Zusammenfassung
Im Diskurs über Bibliotheken als Dritte Orte werden wissenschaftliche Bibliotheken seltener als Öffentliche Bibliotheken in den Blick genommen. Dabei arbeiten auch sie seit langem nicht mehr nur bestands-, sondern verstärkt nutzerorientiert. Sie optimieren und differenzieren ihre Aufenthaltsqualität ausgerichtet an den divergierenden Bedürfnissen ihrer Nutzer*innen, schaffen ein breites Veranstaltungsportfolio und evaluieren ihre Leistungen und Angebote regelmäßig. Am Beispiel der Deutschen Nationalbibliothek wird die Synergie von Wissensquelle und Erlebnisort beleuchtet.
Abstract
The conversation about libraries as significant third places has mostly focused on public and municipal libraries, and rarely on academic libraries. Yet for years, the latter have been placing great emphasis on users’ needs, too, rather than merely operating on a collection-centred basis. Optimizing and differentiating amenity value and the quality of sojourn on-site, they have focused on the diverse needs of their users to create a varied event portfolio and evaluate services and provisions on a regular basis. Using the example of the German National Library, the article illustrates the synergy between being at once a source of knowledge and a venue for events and new experiences.
Vor 23 Jahren stellte Ray Oldenburg sein Konzept des Dritten Ortes vor[1]: Während das Zuhause den Ersten Ort und der Arbeitsplatz den Zweiten Ort bildet, kommen Menschen darüber hinaus wiederkehrend an einen Dritten Ort, der einen Ausgleich zu beiden bietet. Allen Interessierten offenstehend und ansprechend gestaltet, wird ein solcher Ort zu einem weiteren Zuhause, einem Wohnzimmer an anderem Ort, an dem sich Menschen begegnen und wohlfühlen.
Bibliotheken benannte Oldenburg nicht als solche Dritte Orte. Ursache mag sein, dass Bibliotheken traditionell ihre Aufgabe in der Bereitstellung von Medienwerken sahen und in der Vorstellung Vieler eher ein Ort der Stille als ein Ort lebendiger Konversation waren. Doch werden auch Bibliotheken seit Verbreitung des Konzepts als Dritte Orte diskutiert, weil sie, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, einen Wandel vollzogen haben von Informationsbesitzerinnen zu Informationsvermittlerinnen und Kultureinrichtungen, die jenseits der Bereitstellung von Medienwerken attraktive Treffpunkte mit vielseitigem Veranstaltungsprogramm bieten. Bisher fokussierte sich der Dialog zu Bibliotheken als Dritte Orte stark auf den Bereich der Öffentlichen Bibliotheken[2]. Wie steht es um die wissenschaftlichen Bibliotheken in der Debatte um den Dritten Ort?
Wissenschaftliche Bibliothek und Dritter Ort
In der traditionellen Unterteilung des deutschen Bibliothekswesens in wissenschaftliche und Öffentliche Bibliotheken dienen letztere der allgemeinen Information und Bildung sowie der Unterhaltung und sind der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich. Hingegen bleiben die wissenschaftlichen Bibliotheken dem wissenschaftlichen Studium, der Forschung und Lehre vorbehalten[3]. Dieser Beschreibung folgend, scheint die Einstufung einer wissenschaftlichen Bibliothek als Dritter Ort zweifelhaft, da Wissenschaft und Forschung dem Bereich „Arbeit“ zuzuordnen sind und demzufolge die wissenschaftliche Bibliothek allenfalls ein erweiterter Zweiter Ort, quasi ein Büro jenseits des Büros, wäre.
Unbeachtet fließender Übergänge, ist die Deutsche Nationalbibliothek auch insofern keine klassische wissenschaftliche Bibliothek, da sie unter ihrem Dach noch das Deutsche Buch- und Schriftmuseum sowie das Deutsche Musikarchiv und das Deutsche Exilarchiv betreibt und somit einen ganzen Kosmos an Informationswelten eröffnet. Zum anderen liegt der Fokus der Nationalbibliothek im Vergleich zu anderen Arten wissenschaftlicher Bibliotheken aufgrund ihres umfassenden Sammelauftrags[4] stärker auf dem Sammeln und Erhalten und erst im zweiten Schritt auf dem Bereitstellen und Vermitteln.
