Abstract
The present article traces the inevitable turn towards negativity of the idea of hope, following the literary-critical reflections of Georg Lukács, Walter Benjamin, and Theodor W. Adorno. This movement dates back to early modernism, where the transformation of absolute despair into its opposite was still supported by the religious-political climate of the Baroque period. However, according to the three literary critics, due to the impossibility of a positive metaphysics, hope, if it does not wish to become ideological – as false consolation or transfiguration – can only be formulated as an ‘inspite.’ This idea, impressively captured in Theodor W. Adorno’s Negative Dialectics, found literary expressions that range from Baroque theatre to Samuel Beckett’s modernism. Negativity itself, in which these expressions are immerged, must not, however, be declared a meaning-giving, totalizing authority. Such ‘post-metaphysical’ interpretations can be prevented by critically reconsidering the insights of the three literary critics. They do not hypostatize a negative principle from which meaning is to be derived, but rather, in view of the desolate world, prefigure the possibility of a better one.
„Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch.“ (Friedrich Hölderlin, Patmos)
1. Metamorphosen der Hoffnung
Das katastrophale 20. Jahrhundert hat jeden festen Glauben an einen linearen Fortschritt der Menschheit, wie ihn der klassische Humanismus noch vertrat, endgültig Lügen gestraft. Das ist eine der zentralen Einsichten der Denker der Kritischen Theorie. Sie führte bei Theodor W. Adorno zu jener umstrittenen Absage an die positiven Utopien, die ihn bei der studentischen 68er-Generation unbeliebt machte und ihm den Ruf eines Pessimisten oder sogar Nihilisten einbrachte. Dennoch fordert gerade in den letzten krisengeschüttelten Jahren der geisteswissenschaftliche Diskurs immer wieder eine Rückbesinnung auf die Hoffnung, um der von diffusen Ängsten bestimmten politischen Stimmung entgegenzuwirken. So zeichnet zuletzt Byung-Chul Han die Hoffnung als „Gegenfigur“ (23) der Angst und schöpft aus philosophischen und literarischen Quellen, die die Negativität von Hoffnung in Erinnerung rufen. Han kritisiert mit Terry Eagleton, dass dem Hoffnungsbegriff Ernst Blochs das Trotzdem fehle. Auf Paul Celans „grauschwarzer Ödnis“ (Han 69) lässt er die Hoffnung allerdings als einen „Baum“ (69) wachsen, der „ein Haus, eine Heimat“ (60) möglich macht, das Leben bejaht und Gemeinschaft stiftet. Von hier aus ist es nicht weit zu Martin Heideggers Hoffnungsbegriff: hier ist sie entlastend und „erleichtert das Dasein“ (Han 110).[1] Einer Hoffnung aus Verzweiflung, wie sie Theodor W. Adorno mit seinem an Georg Lukácsʼ und Walter Benjamins Blick geschulten Denken vor Augen steht, ist gerade nicht ihr Anliegen. Der vorliegende Artikel möchte die Notwendigkeit dieses Hoffnungsgedankens und die Bestimmtheit seiner Negativität anhand der Literaturkritik der drei letztgenannten Denker nachvollziehen. Dazu ist es unerlässlich, die Transformation des Hoffnungsgedankens zu einem aus Negativität gespeisten literaturgeschichtlich nachzuverfolgen, nämlich bis in die frühe Moderne. Dass es dabei weder um Pessimismus noch um Nihilismus geht, sondern darum, den Gedanken an eine bessere Welt nicht zu einem blassen Trost verkommen zu lassen, der über das menschengemachte Elend in der Gesellschaft nur schwer hinwegtäuschen kann, soll der vorliegende Artikel zeigen. Anhand von Kunst, hier der Literatur, die einen Ort bietet, an dem das spannungsgeladene Verhältnis von Subjektivität, Welt und Sinn verhandelt wird, kann nachvollzogen werden, wie sich das utopische Element mit dem Unmöglichwerden einer positiven Metaphysik wandeln musste, um nicht zur Komplizität mit dem Bestehenden verdammt zu sein. Um in einer Welt weiterbestehen zu können, aus der Gott abgetreten ist, musste der Gedanke der Hoffnung auf einen winzigen Punkt schrumpfen und sich schließlich ins Negative wenden. Diesen Prozess gilt es anhand der literaturtheoretischen Überlegungen Georg Lukácsʼ, Walter Benjamins und Theodor W. Adornos aufzuzeigen; er führt von den deutschen Trauerspielen über die (desillusions-)romantische Genieästhetik bis zum Modernismus.
Der Moment, in dem er gleichsam seinen Ausgang nimmt, ist die religionspolitische Situation des 17. Jahrhunderts. Der Barock als Epoche wird sich nicht nur als zentral für die Genealogie der modernen Subjektivität und deren Transzendenzbezug erweisen, sondern auch als jener Moment, in dem die Transformation des Utopiegedankens und dessen notwendige Flucht ins Negative ihren Ausgang nimmt. Die Einsicht, ganz auf sich allein gestellt dem trostlosen Weltlauf ausgesetzt zu sein, öffnet dem barocken Menschen im Großen und Ganzen zwei Möglichkeiten: entweder er besetzt jenen leergewordenen Platz Gottes selbst, schwingt sich zum alleinherrschenden Souverän über die Schöpfung auf, oder er erkennt in den Brüchen dieser fragmentierten, heillosen Wirklichkeit die Chiffren einer möglichen besseren. Das „implizite Trotzdem“ der Kritischen Theorie, welches ihr als einziges metaphysisches Residuum geblieben ist, tritt, wie hier zu zeigen ist, das Erbe dieser letzten der utopischen Möglichkeiten an und rettet auf unterschiedlichen Wegen die metaphysische Erfahrung kraft Negativität in ein Zeitalter hinüber, in dem positive Metaphysik abgedankt hat. Dabei darf allerdings nicht diese Negativität selbst, die Verzweiflung über die Welt, wie sie ist, zur sinngebenden totalisierenden Instanz erklärt werden. Dass die negative Metaphysik, wie sie sich bei Benjamin und Lukács vorgezeichnet und in Adornos Negativer Dialektik ausgeführt findet, weder auf Pessimismus noch auf eine passive ‚Rückzugsposition’ zu reduzieren ist, wie es eine ‚nachmetaphysiche‘ kritische Theorie habermasscher und wellmerscher Prägung annimmt, ist eine der Einsichten, die aus dem aus der Literaturkritik extrapolierten Material in aller Deutlichkeit hervorgehen. Vielmehr muss, wie García Düttmann treffend formuliert hat, die „aphoristische Einsicht in die Unwahrheit des Ganzen“ (50) eine Rückwendung zu Fragen nach dem richtigen Leben zur Folge haben, ohne deshalb eine Einheit der moralischen und politischen Handlungsmaxime aus einem positiven Prinzip zu konstruieren. Die absolute Geschlossenheit erweist sich nämlich als „erborgt“ (Adorno, Negative Dialektik 395) von eben jenem idealistischen System, das in einer verkürzten Säkularisierung die Allmacht Gottes ins menschliche Subjekt verlegt. Kritisches Denken, das nicht der Verführung der Apotheose verfallen will, speist sich nicht aus der Hypostasierung eines Prinzips, das der Welt Sinn verleiht, und dessen konsequenzlogischer Entfaltung, sondern aus der Erfahrung der Möglichkeit des Anderen, die der trostlosen Welt eingeschrieben ist.
