Home Browndorf, Megan; Pappas, Erin; Arrays, Anna (ed.): The Collector and the Collected. Decolonizing Area Studies Librarianship. Sacramento, CA: Library Juice Press, 2021. 316 S.
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Browndorf, Megan; Pappas, Erin; Arrays, Anna (ed.): The Collector and the Collected. Decolonizing Area Studies Librarianship. Sacramento, CA: Library Juice Press, 2021. 316 S.

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Published/Copyright: July 6, 2022

Rezensierte Publikation:

Browndorf, Megan; Pappas, Erin; Arrays, Anna (ed.) ( 2021 ): The Collector and the Collected. Decolonizing Area Studies Librarianship. Sacramento, CA: Library Juice Press. 316 S.


Das Thema Dekolonialisierung hat in Deutschland vergleichsweise spät Eingang in den öffentlichen Diskurs gefunden. Das hat sicher damit zu tun, dass Deutschlands Rolle als Kolonialmacht in Afrika und Asien nur wenige Jahrzehnte andauerte. Mittlerweile gibt es jedoch auch hierzulande intensive Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit, geraubte koloniale Kulturgüter (vorwiegend aus Museen) zurückzugeben. Insbesondere in den Debatten um die aus der kolonialen Vergangenheit stammenden Bestände des Berliner Humboldtforums ist deutlich geworden, dass die kritische Beschäftigung mit diesem Thema in Deutschland über viele Jahrzehnte vernachlässigt worden ist. Dekolonialisierung aber erstreckt sich nicht nur auf die Rückgabe von Kulturgütern, sondern auch auf eine Neuausrichtung des Denkens und eine Veränderung der Forschungs- und Vermittlungspraxis. Dazu ist unter dem Titel „The Collector and the Collected“ soeben ein Sammelband erschienen, den die US-Amerikanerinnen Megan Browndorf, Erin Pappas und Anna Arrays herausgegeben haben. Das Besondere an diesem Band besteht zum einen darin, dass die Rolle der Bibliotheken im Kontext der Dekolonialisierungsdebatte zum ersten Mal umfassend beleuchtet wird. Zum anderen kommen Perspektiven und Ansprüche indigener Völker, z. T. auch durch Angehörige selbst zur Sprache.

Im Zentrum der insgesamt zehn Beiträge stehen Bestände und Praxis wissenschaftlicher Bibliotheken und insbesondere solcher Spezialbibliotheken, die Institutionen angehören, deren Aufgabe in regionalwissenschaftlicher Forschung besteht bzw. bestand. Darüber hinaus treten Fragen der Kolonialisierung der USA durch weiße Siedler und des Umgangs mit den dabei seither angesammelten Dokumenten und Forschungsergebnissen zur Kultur der indigenen Völker Nordamerikas hinzu.

Regionalforschung ist zunächst in Europa entstanden, um die westlichen Beamten auf die Verwaltungsaufgaben in den Kolonien vorzubereiten. Einen Aufschwung erlebten die Regionalforschung/Regionalwissenschaften („area studies“) während des Kalten Krieges. Ziel war es nun vor allem, Informationen über jene Teile der Welt zu gewinnen, die nicht von westlicher Kultur geprägt waren, um die USA und die „freie“ Welt vor dem Kommunismus zu schützen (S. 9). Dazu gehörte es, wertvolle Objekte und Materialien aus diesen Regionen in die USA und andere westliche Länder zu überführen und bei der Erschließung und Präsentation diese „imperialistischen Interessen“ zugrunde zu legen (S. 11).

Mehrere Beiträge setzen sich kritisch mit der Art und Weise, wie Bibliotheken Sammlungen aus kolonialer Zeit kuratieren, auseinander. Im Gegensatz zu Archiven wird in Bibliotheken die Frage nach den Sammlungsmotiven und der Provenienz nicht gestellt. Zur Dekolonialisierung aber gehört es, nach den Sammlern und deren Interessen zu fragen. Bei der Untersuchung der Erschließungsinstrumente, insbesondere der Library of Congress Classification (LCC), den Library of Congress Subject Headings (LCSH) und der Dewey Decimal Classification (DDC) stellt sich heraus, dass diese eindeutig von kolonialem Denken geprägt sind, und die Marginalisierung indigener Kulturen perpetuieren. Als Beispiel wird auf die Systemstelle E75 – E99 der LCC verwiesen, deren Beschreibung „Indians of North America“ lautet. Dies ist – so die Kritik – viel zu unspezifisch für 1 200 verschiedene indigene Völker auf diesem Territorium, und es kolportiert darüber hinaus den Irrtum des Kolumbus, der sich bei seiner Ankunft in Indien wähnte. Auch lassen sich die Sprachen der Indigenen über die LCC nicht angemessen abbilden. Diese Praxis wird als „kognitiver Imperialismus“ bezeichnet, an dem sich Bibliotheken durch ihre Gedankenlosigkeit mitschuldig machen (S. 58). Mit der bloßen Überarbeitung der Erschließungsstandards aber ist es nicht getan: Bei der Neuausrichtung müssen Vertreter der indigenen Nationen beteiligt werden, um damit der Dekontextualisierung wenigstens partiell entgegenzuwirken. Für manche Phänomene sollten Schlagwörter in der Lautung und der jeweiligen indigenen Sprache eingeführt werden.