Darf man also einerseits die Debatte um den Dritten Ort aufgrund der Zielsetzung und der Heterogenität der konkreten Ausrichtung für wissenschaftliche Bibliotheken bezweifeln, kann man ebenso zugespitzt formulieren, dass Bibliotheken ganz allgemein schon immer Dritte Orte waren und als solche nur wiederentdeckt werden[5]. Bibliotheken bieten grundsätzlich die Möglichkeit der Begegnung von Menschen, ohne ihre Interaktion zu implizieren. Ist der eine lieber „gemeinsam einsam“[6], findet die andere hier auch wichtige Gesprächspartner*innen. Jenseits der fachlichen Ebene haben Bibliotheksbegegnungen auch mitunter das Potential zu lebenslangen Freundschaften oder mehr: In einer langen Nacht der Museen lud das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Nationalbibliothek 2011 Paare zum Vorbeikommen ein, die sich in den Lesesälen der Bibliothek kennengelernt haben. Etliche sind gekommen und haben von ihren Erlebnissen erzählt.
Zwischen den Polen entgegenstehender Positionierungen lässt sich noch die These einer variablen Ortsbestimmung einfügen. Im Zeitalter einer Pandemie changiert der Dritte Ort mindestens als hybrider Ort. Zudem befinden sich Kulturreinrichtungen, seien es Bibliotheken, Archive oder Museen, seit Jahrzehnten in einem grundlegenden strukturellen Wandel. Längst sind sie keine Elfenbeintürme und Musentempel mehr, in denen Besucher*innen ehrfürchtig Wissen einsehen und Objekte bestaunen dürfen. Sie haben den Fokus verlagert auf die Perspektive der Besucher/Nutzer*innen und sind zu Informationsvermittlerinnen geworden. Die Orientierung geht hin zu multifacettierten Räumen, welche die Bedürfnisse der Nutzer*innen nicht mehr nur befriedigen, sondern bereits antizipieren und den Zugang so einfach wie möglich gestalten. Das hat bereits zur Zentrierung von Einrichtungen hin zu Kultur- und Begegnungszentren geführt[7]. Bibliotheken bieten Zugang zu Medien, zur Beratung UND zu sozialer Interaktion. Auch in den wissenschaftlichen Bibliotheken kommen Nutzer*innen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen ins Haus, vom Studenten, der nur einen WLAN-Anschluss benötigt, bis zur Forscherin, die mit den Beständen oder Sammlungen vor Ort arbeiten will. Leihstelle und Lesesaal bilden die zentralen Anlaufpunkte, sind aber längst nicht mehr die einzigen Aktivitätszonen, zu denen Veranstaltungs- und Schulungsräume, Plätze zur Informationsrecherche, fachlich geordnete Freihandbestände ebenso zählen wie das Bibliothekscafé[8]. An den Nutzerbereichen entscheide sich, ob eine moderne Bibliothek „funktioniere“, so Michael Knoche, langjähriger Direktor der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar[9].
Der Besuch der Bibliothek im 21. Jahrhundert sollte nicht mehr nur erfolgreiche Arbeit ermöglichen, sondern zugleich ein schönes Erlebnis bieten[10]. Die Verknüpfung von Wissenszuwachs und Erleben wird als Edutainment bezeichnet und prägt seit Jahren die Vermittlungsarbeit von Kultureinrichtungen. Museen und Öffentliche Bibliotheken stehen sich hier sehr nahe. Lest nicht, begegnet euch! titelte die Süddeutsche Zeitung 2018 in einem Beitrag zur Zukunft der Bibliotheken[11].