Wie kaum ein anderer Begriff aus der Kunstgeschichte hat es das Barocke geschafft, aus seiner Disziplin herauszutreten und eine kulturgeschichtliche Epoche im Allgemeinen zu bezeichnen. Vereinfacht könnte man das Barocke als jene Haltung verstehen, die der Gestaltung der Lebenswelt des 17. Jahrhunderts zugrunde liegt. Es ist, für den Alltagsverstand, mit Überladenem, Verschnörkeltem und Verkitschtem konnotiert, was möglicherweise jenem schwärmerischen Missbrauch des Barockbegriffs geschuldet ist, den Theodor W. Adorno bereits als „Ideologie im genauen Sinn falschen Bewusstseins“ (Adorno, „Der missbrauchte Barock“ 405) kritisierte: „Die clichéhafte Überdehnung des Begriffs erlaubt es, ihm einerseits einen ersehnten sinnerfüllten und überwölbten Weltstand zu unterschieben, andererseits eine Kühnheit von subjektiver Emanzipation und von Unendlichkeitsdrang, darin man sich selbst samt unausweichlichen Zügen des Modernen wiederzuerkennen schmeichelt.“ (406) Da es sich bei dieser extremen Polarität des Barockbegriffs allerdings nicht um ein bloßes Nebeneinander handelt, muss jeder restaurative Versuch fehlgehen, also jene „barocken Gesten“ (417) der modernen Malerei, jener „Neubarock“ (417) in der Architektur, der die Neigung zur Dekoration als bloßen „Aufputz“ (417) missversteht und als solchen wiederherzustellen sucht. Vielmehr müssen die antagonistischen Prinzipien des Barock mit Adorno als „struktiv“, also als in der Konstruktion gelegen, aufgefasst werden (406). Unter der geschlossenen, durchkonstruierten Oberfläche der barocken Werke verbirgt sich ein Konflikt zwischen Innen und Außen, zwischen dem Subjekt als selbständiges und dessen „Entäußerung zur Objektivität“ (421) – ein zerrissener Bezug zur Transzendenz. Die Untersuchung dieser spannungsvollen Konstruktion erlaubt eine erste Annäherung an die Problematik des sich wandelnden Utopiegedankens[2] in der Moderne.
2. Der heillose Schöpfungsstand des Barock: Transzendenzverlust und Rettung der Subjektivität
In seinem brillanten Habilitationsprojekt hatte bereits Walter Benjamin sehr deutlich erkannt, was den Barock als Epoche – jene politisch zerrissene, in der die Moderne in vielerlei Hinsicht deutliche Konturen anzunehmen beginnt – gegenüber den vorhergehenden Jahrhunderten abhebt: Zentral steht im Ursprung des Deutschen Trauerspiels der Satz „Es gibt keine barocke Eschatologie.“ (Benjamin, Der Ursprung 246) Zwar ist im Barock zum ersten Mal in der Geschichte ganz Europa christianisiert und damit die Hegemonie des Christentums gleichsam legitimiert – dieses krisengeschüttelte Zeitalter muss jedoch die traumatische Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges entlang von innerchristlichen Bruchlinien zwischen Protestantismus und Katholizismus und damit der Zersplitterung der europäischen Christenheit machen. Im Mittelalter wurde Geschichte noch als eins mit einer religiösen Heilsgeschichte aufgefasst, an deren Ende die Erlösung stand. Die katastrophale Entwicklung, die das barocke Europa nahm, konnte die geschichtstheologischen Vorstellungen von religiöser Vorsehung und göttlichem Heilsplan nur schwer absorbieren. Es blieb die Erfahrung göttlicher Nicht-Intervention, einer kühlen Indifferenz des Transzendenten dem irdischen Dasein gegenüber. Der Verlust der Eschatologie, jener Heilsgewissheit, die den geschichtlichen Ereignissen Einheitlichkeit und Sinn zu verleihen vermochte, konfrontiert die Menschen mit der Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Daseins und verstellt die Erwartung einer Erlösung von dieser leidvollen Existenz. Die Antwort auf die religiösen Sinnfragen muss nun ganz in der Immanenz des Profanen gesucht werden. Wie Benjamin feststellt, gründen also die „Diesseitsakzente“ des Barock in der spezifischen polit-religiösen Situation der Epoche: Der Weg in die Transzendenz ist versperrt, die Unendlichkeit muss also im Endlichen gesucht werden – daher auch die perspektivischen Neuerungen der barocken Malerei, die konkav und konvex geschwungenen Bauelemente in der Architektur und die strenge Geometrie ihrer Grundrisse, die Spiegelspiele, die verschnörkelt-filigrane Dekoration, die von Rüschen und Volant besessene Mode – um nur einige Beispiele für die Exaltierung des irdischen Daseins zu nennen. Der Gehalt der von Benjamin untersuchten Trauerspiele ist dementsprechend auch „[d]as geschichtliche Leben wie es jene Epoche sich darstellte“ (Benjamin, Der Ursprung 242) – im Unterschied zur griechischen Tragödie, deren Gegenstand „nicht Geschichte, sondern Mythos“ (243) sei: die Stellung der Personen in der attischen Tragödie bestimme sich nämlich nicht aus immanent-geschichtlichen Bedingungen, „sondern durch die vorgeschichtliche Epoche ihres Daseins – vergangenes Heroentum“ (243).
Zum Verständnis dieser These eines erstmaligen Einbruchs des Geschichtlichen als solches in die Kunst – in Benjamins Trauerspielbuch ins Theater – sei ein formtheoretischer Exkurs erlaubt, der die Transformationen der Beziehung von Sinn und Form in den Blick nimmt: Wenn wir mit Lukács nach der „transzendentalen Topographie des griechischen Geistes“ fragen, ergibt sich, dass das Prinzip, das der tragischen Handlung Sinn anweist, gerade im Ausgang aus der absoluten Lebensimmanenz des Epos liegt: „Erst wenn die Tragödie die Frage: wie kann das Wesen lebendig werden? gestaltend beantwortet hat, ist es bewusst geworden, daß das Leben, so wie es ist (und jedes Sollen hebt das Leben auf), die Immanenz des Wesens verloren hat.“ (Lukács, Die Theorie des Romans 26) Es geht um ein erstes Aufblitzen der Transzendenz in der Tragödie, um eine Bewusstwerdung, dass das Leben, so wie es ist, eben nicht wesenhaft ist, sondern auch anders sein könnte. Ganz in diesem Sinne fasst Benjamin den tragischen Tod des Helden: Obwohl seine Niederlage gegen die olympische Ordnung unvermeidlich ist, hinterlässt die Empörung darüber eine Spur „im sprachliche[n] Bewusstsein der Gemeinschaft“ (Benjamin, Der Ursprung 293). Es handelt sich um das Bewusstsein von Ungerechtigkeit, in dem negativ die Idee einer höheren Gerechtigkeit mittransportiert wird und so den Status Quo untergräbt.
