweis auf den semantischen Eigensinn der Dinge eine kritische Linie ein. Dies begründet das Fragezeichen hinter dem Zitat aus dem Johannesprolog.
Michael Moxters (Hamburg) Überlegungen fragen explizit nach der wirklichkeitskonstitutiven Bedeutung und Funktion von Sprache. In dezidierter Abgrenzung von Sprechakttheorien und im Dialog mit sprachtheologischen und sprachphilosophischen Überlegungen von Martin Luther, Johann Gottfried Herder, Georg Hamann, Friedrich Schleiermacher, Wolfhart Pannenberg, Niklas Luhmann und Jürgen Habermas stellt er dar, wie sich eine evangelische »Theologie des Wortes« aus dem Phänomen der Sprache heraus verständlich machen lässt. »Sprache ist nicht nur ein Thema der Theologie unter anderen, sondern Medium ihrer Gegenstände und Leitfaden ihrer Fragestellungen.« Damit lotet er aus, wie die Sprache des Menschen zum Ort der Gotteserfahrung wird (Sprachlichkeit des Menschen).
Während Moxter aus theologischer Perspektive den Zusammenhang von Wort und Sprache evaluiert, weist Hans Peter Hahn (Frankfurt a. M.) aus kulturanthropologischer Perspektive die Rede von einer Sprache der Dinge strikt zurück, stellen doch die darin indizierten »Homologien zwischen dem Denken, der Sprache und Objekten eine problematische Vereinfachung« dar. Die Überlegungen von Hahn lassen sich als ein flankierender und kritischer Diskursbeitrag zu einer (zu?) einseitig am geistigen Wort orientierten Theologie lesen. Dass eine solch einseitige Orientierung Wahrnehmungsausfälle zu produzieren vermag, wurde zuletzt innerhalb der Theologie, besonders in der Praktischen Theologie, immer wieder betont und darauf verwiesen, dass die religiöse Praxis von Menschen nicht nur als sprachliche Kommunikation zu beschreiben ist. Es gibt auch andere Formen der Bedeutungsübermittlung. »Materielle Dinge haben«, so Hahn, »in semiotischer Hinsicht einen eigenen Modus«. Damit markiert dieser Beitrag eine epistemische Grenze des vorliegenden Jahrbuchs – von einer »Sprache der Dinge« kann nicht geredet werden.
Von der schöpferischen Macht der Sprache ausgehend, fokussiert das zweite Kapitel die Frage, wie und ob die Sprache den Menschen zum Menschen macht. Der Titel greift das Diktum von Johann Gottfried Herder auf, dass nur die Sprache den Menschen menschlich gemacht habe. [4] Auch dieses Diktum wird mit einem Fragezeichen versehen, denn so einleuchtend es intuitiv ist, wirft es doch zugleich erhebliche Fragen auf: Wie erwirbt der Mensch Sprache? Wie wird der Mensch sprachfähig, gerade auch religiös sprachfähig? Und was passiert, wenn der Mensch verstummt, wenn der Sprache die Worte verlustig gehen, wenn das Reden an ein Ende kommt? Solchen Fragen widmen sich die Beiträge des zweiten Kapitels.
Gesa Schaadt (Berlin) stellt eröffnend diejenigen, vor allem neurokognitiven Faktoren vor, die die Entwicklung von Sprache beeinflussen und führt in die Methoden zur Untersuchung von Sprachverarbeitung, vor allem in der frühkindlichen Entwicklung, ein. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, so stellt sie prägnant heraus, insbesondere die Bedeutung sozialer Interaktion für die kindliche Sprachentwicklung, die in die Phasen der Sprachproduktion und der Sprachverarbeitung unterschieden werden. Sprache ist ein soziales Phänomen. Daher lasse sich die zunehmende Kenntnis der neurokognitiven Grundlagen und der Komplexität von Sprachfähigkeit produktiv nutzen, um »Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung von Sprachentwicklungsschwierigkeiten abzuleiten«.