Die Deutsche Nationalbibliothek aus der Perspektive ihrer Nutzer*innen
In den Jahren 2016 und 2020 hat die Deutsche Nationalbibliothek jeweils eine repräsentative Befragung der Nutzer*innen[12] durchgeführt. Dazwischen veranstaltete sie 2019 zwei Workshops unter dem Motto Planen Sie Ihren Lieblingsort in der Bibliothek, um Anregungen und Ideen zur Erhöhung der Aufenthaltsqualität zu gewinnen[13]. Zielgruppen der Workshops waren sowohl langjährige Nutzer*innen als auch Nicht(-mehr)-Nutzer*innen. Im Vergleich zu den breit angelegten Befragungen boten die Workshops Möglichkeiten zur Vertiefung individueller Blickwinkel.

Werbeplakat zum Workshop.
Im Ergebnis der Befragungen sind die Nutzer*innen überdurchschnittlich jung und gebildet und besuchen die Deutsche Nationalbibliothek in der Regel mehrmals im Monat oder öfter[14]. Dies tun sie vor allem zum Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit (50,6 Prozent der Nutzer*innen).
Nicht überraschend, stellt letzteres einen ganz wesentlichen Unterschied zu den Öffentlichen Bibliotheken dar, deren Zugang zudem keiner Altersbeschränkung unterliegt und deren Bestände ausleihbar sind. Die Nutzung der Deutschen Nationalbibliothek, die eine reine Präsenzbibliothek ist, ist erst ab einem Alter von 18 Jahren möglich. Insofern bestätigt sich die anfangs geäußerte Annahme, die wissenschaftliche Bibliothek fungiere als erweiterter Zweiter (Arbeits-)Ort.
Die Befragung thematisierte auch einige Aspekte, die unter dem Punkt ideale Rahmenbedingungen/Wohlfühlatmosphäre subsumiert werden können: Lange Öffnungszeiten des Hauses[15] wurden von 63,1 Prozent der Befragten als wichtig eingestuft. Eher oder sehr zufrieden war der überwiegende Teil der Nutzer*innen auch mit der Infrastruktur der Lesesäle. Genau betrachtet sagten jedoch fast jedem/jeder Fünften Temperatur und Raumklima eher nicht zu. Die meiste Kritik gab es beim Sitzkomfort der Stühle, vor allem in Frankfurt am Main.

Ergebnis der Befragung der Nutzer*innen, Auszug.
Eine der zentralen Fragen zur Ausstattung der Lesesäle war Wie wichtig wären die folgenden Angebote in den Lesesälen der Deutschen Nationalbibliothek für Sie persönlich?[16]
Von mehr als der Hälfte aller Befragten wurde hierzu ein Angebot als wichtig oder sehr wichtig erachtet: abgetrennte Einzelarbeitsplätze. Lümmel- und Chill-Ecken haben im Vergleich zur Befragung 2016 an Bedeutung verloren – beides ein Corona-Effekt?
Demnach wäre die Deutsche Nationalbibliothek nicht vorrangig ein Ort der Begegnung oder des Ausgleichs. Differenzierter wird die Analyse allerdings mit Blick auf die Altersgruppen: Abgetrennte Einzelarbeitsplätze stehen in jeder Altersgruppe auf Platz 1, bei den übrigen Angeboten gibt es jedoch unterschiedliche Prioritäten. Die Gruppenarbeitsplätze sind vor allem für die beiden stärksten Nutzergruppen (bis 29, 30–39 Jahre) wichtig. Danach verlieren sie kontinuierlich an Bedeutung. Ähnlich verhält es sich bei den Lümmel- oder Chill-Ecken. Die Hauptnutzer*innen der Nationalbibliothek wollen demnach nicht nur allein arbeiten, sondern suchen Begegnung und Entspannung in Verbindung mit der Arbeit/dem Studium.
Für die Wohlfühlatmosphäre als auch die längere Verweildauer von Bedeutung ist nicht zuletzt auch ein Verpflegungsangebot. Danach gefragt, wie ein Besuch der Deutschen Nationalbibliothek aussehen sollte, stuften 30,8 Prozent ein adäquates Angebot an Speisen und Getränken als sehr wichtig ein (und 29,9 Prozent als eher wichtig).