Bereits mit der Tragödie war also eine Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz getreten, die als utopisches Moment bezeichnet werden darf. In dieser Hinsicht bezeichnet Lukács das Christentum als ein „neues, paradoxes Griechentum“ (Die Theorie des Romans 26). Es hat nämlich – und dies markiert den Anbruch der Moderne – „[d]as Unbegreifbare und ewig Unerreichbare der erlösten Welt [...] so nahegebracht: bis zur sichtbaren Ferne“ (28). Als perfektes Beispiel für die literarische Gestaltung dieser Zwei-Welten-Struktur in der Theorie des Romans dient ihm die Göttliche Komödie Dantes. Der unüberwindbare Abstand zwischen der gewöhnlichen Welt und der erlösten lässt sich dort zwar nicht leugnen, allerdings ist kraft der letzten dem irdischen Dasein Sinn gegeben. Er heftet sich gerade an diese transzendente Welt, die den Zusammenhang der materiellen stiftet und sie mit einem einheitlichen Sinn ausstattet: „Und so wie die Totalität des transzendenten Weltaufbaus für jedes Einzelgeschick das vorbestimmte, sinngebende und umfassende a priori ist, so umhüllt das steigende Begreifen dieses Gebäudes, seiner Struktur und seiner Schönheit – das große Erlebnis des irrenden Dante – alles mit der Einheit seines nunmehr geoffenbarten Sinnes.“ (46)
Der geschichtsphilosophische Moment, dem Benjamins Interesse in Bezug auf die Entstehungsbedingungen der Trauerspiele gilt, akzentuiert hingegen das Diesseits auf eine Weise, die den Verlust dieser transzendenten Beziehung nach sich zieht: Dem Barock gelingt es nicht mehr, „von Gott aus die konstitutive Einheit des gesamten Seins aufzufinden und aufzuzeigen“ (Lukács, Die Theorie des Romans 78). Dass bei ungebrochener Allmacht Gottes dennoch das Jenseits in unerreichbare Ferne gerückt war, verleiht Lukács zufolge diesem versteckten Gott sogar dämonische Züge. In einer nach der Zwei-Welten-Lehre eingerichteten transzendentalen Topografie war, wie in Dantes Göttlicher Komödie, das Sein der „anderen“ Welt zwar subjektiv nicht fassbar, aber objektiv gesichert. Im Barock hingegen hat es „sich in ein subjektiv klares und fanatisch festgehaltenes, aber die objektive Beziehung entbehrendes Sein verwandelt“ (78). Die transzendentale Verankerung in einem Jenseits löst sich und macht einer immanenten Sinnlosigkeit der Welt Platz, in der der Mensch nur in seiner eigenen „heimatlosen Seele“ (78) Sinn findet. Die Trauerspiele sind keine heiligen und gemeinschaftlichen Veranstaltungen mehr, wie es die griechischen Tragödien waren, sondern ihr Publikum besteht aus vereinzelten Individuen (Fehér 417). Deren Situation darf, Benjamins Ausführungen folgend, als einigermaßen paradox beschrieben werden, denn wo sich nämlich mit der Einsicht in Gottes Abwesenheit aus der menschlichen Geschichte ein mehr an Freiheit ergeben müsste, behauptet immer noch „das Christentum mit Nachdruck die Autorität“ (Benjamin, Der Ursprung 258).[3] Noch wird der epochale Konflikt mit dem Christentum umgangen, „ebenso im positiven wie im negativen Sinne“ (258), noch bleiben die kirchlich geregelten Lebensformen gewahrt. Daher die In-sich-Geschlossenheit der barocken Werke an ihrer Fassade, ihr übertriebener Scheincharakter, der Adornos Ausführungen zufolge über den struktiven Konflikt hinwegtäuscht und zu klischeehaften Missdeutungen sowohl in der Kunstgeschichte als auch im Fremdenverkehr geführt hat. Was Benjamin „den eigentlichen, unmittelbaren Ausdruck“ (258) des barocken Menschen nennt, bleibt durch diese orthodoxen Formen frustriert: hätte er sich realisiert, wäre er bereits ein romantischer, so Benjamin.
Anders als der Renaissance liegt dem Barock die „Erwartung einer Endzeit, ja auch nur eines Zeitenumschwungs“ (Benjamin, Der Ursprung 259) fern. Gegenreformatorisch geprägt war „[i]hr geschichtsphilosophisches Ideal die Akme: ein goldenes Zeitalter des Friedens und der Künste, dem alle apokalyptischen Züge fremd sind, verfaßt und in aeternum garantiert durchs Schwert der Kirche“ (Benjamin, Der Ursprung 259). Dieses beklemmende Ideal verweist die profanen Barockdramen auf strenge Immanenz, anders als in den christlichen Mysterienspielen des Mittelalters, deren Säkularisierung (im transitiven Sinne des Wortes) sie darstellen. Diese wiesen, bei noch unverstelltem Ausblick auf das Jenseits, der irdischen Vergängnis und dem menschlichen Leid nämlich noch Sinn als „Stationen des Heilswegs“ (260) zu. Ein solcher Trost ist dem barocken Trauerspiel völlig fremd: „Kennt es eine Erlösung, so liegt sie mehr in der Tiefe dieser Verhängnisse selbst als im Vollzuge eines göttlichen Heilsplans.“ (260) Hoffnung speist sich also nicht mehr aus einem blinden Gottvertrauen, sondern aus der Verzweiflung über die Vergeblichkeit aller irdischen Bestrebungen, sich eines transzendenten Sinnes zu versichern.
Ernüchtert versuchen also Martin Opitz, Casper von Lohenstein oder Andreas Gryphius, die Dichter der barocken Trauerspiele, die Stellung ihrer Figuren aus innerweltlichen Problemen herzuleiten. So sind es nach Benjamin „die Bewährung der fürstlichen Tugenden, die Darstellung der fürstlichen Laster, die Einsicht in den diplomatischen Betrieb und die Handhabung aller politischen Machinationen, welche den Monarchen zur Hauptperson des Trauerspiels bestimmt“ (Der Ursprung 243). Es ist der Souverän, in seinen Facetten des Tyrannen, Märtyrers oder Intriganten, der diese Geschichte repräsentiert – eine Geschichte abgeschnitten von jeglicher Transzendenz, die ihren Sinn zu garantieren vermag. Diese blockierte Eschatologie kennzeichnet den Barock im Allgemeinen, die deutschen Trauerspiele charakterisiert der Ausweg, den sie ihr entgegensetzen. Er besteht in einer „besinnungslose[n] Flucht in eine unbegnadete Natur“ (260) und zieht eine „naturhistorische Umformung der Geschichte“ (299) nach sich, Formulierungen, die eine der enigmatischsten Wendungen des benjaminschen Trauerspielbuchs eröffnen: „Denn nicht die Antithese von Geschichte und Natur, sondern restlose Säkularisierung des Historischen im Schöpfungsstande hat in der Weltflucht des Barock das letzte Wort. Dem trostlosen Laufe der Weltchronik tritt nicht Ewigkeit, sondern die Restauration paradiesischer Zeitlosigkeit entgegen. Die Geschichte wandert in den Schauplatz hinein.“ (271) Die Säkularisierung des Historischen, mit der das Abgeschnittensein von einem außerweltlichen Sinngaranten gemeint ist, konkretisiert sich nun im Schöpfungsstande, in dem Natur und Geschichte eins sind. Es handelt sich um das, was Adorno später als Nebeneinander des tektonischen und des affektiven Moments konzeptualisieren wird – in dieser Naturgeschichtlichkeit des 17. Jahrhunderts sind „die befreite Selbstgewissheit des denkenden Ichs und der Zwang des Mechanismus einander gesellt“ (Adorno, „Der missbrauchte Barock“ 421). Es ist ein gnadenloser Zustand, dessen schuldhafte, von natürlichen Impulsen gelenkte Kreaturen keine Hoffnung auf Erlösung im Diesseits kennen. Dass Geschichte in den Schauplatz hineinwandert, besagt, dass die historischen Ereignisse in der Gegenwart lesbar werden – in Form von Ruinen und Denkmälern, den ausgestreuten Zeichen des Vergangenen. Das Vergangene ist nicht in der Ewigkeit aufgehoben und errettet, sondern selbst Teil der Immanenz.