Daniel Weidner (Halle) stellt in seinem Beitrag implizit die Frage nach dem Ursprung religiöser Sprachfähigkeit. Dazu nimmt er die – im freudschen Sinne – »Urszene« christlichen Sprechens – Pfingsten – in den Blick. »In den Blick nehmen« ist hier durchaus wörtlich gemeint. Der im Stil eines Essays verfasste Beitrag stellt literaturwissenschaftliche Überlegungen zur Struktur der Pfingsterzählung in enge Korrespondenz mit bildlichen Darstellungen der Pfingstszene, wie sie sich zum Beispiel im Reichenauer Perikopenbuch, bei Giotto, im Rabula Codex etc. finden. Das Pfingstereignis sei, so Weidner, die Ermöglichung eines »neuen Sprechens«. Die Sprachfähigkeit der wachsenden christlichen Gemeinde verdankt sich der geistgewirkten Fähigkeit zum Übersetzen, denn die erste Predigt, gehalten von Petrus, ist eine Rede, »die Prophetie übersetzt, die selbst schon eine Art von Übertragung ist, die Übertragung der göttlichen Rede in die Sprache der Menschen«. Genau darin werden die »Paradoxien des Sprachensprechens« erkennbar. Die religiöse Sprachfähigkeit des Menschen ist und bleibt ein paradoxes Phänomen. Alle Vereindeutigungsbemühungen, auch seitens der Theologie, führen zu stets neuen Aporien.
Der neutestamentliche Beitrag von Ursula Ulrike Kaiser (Braunschweig) folgt der auch bei Weidner angedeuteten Spur, dass der christliche Glaube immer auch als Ermächtigung zu einer »neuen Sprache« (Luther: lingua nova) zu begreifen ist, deren vornehmliches Medium die metaphorische Rede ist. Kaiser zeigt, wie die Metapher des »Geboren-« bzw. »Gezeugt-Werdens« in unterschiedlichen neutestamentlichen Texten dazu dient, eben dieses kreative und dynamische Potential des Christusglaubens auszudrücken. Die »kreative[ ] Lebendigkeit metaphorischer Sprache« kann daher nicht hinreichend erfasst werden, wenn solche Metaphern zur Katachrese, das heißt religiös sprachbildend, kurz: zu Floskeln werden. Das zeigt sich bei der in die religiöse Alltagssprache eingewanderten Rede von der »Wiedergeburt«. Diese droht den ursprünglichen Sinngehalt der Rede vom »Geboren-« oder »Gezeugt-Werden« zu domestizieren, anstatt lebendig zu halten.
Andreas Wagner (Bern) analysiert die Sprachauffassung alttestamentlicher Texte, indem er einerseits die Texte auf mögliche Bezüge zum Thema Sprache befragt, also zum Beispiel Texte, die das Sprechen Gottes thematisieren (wie die Schöpfungserzählungen) und entsprechende hebräische Leitwörter evaluiert. Andererseits blickt er auf solche Texte, die vom Verstummen der Sprache, vom Schweigen sprechen, und erkennt darin eine eigene »Art und Weise der Kommunikation«. Damit widerspricht er aus alttestamentlicher Sicht der Annahme, »dass Sprache /Sprachfähigkeit /Sprachlichkeit und ›Menschsein‹ zusammenfallen«. Menschsein höre, so Wagner, »auch nach dem Wegfall der Sprache nicht« auf. Dieser kritische Einwand motiviert das Fragezeichen in der Kapitelüberschrift.
Das dritte Kapitel firmiert unter der Überschrift »Sprache macht Religion – Die Sprachlichkeit religiöser Praktiken«. Leitend ist die Wahrnehmung, dass sich der Zusammenhang von Sprache und Religion am deutlichsten in bestimmten religiösen Praktiken rekonstruieren lässt. Daher finden sich hier Artikel zur Praxis des Übersetzens biblischer Texte, zur Liturgie, zum Gebet und zur Praxis der Glossolalie, wie sie sich vor allem in den Pfingstkirchen findet.