Dekolonialisierung umfasst – so der Tenor des Bandes – mehrere Dimensionen: Sie reicht von der Restitution und Rekontextualisierung über Digitalisierung und Langzeitarchivierung bis hin zur Neuausrichtung der Erschließungsinstrumente sowie der Nutzungsbeschränkung religiös und kulturell sensibler Materialien. Alle diese Maßnahmen müssen in enger Zusammenarbeit mit indigenen Gruppen und in Kollaboration mit Institutionen aus den betroffenen Regionen durchgeführt werden.

Auch wenn der Band stark von einer US-amerikanischen Perspektive geprägt ist, vermag er doch Fragen aufzuwerfen und Impulse zu geben, durch welche die bibliothekarische Debatte in Deutschland bereichert werden könnte. Provenienzforschung in Bibliotheken ist eben nicht nur von Bedeutung im Hinblick auf die Restitution von Bibliotheksgut, das während der nationalsozialistischen Herrschaft geraubt wurde. Grundsätzlich wäre es wichtig, die Erwerbungspraxis und die Sammlungsprofile der Bibliotheken daraufhin zu untersuchen, ob und in welchem Maße sie ideologischen Bindungen unterlagen (und unterliegen?). Nicht alle Vorschläge des hier besprochenen Bandes sind allerdings ohne Weiteres einleuchtend. So fordert etwa Maij Xyooj in ihrem Beitrag zur Forschung über das indigene Volk der Hmong, Bibliothekarinnen und Bibliothekare hätten beim Bestandsaufbau darauf zu achten, dass die aufzunehmenden Publikationen keine verletzenden Aussagen zur Kultur der Hmong enthielten bzw. negative Stereotype kolportierten. Ferner solle auch durch Maßnahmen der Bibliothek dafür gesorgt werden, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen von Angehörigen der Hmong besonders hervorgehoben und verstärkt zitiert werden. Dies allerdings würde eindeutig mit den bibliotheksethischen Grundwerten Informationsfreiheit und Neutralität kollidieren. Unabhängig davon sei der Band aber zur kritischen Lektüre durchaus empfohlen.

Online erschienen: 2022-07-06
Erschienen im Druck: 2022-07-31

© 2022 Hermann Rösch, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  19. Schlechter, Armin (Hrsg.): Gesammelt – zerstreut – bewahrt? Klosterbibliotheken im deutschsprachigen Südwesten. Stuttgart: Kohlhammer, 2021 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen: Bd. 226). VIII, 307 S., Farbtafeln, Schwarzweißabbildungen. ISBN 978-3-17-037425-6, 28,- €
  20. Hiller von Gaertringen, Julia; Probst, Veit; Stello, Annika; Syré, Ludger (Hrsg.): 250 Jahre ÖFFENTLICH. Die Badische Landesbibliothek 1771–2021. Karlsruhe, Bretten: Lindemanns, 2021. 240 S., Broschur, 61 Abb., ISBN 978-3-96308-134-7, 24,90 €
  21. Fürst zu Stolberg-Wernigerode, Philipp: Die Fürst zu Stolberg-Wernigerodesche Bibliothek. Zur Geschichte einer adeligen Büchersammlung, ihrer Zerschlagung und ihrer Wiedereröffnung. Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, 2022. 160 und 50 ungezählte S., 89 €, ISBN 9783465045243
  22. Browndorf, Megan; Pappas, Erin; Arrays, Anna (ed.): The Collector and the Collected. Decolonizing Area Studies Librarianship. Sacramento, CA: Library Juice Press, 2021. 316 S.
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