Eine ähnliche Bestimmung des geschichtsphilosophischen Moments, das die barocke Literatur festhält, hatte bereits Lukács in der Theorie des Romans unternommen, auf die Benjamin auch an mehreren Stellen verweist. So hätten nämlich auch die Ritterromane, die Don Quijote parodiert, die transzendente Beziehung zu Gott als Garant der „konstitutive[n] Einheit des gesamten Seins“ (Lukács, Theorie des Romans 78) verloren. Der erste Roman der Weltliteratur entsteht also in jener Zeitenwende, in der „Gott die Welt zu verlassen beginnt“ (78). Die Sinnhaftigkeit der Welt ist nicht mehr, wie bei Dante, in einem gegenwärtigen Jenseits verankert. Das hat zur Folge, dass das Sein der Idee nun zwar subjektiv erfassbar wird, jedoch jeglicher objektiven Beziehung entbehren muss. Vor einer ähnlichen Situation steht Benjamins Allegoriker, der die ihn umgebenden, sinnentleerten Gegenstände mit subjektiver Bedeutung belegt. Die Warnung vor einem Rückfall der absoluten Innerlichkeit in Dämonie,[4] die Gefahr einer Vergottung – der Apotheose – des Subjekts, findet sich also bei beiden Autoren: Bei Lukács liest sich die Formulierung, dass „aus dem Gott, der wegen der Unangemessenheit des ihn aufnehmenden Materials nur wie ein Dämon erscheinen konnte, [...] in Wahrheit ein Dämon“ (78) geworden sei. Dieser Dämon ist der einer modernen Subjektivität, die aus sich heraus und ohne Beziehung auf die es umgebende Ding-Welt Sinn und Werte produziert. Benjamin kritisiert diese absolute Souveränität in der Figur des Tyrannen in den Trauerspielen – wie bereits ausgeführt, ist dessen Innerlichkeit insofern problematisch, als sie sich, gerade auf Grund ihrer Beziehungslosigkeit sowohl zur materiellen Welt als auch zu einer transzendenten Welt der Ideen, auf bloß natürliche Reflexe (als welche der Barock die menschlichen Affekte begreift) zurückgeworfen sieht.
Aus diesen geschichtstheologischen Umbrüchen, die in die von Lukács besehene Romanform und in die von Benjamin untersuchten deutschen Trauerspiele eingegangen waren, ergibt sich mehrerlei: Die Vorstellung, dass sich die menschliche Geschichte auf die Weise von Naturereignissen abspielt, zieht ein folgenschweres Umdenken in der juristischen und politischen Theorie des 17. Jahrhunderts nach sich, das den Ausgangspunkt der modernen Staatswissenschaften markiert. Das politische Geschehen, dessen Gesetzlichkeiten als analog zu den Naturgesetzlichkeiten aufgefasst werden, kann jetzt, unter Verzicht auf göttliche Legitimation, gleichsam errechnet werden. Den barocken Souveränitätsgedanken vorwegnehmend, verlässt sich Machiavelli nicht auf Gott, sondern auf scharfe Beobachtung und politisches Kalkül – darin folgen ihm auch Bodin und Hobbes. Metaphern für die Gestaltung der Gesellschaft und des Staates werden von nun an häufig aus der Mechanik entlehnt: Wie ein Uhrwerk soll die Maschine des Staates funktionieren, Stabilität und reibungsloser Ablauf sind die politischen Ideale der Epoche. Der Souverän soll sie garantieren, seine extralegale Entscheidungsbefugnis soll den Ausnahmefall verhindern. Tatsächlich, und hierin unternehmen die Trauerspiele gleichsam eine Kritik und Korrektur der Staatstheorie der Epoche, zeigt er sich aber als entscheidungsunfähig; selbst der absolute Herrscher, wie er in der Figur des Tyrannen auf die Bühne des barocken Theaters tritt, fällt als Kreatur unter Kreaturen seinen eigenen Affekten zum Opfer. Sein Zögern ruft den Intriganten auf den Plan, die dämonische Facette der absolut autonomen Subjektivität. Er manipuliert die Affekte der politischen Akteure, die er als Kenner ihrer Tektonik, ihrer Naturgesetzlichkeit, eiskalt zu berechnen versteht (vgl. Benjamin, Der Ursprung 274–279).[5]
Die barocken Trauerspiele dürfen also keineswegs als ideologisches Sprachrohr der aufkommenden herrschenden Staatstheorie aufgefasst werden. Vielmehr setzen sie dieser mit dem Begriff der Kreatürlichkeit des Menschen – aus dem die heillose Distanz zur Utopie eines erlösten Zustands spricht – ein wirkmächtiges Korrektiv entgegen: In ihm ist die Transzendenz in der Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen aufgehoben. Utopie konkretisiert sich via negativa in dem Bedürfnis nach Rettung, das die Trauer über die Ruchlosigkeit und Skrupellosigkeit der Welt hervorruft. Wo die politische Theorie des 17. Jahrhunderts als Reaktion auf den Verlust der Eschatologie die göttliche Allmacht ins Subjekt verlegt, äußern die Trauerspiele – ohne es zu wissen – eine Warnung gegen eine solche Vermessenheit. Homo homini deus – der Mensch ist dem Menschen ein Gott: In diesem weit unbekannteren Satz Hobbes’ drückt sich die hegemoniale Antwort modernen Denkens auf die gottverlassene Welt aus. Der Staat, ein menschengemachter neuer Gott, tritt aus dem Naturzustand heraus und als Souverän an die Stelle Gottes. Die kritisch-emanzipatorische Antwort auf die Gottverlassenheit, die Hoffnung trotz allem nämlich, kann aber in der Kunst fortleben, denn diese entzieht sich allein dadurch, dass sie Welten fernab des So-ist-es entwirft, der bloßen Immanenz.