Der eröffnende Beitrag von Christian Lehnert (Leipzig) lenkt freilich zuerst den Blick auf das niemals in Gänze ausleuchtbare Zusammenspiel von Sprache und Religion. Weisen die Beiträge von Moxter und auch von Weidner auf die sprachproduktive Kraft religiöser Ergriffenheit hin, so geht Lehnert an die Grenzen der Sprache, dorthin, wo das Nichtdarstellbare, das auf Dauer Rätselhafte und Mystische, das Poetische seine Wohnstatt hat und um Artikulation ringt. Als gleichgesinnte Weggefährten bei diesem Grenzgang erweisen sich Ludwig Wittgenstein, Jakob Böhme, Ossip Mandelstamm, aber auch ein alter Greis, alle verbunden in einem gleichsam suchenden Sprechen. In eben dieser Suchbewegung berühren sich Poesie und Religion. Lehnert zitiert die dänische Lyrikerin Inger Christensen: Die »geheimnisvolle Gefolgschaft zwischen Sprache und Wirklichkeit ist die Erkenntnisweise der Poesie.« Und genau hier liegt die schöpferische Kraft auch des religiösen Sprechens. Der Beitrag des Leipziger Lyrikers gleicht selbst einem suchenden Sprechen, ist im Stil eines Essays gehalten und folgt daher eigenen formalen Vorgaben. Der Beitrag steht in Korrespondenz zu dem Artikel von Daniel Weidner.
Friedemann Stengel (Halle) widmet sich aus erinnerungsstrategisch gegebenem Anlass der religiösen Praxis des Übersetzens heiliger und normativer Texte. Vor genau 500 Jahren, 1522, brachte Martin Luther das »Newe Testament Deutzsch« heraus. Übersetzungen, genauer: Dolmetschungen, sind sprachliche Handlungen eigener Art. Sie dienen einerseits der Popularisierung von Texten, wobei Popularisierung hier im Sinne von volkssprachlicher Verständlichkeit und damit als erhöhte Rezeptionsfähigkeit verstanden wird. Andererseits fördern Übersetzungen zugleich Polyvalenzen zu Tage, legen die Mehrdeutigkeit und Offenheit von Texten frei und schaffen aufgrund der »Vielfalt der Lektüren und Deutungen« Heterogenität, was Stengel im Verweis auf die Pluralisierung reformatorischer Bewegungen nachzeichnet. Luthers Übersetzung erweist sich exemplarisch als ein »in politische, militärische und insgesamt kulturelle Dimensionen eingebundenes Ereignis«, das geeignet ist, die Macht der religiös-sprachlichen Praxis des Übersetzens zu zeigen.
Benedikt Kranemann (Erfurt) analysiert aus römisch-katholischer Perspektive die Herausforderungen, vor denen unter den Bedingungen einer säkularen Gegenwart die Sprache der Liturgie steht. Zu diesem Zweck zeichnet er zunächst exemplarische Stationen des Diskurses um die Sprache der Liturgie nach – von der katholischen Aufklärung, über das 19. Jahrhundert, die Liturgische Bewegung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und dessen Nachwirkungen in gegenwärtige Stellungnahmen hinein. Erkennbar ist: Dieser Diskurs ist ein Diskurs um das Verhältnis der Liturgie zur gesellschaftlichen Moderne. Aus den historischen Perspektiven leitet Kranemann ausgewählte systematische Aspekte ab, die diesen Diskurs gegenwärtig bestimmen. Dabei werden vor allem die Ambivalenzen liturgischer Sprache erkennbar – eingespannt zwischen Sakralisierung und Profanierung, zwischen Ursprünglichkeit und Übersetzung bzw. zwischen Tradition und sprachlicher Innovation, zwischen Kirche und Individuum und zwischen intendierter Hermetik und Verständlichkeit. Gerade Letzteres verweist auf die Machtaffinität liturgischer Sprache, denn sie kann »in Richtung Unterordnung, Gehorsam oder Integration in eine umfassende Ordnung wirken«.