Die Workshops zur Aufenthaltsqualität konnten wertvolle individuelle Perspektiven zur Idealvorstellung der Bibliothek beisteuern: Über schwärmerische Liebes- oder wütende Abschiedsbriefe an die Nationalbibliothek konnte man die eigene Erwartungshaltung auf emotionaler Ebene vermitteln[17]. Ein/e Nutzer*in schrieb: Den geistigen Hunger konnte ich immer bei dir stillen, aber ich bestehe nicht nur aus Geist, sondern auch aus Leidenschaft und Hingabe […] Zu starr deine Einstellung, dein Habitus. Hierin spiegelt sich deutlich die veränderte Erwartungshaltung an die Bibliothek, die nicht mehr ausschließlich als Informationsdienstleisterin betrachtet wird.
Interessante Rückschlüsse auf die Wahrnehmung der Bibliothek als Ort erlauben die in einem der beiden Workshops erstellten Personae[18]. Die Persona ist eine fiktive Figur, die jedoch als möglichst individuelle Person, quasi als Prototyp, mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Einstellungen beschrieben wird. Im Ergebnis waren sich die erstellten Personae erstaunlich ähnlich und quasi ein Abbild der in den Befragungen herauskristallisierten Hauptnutzergruppen. Sie definierten die Nationalbibliothek erkennbar als Arbeitsort und zum Teil darüber hinaus auch als Dritten Ort, in dem Ausstellungen, Virtual Reality, Wissenswelten oder gar Kinoräume vorhanden sind, der aber auch einfach einen ruhigen Ort außerhalb von Familie und Beruf bietet.
Die weiteren Ergebnisse der Workshops zeigten Handlungsbedarf in Bezug auf die Zugänglichkeit der Bestände (Gebührenverminderung) und Maßnahmen zur Erhöhung des Lesekomforts auf. Wurden einerseits die individuelle Arbeitsatmosphäre in den Lesesälen, die Architektur und der Ausblick geschätzt, wünschte man sich andererseits Unterstützung für kooperative und kommunikative Arbeitstechniken (z. B. Gruppenarbeitsplätze), aber auch Rückzugsräume oder Orte für Telefongespräche. In letzteren offenbart sich, dass Arbeit und Ausgleich ein erwartbares Miteinander bilden können. Nachvollziehbar ist auch der Wunsch nach erweiterten Öffnungszeiten – nicht nur zum Arbeiten, sondern eben auch zum Verweilen.
Der Lieblingsplatz in der Bibliothek, der im Titel des Workshops im Fokus stand, fiel übrigens ganz unterschiedlich aus. Auch das spricht für ein differenziertes Angebot an Lernorten, das individuellen Vorlieben entgegenkommt.
Die alte und neue Deutsche Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek hat die Ergebnisse der Befragungen und Workshops zum Anlass genommen, Maßnahmen zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität zu planen und umzusetzen. Durch eine testweise Aussetzung der Benutzungsgebühren seit März 2020 wird ein niedrigschwelliger Zugang für alle Erwachsenen ermöglicht. Unter die Rubrik Services fällt die Erneuerung der Garderobe am Standort Leipzig im Jahr 2022, die nicht nur optisch ansprechender und mit Benutzerausweis bedienbar ist, sondern auch mehr Platz bietet. Eine Fächerbelegung per App, die auch durch bibliotheksspezifische Inhalte erweitert werden kann, wird demnächst möglich sein.
Die Medienausleihen in Leipzig und Frankfurt werden in den Jahren 2023 und 2024 neugestaltet werden und einen Servicebereich für alle Anfragen bieten (One-Stop-Shop). In diesem Kontext ist die Einrichtung einer selbstbedienten Medienaufbewahrung für in Benutzung befindliche Werke bereits in Planung. Bestellte Medien werden in sogenannten intelligenten Medienboxen bereitgestellt, per Nutzerausweis geöffnet und wieder in die Box zurückgelegt. Zur Verbesserung des Sitzkomforts bereitet die Bibliothek in Frankfurt ein Probesitzen auf verschiedenen Stühlen vor.