Das Barocktheater scheint allerdings als Antwort zunächst nur die Klage zu kennen, verbunden mit der Sorge um das Erretten der vergänglichen Kreaturen. Einen Ausweg, allerdings noch einen tief religiösen, bietet die Sprachform der Allegorie, denn „[d]ie stumme Kreatur ist fähig, auf Rettung durchs Bedeutete zu hoffen“ (Benjamin, Der Ursprung 401), und was immer die Allegorie „ergreift, verwandelt ihre Midashand in ein Bedeutendes“ (402). Der barocke Allegoriker empfängt sein Material aus der Trümmerwelt des Stofflichen, aus allen irdischen Dingen, die – da sie der schuldbeladenen Schöpfung angehören – nicht aus sich heraus bedeuten dürfen. Erwähnt sei zunächst, dass, Benjamins Deutung zufolge, die Intention der Allegorie nicht auf Wahrheit, sondern auf das absolute Wissen geht. Dieses sei, und davon war bereits in der Warnung vor der Apotheose der Geistigkeit einiges angedeutet, „die eigenste Daseinsform des Bösen“ (403). Der Daseinsgrund des Bösen liegt also für den Barock nicht im Stofflichen, wie es die mittelalterliche Religiosität mit ihrer Dämonisierung des Materiellen suggerierte, sondern eröffne sich vielmehr „mit der Fata morgana eines Reiches der absoluten, das ist gottlosen, Geistigkeit, wie es, als Gegenstück dem Materialischen verbunden, das Böse erst konkret erfahren läßt“ (404). Die „satanischen Verheißungen“, die diesem Reich der absoluten Geistigkeit entstammen, seien demnach geistiger Art: der Schein von Freiheit, Selbstständigkeit und Unendlichkeit „in dem leeren Abgrund des Bösen“ (404). Benjamin erläutert nicht näher, warum, doch es ist anzunehmen, dass es das Wissen – im Sinne eines wissenschaftlich-katalogisierenden Wissens – um die Beschaffenheit der Dinge in der Welt ist, das das Potenzial hat, ihnen jeglichen über die reine Stofflichkeit hinausgehenden Sinn abzusprechen. Damit verwandelt es seinen Gegenstand in ein reines Instrument für eigene Zwecke. Wo die Tugend ein Vorbild in Gott habe, sei Verworfenheit bodenlos wie der allegorische Tiefsinn. Verwandelnd und vertiefend arbeiten die barocken Trauerspiel-Autoren mit dem Bilderschatz, der sich auf den Schauplätzen von Intrige, Folter und Mord versammelt. Erst wo er tief hinabgetaucht ist in die irdische Vergängnis, blitzt die Hoffnung auf Erlösung auf – allerdings nicht auf deren Boden, deren Seinsgrund, sondern im Bilde des Falles selbst:
Wie Stürzende im Fallen sich überschlagen, so fiele von Sinnbild zu Sinnbild die allegorische Intention dem Schwindel ihrer grundlosen Tiefe anheim, müßte nicht gerade im äußersten unter ihnen so sie umspringen, daß all ihre Finsternis, Hoffart und Gottferne nichts als Selbsttäuschung scheint. Heißt es doch ganz das Allegorische verkennen, den Bilderschatz, in welchem dieser Umschwung in das Heil der Rettung sich vollzieht, von jenem düstern, welcher Tod und Hölle meint, zu sondern. Denn gerade in Visionen des Vernichtungsrausches, in welchen alles Irdische zum Trümmerfeld zusammenstürzt, enthüllt sich weniger das Ideal der allegorischen Versenkung denn ihre Grenze. (405)
Wo zunächst die Trümmer und Leichenteile allegorisch für Vergänglichkeit stehen, schlägt Vergänglichkeit selbst nun um in die Allegorie der Auferstehung. Alles, was ihr eignete, entpuppt sich als Phantasmagorie: das absolute Wissen geht ihr ebenso verloren wie die Willkürherrschaft über die Dinge, aber auch die „Unendlichkeit der Hoffnungsleere“ (406). So bedeutet auch das schlechthin Böse etwas anderes als es selbst: Als Allegorie bedeutet es den subjektiven Tiefsinn – so Benjamins Deutung des Schlusses der Trauerspiele. Wenn der subjektive Tiefsinn die Bedeutungslosigkeit der Welt konstatiert und diese damit zum Material der Allegorisierung macht, kann er konsequenterweise auch vor sich selbst nicht haltmachen. Das absolute Subjekt schien für einen Moment das absolut Böse zu sein, doch auch diese Bedeutung vergeht wie alle subjektiv zugemessene. Am Ende triumphiert nicht die absolute, gottgleiche Subjektivität, sondern die eingestandene: Rettung liegt also nicht auf dem Boden der Verzweiflung, sondern im Eingeständnis der Subjektivität als der einzigen Instanz der Sinnzuweisung.
Diesen Zusammenhang zu zeigen, sei die Figur des Intriganten prädestiniert – denn nur die dämonisch-vermessene Geistigkeit des Intriganten könne „die Organisation der Szene zu jener allegorischen Totalität führen, mit welcher in dem Bilde der Apotheose ein von den Bildern des Verlaufes Artverschiedenes sich erhebt und der Trauer Einsatz und Ausgang zugleich weist“ (409). In dessen Pendant, dem Märtyrer oder Heiligen, zeigt sich „[d]as kaum gewusste Ziel“ der Trauerspiele, „einen absoluten Menschen in seinem Verhältnis zum absoluten Gegenstand“ (Rosenzweig, zit. n. Benjamin, Der Ursprung 290) zu finden. Wenn es sich bei dem absoluten Menschen um den Heiligen handelt, darf man annehmen, dass dessen „absolute[r] Gegenstand“ (290) nichts anderes als Gott ist. Die transzendente Welt schrumpft also im Barock von einem weiten Reich der Ideale auf einen einzigen Punkt zusammen, analog zu dem Schrumpfungsprozess der Individuation, der das Subjekt, in seiner Selbstbewusstwerdung und Autonomiebehauptung, auf einen Punkt konzentriert. Daraus erklärt sich, warum Benjamin dem Barock eine Tendenz zur Romantik konstatiert, die aber durch die strengen Gesetzlichkeiten der religiösen Konventionen frustriert bleiben musste: Erst die Romantik trägt den Konflikt mit den kirchlichen Formen ganz aus und setzt das Ich in den Mittelpunkt philosophischer und literarischer Unternehmungen. Das Ich wird, nicht nur bei Fichte, zum archimedischen Punkt im Gedankensystem. Lukács bezeichnet diesen Prozess als „Verengerung der Seele“ (74), die das Aneinandervorbeihandeln von Innerlichkeit und Welt nach sich zieht. Der Bezug zur Ideenwelt ist verlorengegangen, die Suche nach einem wertbetonten und sinnvollen Zentrum der Welt endet immer im Subjekt. Es ist, in Lukács’ Worten, die „alles andere vertilgende Konzentration auf einen Punkt des Daseins, der aber nichts mehr mit der Ideenwelt zu tun hat“, der zur „reinen Dämonie“ (81) führt.[6] Die Weltgestaltung, die aber aufgrund der Hermetik des Subjekts scheitern muss, ist allerdings immer noch utopische Sehnsucht der Innerlichkeit. Die Inadäquatheit dieses „apriorischen Utopismus“ (87) erkennt Lukács als die Problemstellung der Dramen des Deutschen Idealismus eine Problemstellung, die sich in den Romanen des 19. Jahrhunderts, etwa bei Flaubert, noch verschärfe: Deren „ganz von der Konvention beherrschte Welt“ sieht Lukács als „die wirkliche Erfüllung des Begriffs der zweiten Natur: ein Inbegriff sinnesfremder Gesetzlichkeiten, von denen aus keine Beziehung zur Seele gefunden werden kann“ (87). Paradox hatte der Barock genau diese extreme Fremdheit der Welt gegenüber der Innerlichkeit in der Idee der Vergängnis via negativa zu einer homogenen Einheit konstruiert, die vorsichtig und vorläufig als die Welt der Schöpfung bezeichnet werden darf. Die Trauer über die Vergänglichkeit ermöglicht die Rettung des Subjekts in der Idee der Auferstehung der menschlichen Seele. Die nur noch formal religiöse Lösung des Barock gelangt in der späten Romantik zum Selbstbewusstsein: Das Bewusstsein des Scheitern-Müssens der utopischen Sehnsucht nach Weltgestaltung, der Verzicht auf jegliche aktive Rolle in ihr, gerät zur Voraussetzung von Subjektivität und zu deren Preis. Der Ausfall der Eschatologie ermöglicht eine maßlose Erhöhung des Subjekts in „Notwehr“ (87). Doch wo sich das Subjekt als die „Quelle von allem Seinsollenden“ dünkt, kann die Welt schwerlich nach dem Vorbild dieser Ideale gestaltet werden. Umgekehrt zieht das Subjekt nun die Welt als Material zur Selbstgestaltung heran (91).