Der Praxis des Gebets widmet sich der Beitrag des Neutestamentlers Karl-Heinrich Ostmeyer (Dortmund). Im Dialog mit unterschiedlichen Texten aus beiden Testamenten (u. a. Lk 18,10–14; Ps 1; Dtn 6,4–9 sowie dem Vaterunser Mt 6,9– 13 /Lk 11,2–4) zeichnet Ostmeyer Konturen einer innerbiblischen Theologie des Gebets als einer menschlichen Sprachhandlung nach, die theologisch zwischen Erhörung und Erfüllung durch Gott oszilliert und zugleich auf die Konstituierung der betenden Person als einem Kind Gottes zielt. Das zeige sich, wenn man den Akt des Betens in drei Konstanten unterscheide: die angebetete Instanz, die betende Person sowie das eigentliche Gebet. Denn eben im Zusammenspiel dieser drei Größen erweist sich das Gebet – das lege die Auslegung der biblischen Texte nahe – als ein Sprachereignis, in dem es weniger um die Einwirkung auf Gott als um die Transformation der betenden Person gehe.
In dem Beitrag von Jörg Haustein (Cambridge) wird die Frage nach der sprachlichen Signifikanz und der religiösen Bedeutung der Glossolalie diskutiert, die auch bei Daniel Weidner aufgerufen wird. Hatte Weidner im Rahmen seiner literarischen Auslegung des Pfingstereignisses knapp auf die bleibende Aktualität der Pfingstkirchen verwiesen und die Kontinuitäten wie Diskontunitäten erwähnt (bei den ersten Christ:innen [5] war keine Übersetzung notwendig, heute schon), so wird das Phänomen nun einer eigenständigen und differenzierten Betrachtung unterzogen. Die glossolalische Praxis als eine religiöse Sprachpraxis der Moderne wird von Haustein in der Geschichte der Erweckungsbewegungen des späten 18. und 19. Jahrhunderts sowie der Pfingstbewegung am Beginn des 20. Jahrhunderts (Azusa Street), der Heiligungsbewegung und in den Glaubensmissionen kontextualisiert, wobei sich zeigt, dass diese Praxis stets von Konflikten um ihre Deutung als Erweis der Geisttaufe begleitet war. Ob und inwiefern die Zungenrede ein »rituelles Eschaton« darstelle, also »vom übrigen Heilsgeschehen im ordo salutis eines Christen zu unterscheiden« sei, erweist sich in theologischer Perspektive als eine der entscheidenden Fragen, weil über diese Frage der Zusammenhang von religiöser Erfahrung und Sprachwerdung derselben zur Debatte steht. In linguistischer und sprachphilosophischer Hinsicht verweist Haustein darauf, dass Glossolalie »keine Semantik in linguistischer Form abbilden kann«. Sie sei »ein abgeleitetes sprachliches Phänomen«, für dessen Analyse sich Sprechakttheorien als hilfreich erweisen. Hier lässt sich die Darstellung Hausteins als (kritischer) Kommentar zu den sprachtheologischen Überlegungen Moxters lesen, der für eine kritische Einhegung der Erschließungskraft der Sprechakttheorien plädiert.
Das vierte Kapitel versammelt unter der Überschrift »Das macht die Sprache – Die Macht religiöser Sprache« drei Beiträge, die in unterschiedlicher Perspektivierung die Machtaffinität religiöser Sprache nachzeichnen: eine exegetische Analyse des Hebräerbriefs, die linguistische Analyse sprachlicher Konstruktion religiös begründeter Machtasymmetrien und eine diskursanalytische und korpuslinguistische Analyse des Wortfeldes Religion in kolonialen Kontexten.
Matthias Becker (Heidelberg) zeigt am Beispiel des Hebräerbriefs die sprachliche Konstruktion von Bedrohung, die dort der »argumentativen Begründung von Handlungsaufforderungen oder ethischen Verhaltensweisen« dient. Die sprachliche Besonderheit der Bedrohungskommunikation als Bedrohungskonstruktion liegt in dem »rhetorischen Schwebezustand«, in welchen sie situiert ist und welcher zwingend Deutungsmachtkonflikte heraufbeschwört. Anhand von sechs Sinndimensionen (sachlich, sozial, zeitlich, emotional, religiös, paränetisch) entfaltet Becker die Konstruktion eines Bedrohungsszenarios im Hebräerbrief und evaluiert die rhetorische Form der Machtausübung, die sich darin zeigt. Am Ende steht die – nach wie vor aktuelle Einsicht –, dass es in Zeiten und Situationen der Bedrohung zu »einer Steigerung der Pastoralmacht kommen« kann.