Die von den Nutzer*innen gewünschte Heterogenität der Räumlichkeiten hat die Nationalbibliothek im Jahr 2019 zum Anlass genommen, um in Zusammenarbeit mit einem Architekturbüro ein Design-Manual für die „Umgestaltung benutzungsrelevanter und angrenzender Publikumsbereiche“ zu erstellen. Dieses bildet die Basis für un-/mittelbare Modernisierungsmaßnahmen in den kommenden Jahren, u. a. die Zonierung in den Lesesälen beider Häuser durch Einrichtung von Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen[19], Multifunktionsräumen und Relax-Zonen.
Der technologische Wandel, veränderte Anforderungen einer zunehmend agilen Arbeitswelt als auch neue Bedürfnisse und Erwartungen an einen öffentlichen Ort stehen sich nicht widersprüchlich gegenüber, sondern bilden ein Neben- und Miteinander, zusammengefasst in der folgenden Typologie[20]:

Typologie einer Nationalbibliothek.
Teilhabe und Veranstaltungsangebot
Einen wichtigen Aspekt bildet die Partizipation der Nutzer*innen an der Entwicklung der Nationalbibliothek. Wiederholt wurde betont, dass die Workshops als willkommene Angebote gesehen wurden, sich aktiv in die Gestaltung der Arbeitsumgebung einzubringen[21]. Die Teilnehmer*innen waren gespannt, welche ihrer Wünsche in Zukunft umgesetzt werden würden[22].
Partizipation im Sinne der aktiven Beteiligung ist seit der Jahrtausendwende ein Schlüsselthema in der deutschen Kulturlandschaft, wobei der sogenannte participatory turn Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern erst relativ spät erreichte. Das Erleben von Autonomie, von Kompetenz sowie von sozialer Eingebundenheit und Akzeptanz wirkt sich positiv auf die Motivation aus[23], wie man aus der Besucherforschung im musealen Kontext weiß und auf weitere Lebensbereiche übertragen kann. Das positive Erleben trägt wiederum zur Kundenbindung bei. Nicht zu unterschätzen sind die Ergebnisse partizipativer Angebote in ihrer Bedeutung auch als wichtiges Korrektiv zu den internen Vorstellungen über die Besucher-/Benutzer*innen.
Spannend wird es auch, wenn man den Bereich der eigentlichen Kernaufgaben der Bibliothek verlässt und auf die Wahrnehmung von Veranstaltungen und Ausstellungen durch Nutzer*innen der Deutschen Nationalbibliothek schaut[24]:
Die Befragung hat ergeben, dass lediglich 3,4 Prozent der Bibliotheksnutzer*innen regelmäßig Veranstaltungen und Ausstellungen vor Ort besuchen (12,7 Prozent gelegentlich). Da die Erfassung der Daten Ende 2020 erfolgte, ist ein Corona-Effekt zu berücksichtigen[25]. Nach Altersgruppen differenziert sind es unter den stärksten Nutzergruppen der bis 29-Jährigen/30–39-Jährigen nur 0,7/2,7 Prozent. Mit zunehmendem Alter steigt der Prozentsatz bis 7,6 Prozent in der Gruppe 65 Jahre und älter. Die Hauptnutzer*innen der Nationalbibliothek nutzen diese demnach kaum zum Besuch von Veranstaltungen und Ausstellungen, während weniger stark vertretene Nutzergruppen diese im Altersvergleich häufiger wahrnehmen.
Der Besuch der wissenschaftlichen Bibliothek dient aus dieser Perspektive primär der Informationsgewinnung anhand der bibliothekarisch angebotenen Bestände.
Ortsbestimmung einer Nationalbibliothek
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Deutsche Nationalbibliothek als wissenschaftliche Bibliothek über ein primär traditionelles Publikum aus Studierenden und Wissenschaftler*innen verfügt. Die Erwartungshaltung dieser Hauptnutzergruppen richtet sich zentral an einen funktionsfähigen Arbeitsplatz im Sinne eines erweiterten Zweiten Ortes, von dem aber im Sinne einer nutzerorientierten Ausrichtung eine arbeitsfördernde Wohlfühlatmosphäre, die den Eigenschaften eines Dritten Ortes nahekommt, erwartet wird. Nicht signifikant – hierfür sind die Ergebnisse der Workshops aufgrund der niedrigen Zahl der Teilnehmenden quantitativ nicht repräsentativ – aber doch erkennbar, verlagert sich die Erwartungshaltung der Nutzer*innen in Richtung eines Dritten Ortes.