3. Die überforderte Subjektivität
Das bisher Gesagte rekapitulierend, können wir festhalten, dass der Verlust der transzendenten Heilsgarantie eine tiefgreifende Umstrukturierung der Subjektivität zur Folge hat. Die moderne Subjektivität, wie sie sich sowohl in der nationalstaatlichen Souveränität als auch in dem konstitutiven Subjekt der philosophischen und naturwissenschaftlichen Systematik durchsetzt, ist eine unbedingte, die alle transzendenten Bezüge und utopische Sehnsucht in die Innerlichkeit selbst verlegt.
In der Literatur unterwirft sich diese unbedingte Subjektivität einem Revisionsprozess, einer Selbstkritik oder Selbstkorrektur; jene der sogenannten Desillusionsromantik artikuliert die Niederlage in der Weltgestaltung als tragende Erfahrung des post-eschatologischen Zeitalters und macht das Scheitern zur Voraussetzung von Subjektivität überhaupt. Das von Lukács angesprochene Aneinandervorbeihandeln von Innerlichkeit und Welt meint allerdings auch den Verlust einer verlässlichen Deutung der Welt. Diese verlässliche Deutung war bereits dem Barock abhandengekommen. Ihm war die dinghafte Welt zu rätselhaften Chiffren der göttlichen Schöpfung geworden, deren Deutung durch das Individuum unsicher und fragmentiert. Gerettet wird in der Idee der Auferstehung ex negativo die individuelle Seele, aufgehoben in Gott, nicht aber das Band zwischen den heillos individuierten Menschen und der Welt. Die Sprachkrise, die Rätselhaftigkeit der Zeichen, bleibt bestehen. Die Romantik liest, gänzlich säkularisiert, die Chiffren der Welt als Zeichen für ein Inneres, die Genieästhetik des Sturm und Drang bürstet diese Innerlichkeit zu einer schöpferischen, fähig, souverän über das eigene poetische Werk zu verfügen. Romantiker wie Jean Paul oder Novalis kritisieren die Absage der Genieästhetik an tradiertes Schrifttum und die Konventionen des künstlerischen Ausdrucks als Symptom des Verlustes einer Beziehung zur Welt, die ein gottgleiches Subjekt als Opfer bringen muss. Wo die Transzendenz gänzlich ins Subjekt einwandert, wird sie zu einem leeren Abstraktum. Unterdessen wird die äußere Wirklichkeit dermaßen unzugänglich, dass sie nur noch als Fassade, als Anschein – bildhaft – gefasst werden kann, die jegliche Objektivität eingebüßt hat. Dieser Bruch zwischen Außen und Innen erbt sich bis in den literarischen Modernismus fort. Die romantische Welt-Idylle darf so als eine rein subjektive Projektion des Wunsches in die Kulisse der Realität verstanden werden. Wenn die Sprache das Medium dieser sich wandelnden Subjekt-Objekt-Beziehung ist, und die Grammatik ihre innere Struktur, ist hier die Ablösung des Irrealis vom Konjunktiv der Hypothese festzuhalten. Sie kommt einer Aufspaltung der Transzendenz in Möglichkeit und Wunsch gleich; mit dem Abhandenkommen einer sicheren Deutung der Wirklichkeit verflüchtigt sich auch jeglicher Zugang zu den realen Möglichkeiten, die in der Wirklichkeit als deren Potenzial kodiert sind. Utopie wird damit auf jenen reduktionistischen Begriff gebracht, der heute hegemonial geworden ist: eine unrealistische Wunschvorstellung, ein Hirngespinst fast, das nur einen Störfaktor für pragmatisches politisches Handeln darstellen kann.[7]
Die Paradoxien dieser Verlagerung der Transzendenz ins Subjekt gelangen bei Hölderlin zum Selbstbewusstsein. Rüdiger Safranski notiert in seiner Hölderlin-Biographie in Bezug auf die Patmos-Hymne treffend: „Das Göttliche, eigentlich das Allumfassende, hat sich zurückgezogen, und wenn es doch erscheint, so trifft es Einzelne, die alleine, ohne Gemeinde, die Last des Himmlischen nicht tragen können.“ (251) Hölderlins Hymne, deren Name das Andenken an den Ort der Johannesoffenbarung evoziert und damit an die Abwesenheit Gottes erinnert, spricht die Problematik einer völligen Vergeistigung von Religiosität an. Dem Individuum wird abstrakt eine göttliche Seele zugestanden, die Realisierung dieses transzendenten Potenzials in der empirischen Wirklichkeit bleibt ihm aber verwehrt. Die Utopie des Gottesreichs auf Erden, einer gerechten Gemeinschaft freier Individuen, deren Verwirklichung einmal als konkretes Potenzial der Wirklichkeit im Hegel’schen Sinne greifbar war, kann nur noch als rein poetische Wirklichkeit erscheinen. Adorno konstatiert der Dichtung Hölderlins in seinem Essay „Parataxis“ die Divergenz von Philosophie,
weil diese zur Negation des Seienden affirmativ Stellung bezieht, während Hölderlins Dichtung, kraft der Distanz ihres Formgesetzes von der empirischen Wirklichkeit, übers Opfer klagt, das sie erheischt. Die Differenz zwischen den Namen und dem Absoluten, die er nicht verdeckt und die als allegorische Brechung sein Werk durchfurcht, ist das Medium der Kritik an dem falschen Leben, wo der Seele ihr göttlich Recht nicht ward („Parataxis“ 463).
Zur Hymne „Brod und Wein“ notiert Adorno, dass hier die Zeichen nicht nur für Göttliches stehen, sondern die Erinnerung an dessen Abwesenheit aufbewahren: „Der Verlust ist in den Begriff eingewandert und entreißt ihn dem schalen Ideal des allgemein Menschlichen.“ (465) Das Auseinanderklaffen von Wirklichkeit und Ideal, einmal durch ein transzendentes Band verbunden, wird augenscheinlich. Die Fiktion einer wahrhaft menschlichen Gemeinschaft wieder und wieder beschwörend, täuscht Hölderlins Dichtung dennoch nicht über die Unversöhnbarkeit mit der Welt, wie sie ist, hinweg: „Nur daß die Abstrakta die Illusion ihrer Versöhnlichkeit mit dem puren Diesda aufkündigen“, bemerkt Adorno dazu, „schenkt ihnen jenes zweite Leben.“ (465) Lediglich im Innewerden der Negativität kann etwas von Utopie gerettet werden. Die Entfernung zum Barock, in dem Rettung noch im Eingeständnis von Subjektivität lag, zeichnet sich bereits ab.