Die Reflexion über das Verhältnis von »Sprache und Macht im Bereich des Religiösen« führt notwendig in den Bereich des hochgradig Ambivalenten. Bei diesem Befund nehmen die Überlegungen zur »Artikulationskraft des Religiösen« von Anja Lobenstein-Reichmann (Göttingen) ihren Ausgang. Denn auf der einen Seite komme »religiöse Sinnstiftung und die Zivilisierung der Menschen hin zum Guten« in den Blick, auf der anderen Seite aber auch »die gewaltsame Durchsetzung der eigenen Religion bzw. eine nur noch rhetorische Indienstnahme religiösen Sprechens zur Legitimierung von Gewalt«. Um das damit skizzierte Spannungsfeld auszuleuchten, stellt sie zwei exemplarische Diskursfelder vor – einmal den Wortschatz des Frühneuhochdeutschen (anhand des Frühneuhochdeutschen Wörterbuchs), also eine Sprachwelt, die noch umfassend christlich geprägt war, und zum anderen den völkisch-nationalsozialistischen Sprachgebrauch, in dem sich politische Machtrhetorik als religiöse Rhetorik legitimiert. Die »Artikulationskraft religiösen Sprechens« wird zu Propagandazwecken missbraucht, die »emotionale Wirkung wird genutzt und perpetuiert, ohne tatsächlich noch Teil des christlichen Systems zu sein«. Für beide Cluster evaluiert Lobenstein-Reichmann sowohl die religiöse Denkweise, die den »Rahmen für machtvolles religiöses Sprechen schafft« als auch die Ermächtigungen und Entmächtigungen, die durch religiöses Sprechen konstituiert werden.
Ingo H. Warnke (Bremen) und Nicole M. Wilk (Paderborn) diskutieren einerseits den diskurslinguistischen Status des Nomens »Religion« und nehmen andererseits eine korpuspragmatische Analyse konkreter epistemischer Situiertheit dieses Nomens vor, und zwar am Beispiel der Digitalen Sammlung Deutscher Kolonialismus (DSDK). Die kolonialen Texte dieses Corpus sind für den Zusammenhang von Sprache, Religion und Macht von hohem Interesse, da sich in ihnen eine »befremdliche Gewissheit über die Richtigkeit der kolonialen Machtverhältnisse« sowie »das gesamte sprachliche Instrumentarium, das koloniale Macht in der Retrospektion offenlegt und in der Prospektion vermutlich befeuert hat«, zeigen. Das Christentum wird semantisch »als überlegene Größe im Missionierungsprozess« inszeniert, auch und gerade weil es »als eine geistig-kognitiv operierende Religion« anderen Religionen, die in Kulthandlungen, Riten oder Opferpraktiken kommunizieren, überlegen erscheint. Da der Beitrag Religion als eine epistemisch situierte Semantik zu beschreiben sucht, eröffnet er interessante Korrespondenzen zu den Beiträgen von Moxter und Hahn.
Der Band wird in einem fünften Kapitel abgerundet mit der Konzeption einer Religionslinguistik, die Andreas Liebert (Koblenz) entfaltet. Dabei legt er zugleich eine Heuristik für den Dialog zwischen Theologie und Linguistik vor. Im Gespräch mit Helmuth Plessners Konzeption der »exzentrischen Positionalität« und dem erfahrungsbezogenen Religionsverständnis bei Ulrich Barth entfaltet er unterschiedliche Funktionen von Religion als dem »produktive[n] Umgang mit religiösen Erfahrungen« (z. B. Funktion der Integration, des Ausdrucks, der Initiierung etc.). Diesen korreliert er mit einem sechsfach perspektivierten Sprachbegriff, nämlich den sprachlichen Strukturen, den sprachlich-kommunikativen Ereignissen, den sprachlichen und kommunikativen Praktiken und den Artefakten sowie fünftens Figuren und zuletzt der diskursiven Sprachlichkeit. Die drei Faktoren im Bestimmungsfeld von Religion und Sprache (Sprache, Funktionen, religiöse Erfahrung) werden zu einer Heuristik für dieses Feld verbunden, die in der Lage ist, den »Dialog zwischen Theologie und Linguistik« anzuregen und zu befördern.
