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Judentum und Krankheit. Einleitende Bemerkungen

  • Robert Jütte und Andreas Kilcher
Veröffentlicht/Copyright: 6. Juni 2019
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Aschkenas
Aus der Zeitschrift Aschkenas Band 29 Heft 1

Im Rahmen der Gastprofessur »Wissenschaft und Judentum« an der ETH Zürich organisierte Prof. Dr. Robert Jütte zusammen mit Prof. Dr. Andreas Kilcher, Lehrstuhl für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH, im Herbst 2018 eine Tagung zu »Judentum und Krankheit«, die von der Dr. Christiane und Dr. Nicolaus-Jürgen Weickart sowie der Adolf und Mary Mil-Stiftung finanziert wurde.

Das Thema Judentum und Krankheitsdisposition ist durchaus aktuell, nicht nur in Hinblick auf einige, inzwischen gut erforschte genetische Erkrankungen, an denen Juden besonders häufig leiden. Bis heute hält sich zudem hartnäckig die Vorstellung, dass Juden häufiger an bestimmten Krankheiten leiden und damit zu deren Verbreitung beitragen, wenn diese infektiös sind. Hinter solchen Vorstellungen verbergen sich oft antijüdische beziehungsweise antisemitische Motive. Sie haben zudem eine lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Eberhard Wolff, Basel/Zürich beleuchtet in seinem Beitrag »›Judenkrankheiten‹. Eine methodologische Orientierung im Diskursdschungel« vor allem die Semantik dieses Begriffs, und zwar aus dem Blickwinkel der empirischen Kulturwissenschaft. Für die Druckfassung hat er sein damaliges Referat erweitert und den Versuch unternommen, die auf der Tagung gehaltenen Referate konzeptionell mit einzubinden.

Kay Peter Jankrift, Münster, stellt die Krankheit vor, die am längsten mit dem Judentum in Verbindung gebracht wird, nämlich die Lepra, die bereits in der Bibel mehrfach erwähnt wird. Für die Zeit des Mittelalters konnte nach Ende der Tagung noch ein zusätzlicher Beitrag eingeworben und eine Lücke im Programm geschlossen werden. Einer der besten Kenner der Geschichte der Pest, Klaus Bergdolt, Köln, geht der Frage nach, inwieweit der Brunnenvergiftungsvorwurf ursächlich für die Judenverfolgung während des sogenannten Schwarzen Todes, also der Pestepidemie von 1347/49, war.

Die Erforschung der sogenannten Judenkrankheit hatte vor allem im 19. Jahrhundert Konjunktur, als sich Rassenbiologen dieses Themas annahmen, wie Klaus Hödl, Graz, am Beispiel der Tuberkulose aufzeigt. Eine weitere Krankheit, die man häufig Juden zuschrieb, war der Diabetes, wie Robert Jütte in seinem medizin- und sozialhistorischen Beitrag ausführt und dabei den Bogen bis in die Gegenwart schlägt. Christina Vanja geht auf den psychiatrischen Diskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein und macht deutlich, wie gerade bestimmte Formen psychiatrischer Erkrankungen damals mit der jüdischen Lebensweise und den angeblichen Charaktereigenschaften der Juden assoziiert wurden. Florian Mildenberger, Frankfurt/Oder, geht der Frage nach, ob und wie Homosexualität als Krankheit im Judentum verstanden wurde. Sein Fokus richtet sich dabei vor allem auf Leben und Werk des bekannten Berliner Sexualforschers Magnus Hirschfeld.

An der Tagung waren nicht nur Historiker aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen beteiligt, sondern auch Literatur- und Kulturwissenschaftler. Andreas Kilcher weist in seinem Aufsatz »Der kranke Mann im Golus. Zionistische Pathologie der Diaspora« nach, wie Krankheit auch als kulturpolitische Metapher im zionistischen Diskurs verwendet werden konnte. Anat Feinberg und Robert Jütte präsentieren eine hebräischsprachige Idylle des Dichters und Arztes Saul Tschernichowsky, die zahlreiche Bezüge zur jüdisch-christlichen Volksmedizin enthält und bislang weder in der Literatur- noch in der Medizingeschichte die ihr gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Ein ganz anderes literarisches Genre sind die chassidischen Erzählungen, die häufig von Magie und Wunderheilungen handeln. Andreas Kilcher geht es im zweiten Beitrag aus seiner Feder u. a. am Beispiel Joseph Roths weniger um den legendären Inhalt chassidischer Wundergeschichten, sondern vielmehr um die therapeutische Form und Funktion des Erzählens, d. h. um das Erzählen nur als Vorgang der Nachrichtenüberlieferung oder hagiographischer Laudatio von Wunderrabbinern, sondern auch als ein wortkräftiger, quasi-sprachmagischer Akt, von dem eine weitaus stärkere heilende Funktion erwartet wurde als von der säkularen Medizin.

Stuttgart/Zürich im Frühjahr 2019

Die Herausgeber

Published Online: 2019-06-06
Published in Print: 2019-06-04

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 4.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/asch-2019-0001/html?lang=de
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