In der Patmos-Hymne, für Adorno die „großartigste[] parataktische[] Struktur aus Hölderlins Hand“, werde die moderne Subjektivität ihrer Negativität in Gestalt ihrer Vereinzelung inne; genauer gesagt dessen, dass sie ihrem Begriff nach „im doppelten Sinne absolut“ sei: Das Subjekt ist absolut als ein konstitutives, formgebendes, systemschaffendes. Es ist aber auch absolut in dem Sinne, dass es, losgelöst und vereinzelt, jeglicher Beziehung zur Welt und damit zu den anderen Individualsubjekten entbehrt (468). Diesen Riss im Subjekt reflektiere Hölderlin in seinem „Hang zum Gestaltlosen“ (468), in welchem sich seine Sprachkritik äußert. Fügsam unter die Konvention sich unterordnend verlaufe Hölderlins Sprache, so Adorno, „in Gegenrichtung zum Subjektivierungsprozess“ (477). Indem die Sprache die Fäden zum Subjekt durchschneidet, rede sie für das Subjekt, das von sich aus – Hölderlin war wohl der erste, dessen Kunst das ahnte – nicht mehr reden kann.“ (478) Das parataktische Formprinzip Hölderlins, dessen Idee Adornos Deutung entfaltet, gehorcht nicht dem souveränen Gestus des genialen Künstlersubjekts, wie dies von einer diskursiven oder kommunikativen Sprache – der Sprache als Instrument des Subjekts – erwartet wird. Adorno fasst eine solche Sprachkonzeption als „Störungsaktion“ (479) auf, als „Attentat aufs harmonische Werk“ (480) und damit auf eine Konzeption von Subjektivität als einer autonom über Sprache und Welt verfügende. Die Korrespondenzen, die blitzhaft auftauchenden Beziehungen zwischen antiken und modernen Schauplätzen und Figuren, in denen „Hölderlin das Rettende sich erhofft“ (481), widersetzen sich einer diskursiven Entwicklung. Erinnerung und Hoffnung werden nicht argumentativ zueinander in Beziehung gesetzt, konsequenzlogisch voneinander abgeleitet, sie vollziehen sich in Hölderlins späten Hymnen trotz ihrer Unversöhnlichkeit mit der wirklichen Welt. Parataxis widersetzt sich als Antiprinzip Synthese und Identität, den Prinzipien der Naturbeherrschung. Nicht indem er diese abstrakt verneint, lege Hölderlin Einspruch gegen sie ein, sondern indem er sie „in ihrer Beziehung auf das von ihr Gestürzte“ (482) fasst. Wo sich das Subjekt als Absolutes aufwirft, unterdrückt es das Heteronome, das Adorno in den Begriffen Natur und Mythos zu fassen sucht.[8] Hölderlins Dichtung gedenke des Mythos, ihre Tendenz gehe aber auf Entmythologisierung: die Wiederkehr des Unterdrückten kritisiere sie nämlich „in der Selbstvergottung des Menschen“ (485). Entmythologisierung versteht Adorno hier als die Selbstreflexion von Vernunft, „die der unterdrückten Natur zur Rückkunft verhilft“ (486–487). Nur als unreflektierte, im Mythos, sei die menschliche Vernunft naturbefangen, also eins mit der unterdrückenden. Die Vorstellung von einem absoluten Subjekt reproduziert diese mythische Naturbefangenheit, indem sie sie in die Innerlichkeit verlagert. Hölderlin weiß das, so Adorno, er weiß allerdings auch, dass Subjektivität „immanent zur Selbstsetzung genötigt ist“ (486–487).
In der Patmos-Hymne beschwört Hölderlin eine Epoche herauf, in der das Göttliche ohne Irrtum gepriesen werden kann, eine Epoche also, in der der Transzendenzbezug, der Bezug auf die Utopie, zweifellos sichergestellt ist. Die auch von Adorno angemerkte Zeile
Das geht aber
Nicht
ist ein Eingeständnis dessen, dass positive Metaphysik unmöglich geworden ist. Das Ausmalen positiver Bilder, das positive Nennen von Namen der Transzendenz fasst Hölderlin als Selbsttäuschung, sie
Fallen, wie Irrtum,
Auf das Herz und tötend, wenn nicht einer
Erwäget, was sie sind, und begreift.
Hölderlin kommt damit dem von Adorno ausgesprochenen Verbot, die Utopie in positiven Bildern „auszupinseln“, verblüffend nahe. Begriffen werden muss, so sieht es auch Adorno, dass diese von Hölderlin beschworene Utopie eben kein „konkretes Potential der Wirklichkeit ist“ (480), sie ist nicht mehr konkret fassbar und kann so auch keine Gemeinschaft stiften. Es ist aber auch nicht mehr der bloß individuelle Wunsch des Dichters, der sich in der im Gedicht festgehaltenen Sehnsucht ausdrückt. Vielmehr laufen in der Sprache Hoffnung und Erinnerung zu einer Art objektiven Sehnsucht zusammen, die die Fäden dessen, was einmal war und was sein könnte zu einem imaginären Netz zusammenbindet: dem einer Sehnsucht nämlich nicht nach der mythischen Immanenz, sondern nach einer Verbundenheit der Menschen, wie sie einst der Mythos stiftete.
Die in Hölderlins Dichtung beschworene Gemeinschaft ist deutlich als Fiktion gekennzeichnet. Allerdings hält diese Fiktion die Erfahrung des Verlustes und dessen Endgültigkeit umso eindringlicher fest. Genau diese aus der poetischen Konstruktion sprechende Erfahrung des Negativen und Unwiederbringlichen erkennt Adorno als die einzige „Anweisung auf das Wahre, Versöhnte“ (487). Der barocke Gestus des Trotzdem, geschält aus der tief religiösen Hülle des 17. Jahrhunderts, nimmt bei Hölderlin eminent moderne Züge an. Es ist zweifellos die Geschichtsauffassung des Barock gemeint, wenn Adorno anmerkt: „In Hölderlin kehrt die Geschichtsphilosophie sich um, welche Ursprung und Versöhnung in einfachem Gegensatz dachte zur Reflexion als dem Stand der vollendeten Sündhaftigkeit.“ (489) Während im Barock absolute Subjektivität sich im Gottvertrauen auf die Unsterblichkeit ihrer Seele selbst rettet, dazu allerdings das Opfer der Reflexion erbringt, kommt Hölderlin in der Einsicht über die Gefahr einer absoluten Konzeption von Subjektivität Adornos Negativer Dialektik bemerkenswert nahe: Sie liegt in der Naturbefangenheit absoluter Subjektivität, ihrer notwendigen Regression in Naturgesetzlichkeit. Hoffnung liegt daher nicht in einer Rückkehr zum Unwiederbringlichen, Hoffnung besteht vielmehr – trotz dieses Unwiederbringlichen – auf eine Wirklichkeit, in der eine offene und rezeptive Subjektivitätskonzeption möglich wäre. Mystische – auf Passivität und Rezeptivität abstellende – Motive treten mit dem messianischen Motiv der Erwartung[9] zusammen und suggerieren die Möglichkeit einer Subjektivität, die sich nicht hermetisch von der Welt abdichten muss. Adorno betont Hölderlins Distanz zu einer positiven Theologie, deren Utopie der Versöhnung Hölderlins Dichtung lediglich als Ideal in den Dienst nimmt, ohne dass sie sich selbst als deren Surrogat, als Theologie-Ersatz also, konzipiert (478–479). Dabei inauguriere „[d]er idealische Hölderlin [...] jenen Prozess, der in die sinnleeren Protokollsätze Becketts mündet. Das wohl gestattet, Hölderlin heute so unvergleichlich viel weiter zu begreifen als ehedem“ (478–479).