3 Ausblick: Die verwandelnde Macht der Sprache
Am Beginn dieser Einleitung stand der Hinweis auf die Vielfältigkeit und Komplexität des Phänomens Sprache. Liest man die Beiträge im Horizont des Bandtitels »Sprache – Macht – Religion«, dann zeigt sich freilich noch ein Weiteres: Sprache ist ein hochgradig paradoxes Phänomen. Ihr schöpferisches Potential kann sich zum Guten wie zum Destruktiven wenden. Ihre identitätsstiftende Kraft kann Gemeinschaft schaffen, aber zugleich Exklusion und Hass befördern. Sprache artikuliert Erfahrungen. Erfahrungen können aber auch zum Verstummen, zum Verlust von Sprache führen. In der Sprache kann man das eigene Selbst sowohl entdecken wie verlieren. Im Blick auf das Verhältnis von Religion und Sprache zeigt sich das Sakralisierungs- und Profanierungspotential der Sprache, ihr Verwoben-Sein in Alltag und ihr Verweis auf Transzendenz. Einerseits legt Sprache fest, normiert und organisiert. Andererseits führt Sprache an die Grenzen des Sagbaren, öffnet Räume für Transzendenz und Sinnüberschuss, verwandelt. Beides also gilt: Sprache macht Religion, aber Religion macht auch Sprache.
Diesen grundlegenden Zusammenhang von Sprache und Religion, der sich immer wieder situativ konkretisiert (Warnke /Wilk), hat der Literaturwissenschaftler Johannes Anderegg bereits vor vielen Jahren auf die Unterscheidung von instrumentellem und medialem Sprachgebrauch zugespitzt und dabei Sprach- und Religionstheorie aufeinander bezogen. Der instrumentelle Sprachgebrauch ist für Anderegg der Sprachgebrauch des Alltags, dort nämlich, wo Dinge festgelegt werden auf das, was sie zu sein scheinen, wo Paradoxien aufgelöst und Klarheiten sprachlich eingefordert werden. Die Alltagssprache fungiert als »Instrument zur Bezeichnung oder zur Bezugnahme innerhalb einer problemlos vorhandenen, immer schon gegebenen Wirklichkeit«. [6] Sie bezieht sich auf einen Bereich, »der seine Ordnung hat und der in Ordnung ist«. [7] Deshalb ist ihr Gebrauch ein selbstverständlicher. Weil aber »Wirklichkeit« immer das Ergebnis eines Interpretationsvorganges ist, konstruieren die sprachlichen Zeichen die Welt, in der man sich vorfindet, als eine Welt, die schon immer so ist, wie sie bezeichnet wird. Die Ordnung, auf die man sich bezieht, wird als notwendig vorausgesetzt und nicht in Frage gestellt. Die instrumentelle Sprache bezeichnet Dinge und Sachverhalte so, wie sie sind. Sie nimmt das, worauf sie sich bezieht, als gegeben und unveränderbar hin.
Wer freilich über die vorhandenen Ordnungen hinaus Sinnräume und Deutungshorizonte zu eröffnen sucht, der ist auf einen anderen Sprachgebrauch angewiesen. Anderegg spricht hier vom »medialen« Sprachgebrauch – medial, weil die Sprache das Medium der Sinnbildung ist.