Die Deutsche Nationalbibliothek ist auch ein gut frequentierter Ort kultureller Veranstaltungen und Ausstellungen, der aber im Rezipientenkreis nur eine kleine Schnittmenge mit den Bibliotheksnutzer*innen aufweist. Eine Beobachtung, die die Deutsche Nationalbibliothek auch als lernende Organisation beschäftigt.
Durch die Aussetzung der Nutzungsgebühren hat die Nationalbibliothek einen Schritt zur Öffnung für die allgemeine Öffentlichkeit gemacht, wenn auch mit Mindestalter, vergleichbar mit dem niedrigschwelligen Zugang zu Öffentlichen Bibliotheken. Wegen der nahezu zeitgleich aufgekommenen Corona-Pandemie ist es kaum möglich zu beurteilen, ob Änderungen im Nutzungsverhalten auf die Gebührenaussetzung zurückzuführen sind. Eine erste Evaluation in der zweiten Jahreshälfte 2020 zeigte jedoch, dass einige neue als auch regelmäßigere Besuche bisheriger Nutzer*innen zu verzeichnen sind[26].
Seit einigen Monaten kommuniziert die Deutsche Nationalbibliothek nicht mehr nur über Social-Media-Kanäle, sondern auch per Chat mit ihren Nutzer*innen respektive Website-Besucher*innen. Seit Oktober 2021 werden zudem in einem Blog Einblicke in die Aufgaben- und Angebotsvielfalt sowie das Arbeitsleben der Nationalbibliothek gegeben[27]. Auch in diesen Bereichen öffnet sich die Bibliothek einem weiten Nutzerkreis und reagiert damit sowohl auf technologisch gewandelte Kommunikationsformen als auch auf Erwartungshaltungen, die thematisch über bibliothekarische Fragen im engeren Sinne hinausgehen.
Die Deutsche Nationalbibliothek ist sich ihrer Stellung als kulturelles Gedächtnis der Nation bewusst und definiert sich zugleich als ein Ort für Menschen. Nicht nur die Bücher und andere Medien sollen sich [hier] „wohlfühlen“, sondern auch die Nutzer*innen[28]. Eine Leitlinie im Strategischen Kompass der Nationalbibliothek lautet: Wir schaffen Orte der Begegnung, der Recherche, des Lernens und der Inspiration[29]. Sofern sie nicht schon immer auch ein Dritter Ort war, ist sie es geworden, wenn auch (noch nicht) im vergleichbaren Umfang wie Öffentliche Bibliotheken. Die Impulse hierfür gehen von den Zielgruppen aus und sind Folge einer seit Jahren in allen Bibliotheken zu beobachtenden wachsenden Gewichtung der Nutzerperspektive. In der heutigen Welt, in der Arbeitsplatz und Wohnzimmer bisweilen identisch sein können, dürfen auch die wissenschaftlichen Bibliotheken als Zweiter und/oder Dritter Ort angesehen werden – mit aller Flexibilität, die Begrifflichkeiten erlauben und provozieren.
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Artikel in diesem Heft
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- Bibliotheken gehen entschieden gegen Falschinformationen vor
- Schulbibliotheken brauchen Unterstützung
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- Das Projekt „Netzwerk Bibliothek Medienbildung“ stärkt Bibliotheken als Orte der Medienbildung in ländlichen Räumen
- Themen
- „Feuergriffel“ – Mannheimer Stadtschreiber für Kinder- und Jugendliteratur
- Wissensquelle und Erlebnisort Deutsche Nationalbibliothek
- #networkframework – Framework Information Literacy Lessons (FILL) aus der Praxis für die Praxis
- Automatisierter Import von geförderten Open-Access-Artikeln in Repositorien – eine Herausforderung für Repositoriums-Betreiber*innen?
- Auf dem Weg in die artikelbasierte Zukunft
- Notizen und Kurzbeiträge
- ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft startet Duales Studium „Angewandte Informatik“
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