Der mediale Sprachgebrauch aktiviert unsere Fähigkeit zur Sinnbildung und unser Bedürfnis nach Sinnbildung. Anders als der instrumentelle konfrontiert er uns mit Noch-nicht-Begriffenem; er läßt uns also mehr und anderes wahrnehmen und begreifen als jenes schon Begriffene, auf das wir instrumentell Bezug nehmen. Der mediale Sprachgebrauch transzendiert jene Welten, läßt uns jene Welten transzendieren, deren wir uns instrumentell versichern. [8]
Mediale Sprache ist »Sprache in der Verwandlung, ist übergänglich«. [9] Während der instrumentelle Sprachgebrauch die Bedeutung der Sachverhalte zu bestimmen sucht und damit einen Zusammenhang voraussetzt, stellt der mediale Sprachgebrauch die Frage nach dem Sinn, stellt den Zusammenhang gerade in Frage und zielt so auf Verwandlung. »Wer die Sprache als Medium für die Sinnbildung versteht, vollzieht selbst einen Prozeß der Verwandlung«. [10]
In der Zusammenschau der Beiträge lässt sich also in aller Vorläufigkeit sagen: Sprache macht Religion, weil und wo sie Verwandlung schafft. Die Macht der Sprache ist, religiös gesehen, die Macht der Verwandlung. So wie es das Ende der christlichen Bibel bezeugt: »Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu …« (Offb 21,5). Das macht die Sprache.
Ruth Conrad, Corinna Körting und Christiane Zimmermann Berlin, Hamburg, Kiel, im März 2022
© 2022 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Inhalt
- Einleitung
- Kapitel I: »Im Anfang war das Wort«? - Philosophischtheologische Grundlegung und ein kulturanthropologischer Einspruch
- Sprachlichkeit und Gottesbewusstsein
- Gibt es eine Sprache der Dinge?
- Kapitel II: »Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht«? (Johann Gottfried Herder) - Spracherwerb, Sprachfähigkeit und Sprachverlust
- Neurowissenschaftliche Grundlagen des Spracherwerbs
- Redegewalt und doppelte Übersetzung
- Eine Sprache für das Neue finden
- Sprache, Sprechen, Schweigen im Alten Testament
- Kapitel III: Sprache macht Religion - Die Sprachlichkeit religiöser Praktiken
- Geheimnisvolle Gefolgschaft
- Übersetzen, Dolmetschen, Macht
- Das Ringen um die Sprache lebendiger Liturgie
- Wer erhört wen oder was?
- Entwichene Sprache
- Kapitel IV: Das macht Sprache - Die Macht religiöser Sprache
- Psychagogische Schockrhetorik für Zermürbte
- Zur sprachlichen Konstruktion religiös begründeter Machtasymmetrien
- Religion im kolonialen Archiv
- Kapitel V: Ausblick - Sprache und Religion in religionslinguistischer Perspektive
- Zur Konzeption einer Religionslinguistik
- Autorenverzeichnis
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- Einleitung
- Kapitel I: »Im Anfang war das Wort«? - Philosophischtheologische Grundlegung und ein kulturanthropologischer Einspruch
- Sprachlichkeit und Gottesbewusstsein
- Gibt es eine Sprache der Dinge?
- Kapitel II: »Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht«? (Johann Gottfried Herder) - Spracherwerb, Sprachfähigkeit und Sprachverlust
- Neurowissenschaftliche Grundlagen des Spracherwerbs
- Redegewalt und doppelte Übersetzung
- Eine Sprache für das Neue finden
- Sprache, Sprechen, Schweigen im Alten Testament
- Kapitel III: Sprache macht Religion - Die Sprachlichkeit religiöser Praktiken
- Geheimnisvolle Gefolgschaft
- Übersetzen, Dolmetschen, Macht
- Das Ringen um die Sprache lebendiger Liturgie
- Wer erhört wen oder was?
- Entwichene Sprache
- Kapitel IV: Das macht Sprache - Die Macht religiöser Sprache
- Psychagogische Schockrhetorik für Zermürbte
- Zur sprachlichen Konstruktion religiös begründeter Machtasymmetrien
- Religion im kolonialen Archiv
- Kapitel V: Ausblick - Sprache und Religion in religionslinguistischer Perspektive
- Zur Konzeption einer Religionslinguistik
- Autorenverzeichnis