4. Endspiel: Explosion der Metaphysik, Implosion der Subjektivität
Wenn bei Hölderlin das dichterisch-utopische Ideal noch dazu diente, dessen Distanz von der Wirklichkeit sichtbar zu machen, fehlt ein solches Ideal dem Universum Samuel Becketts völlig. Nicht in einem Ideal, das durch seine Abwesenheit negativ auf die Möglichkeit hindeutet, rettet sich hier Metaphysik, sondern in der Negativität selbst: in der Verzweiflung über die Wirklichkeit, wie sie ist. Das vergebliche Warten der Figuren aus den Stücken Becketts registriere diese metaphysische Negativität beispielhaft, heißt es in Adornos Negativer Dialektik (368). Das Ausmaß menschlichen Leids, von Menschen bereitet, macht jeglichen Trost, den positive metaphysische Ideen spenden könnten, zunichte: Die Welt Becketts ist eine post-apokalyptische, in der die Absurdität einer Geschichtsauffassung, die menschliches Leid als Teil eines (göttlichen) Heilsplanes oder seiner respektiven Säkularisierung in der Idee des menschlichen Fortschritts begreift, blank zutage tritt. So manche theologische Konzeption sei nicht zu retten, heißt es lapidar bei Adorno (Negative Dialektik 368). Seine Position kommt aber keineswegs – wie es Albrecht Wellmer in seiner Essay-Sammlung Endgames (171–173) suggeriert – einem deterministischen Nihilismus im Stile Arthur Schopenhauers gleich, in dem überhaupt keine Hoffnung existiert. Die Verzweiflung existiere vielmehr nicht, wenn es keine Spuren von etwas gäbe, das die Hoffnung in eine bessere Welt nährt: „Bewusstsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.“ (Adorno, Negative Dialektik 370) Über Beckett fügt er hinzu: „Gnostisch ist ihm die geschaffene Welt die radikal böse und ihre Verneinung die Möglichkeit einer anderen, noch nicht seienden.“ (374) Hoffnung nährt sich also nicht aus einem positiv gesetzten Ideal, wie es noch bei Hölderlin der Fall war, sondern ausschließlich aus der bestimmten Negation dessen, was in einer menschlicheren Welt nicht mehr sein solle. Um die Relevanz der barocken Geschichtsauffassung für die vorliegenden Überlegungen nicht aus dem Auge zu verlieren, lohnt sich ein Blick auf Samuel Becketts Stück Endgame. Adorno hat dessen Deutung Ende der 1950er Jahre den Essay Versuch, das ‚Endspiel‘ zu verstehen gewidmet. Wie bei anderen Dramen Becketts wartet auch das Publikum von Endgame vergebens auf eine Darstellung der Ereignisse, die sich in einer konsequenzlogischen Handlung entfalten. Diese Abwesenheit eines ästhetischen Sinnzusammenhangs bringt Adorno mit dem metaphysischen Sinn in Verbindung, der – von Aristoteles bis zu den Dramen des Deutschen Idealismus – den ästhetischen Sinn mit Kohärenz auszustatten vermochte. „Die Explosion des metaphysischen Sinns“, dessen Endgültigkeit das 20. Jahrhundert als Zeitalter der Katastrophen besiegelte, fresse die ästhetische Konstruktion von Sinn an und stelle den Kanon der dramaturgischen Formen in Frage. Was Beckett dennoch ästhetisch konstruiere, sei der Un-Sinn. Tatsächlich scheinen sich die Figuren des Endspiels, unbewusst und vergesslich, in einer solchen jeglichen Sinnes baren Umwelt aufzuhalten. Hier tritt die konstitutive Beziehung zwischen einer fixen, mit sich selbst identischen Identität zur Totalität eines Sinnzusammenhangs klar zutage. Bereits im Barock war jener mit Gott von der Bühne der Geschichte abgetreten und hatte damit das Band dieser konstitutiven Beziehung durchschnitten; Sinn hatte sich ins Subjekt geflüchtet und im Bunker einer absoluten Innerlichkeit verschanzt. Becketts Kreaturen kennen auch diesen Sinn nicht mehr: es sind nicht nur vereinzelte, sondern verstümmelte Individuen, die die Bezeichnung Subjekte kaum mehr verdienen. Sogar ihren Namen, so scheint es, wurde die eine oder andere Silbe amputiert. Der blinde Ham, Protagonist des Stücks, ähnelt entfernt dem barocken Tyrannen: Die Inszenierungen platzieren ihn in seinem Rollstuhl wie auf einem Thron – oder umgekehrt. Die Überlegungen Adornos diesbezüglich erinnern an eine Kontinuität mit dem Trauerspiel: „Weil kein Sachverhalt bloß ist, was er ist, erscheint ein jeder als Zeichen eines Inneren, aber das Innere, dessen Zeichen er wäre, ist nicht mehr, und nichts anderes meinen die Zeichen.“ (Adorno, Versuch 292) Wie Phantomschmerzen auf den Verlust des verlorenen Gliedes verweisen, rufen die Handlungsfetzen in Endgame die quälende Abwesenheit von Sinn in Erinnerung. Die in Becketts Stück festgehaltene Erfahrung ist jene von „Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“ (Negative Dialektik 189–206). Das viel zitierte und fast ebenso häufig missverstandene Bekenntnis Adornos zur Solidarität mit dieser hat Albrecht Wellmer zu der Behauptung verleitet, Adorno konstruiere ein „absolutes Negatives“ (171) und verkennt damit fatal jene Negativität, die das bewegende Moment seiner Dialektik ausmacht. Es ist die Negativität einer Verzweiflung über die Immanenz, die sich jeglichem Trost verwehrt. Nur kraft dieser Verzweiflung werden in den Zeichen der Welt, wie sie ist, versprengte Spuren einer besseren lesbar. Sogar die taubblinden Kreaturen Becketts verspüren sie. Obwohl ihre Möglichkeiten, aus dem Zusammenhang der Immanenz auszubrechen, verschwindend gering sind, wäre erst dann alles verloren, wenn sie diese Verzweiflung über den Un-Sinn nicht mehr empfänden. Ihre Klage darüber führt negativ den Index einer anderen Welt mit sich, so Adornos Interpretation, die Benjamins Deutung der Klage der barocken Kreatur verblüffend nahekommt. Während Theologie – positive Metaphysik – die Existenz jener anderen Welt jenseits von Geschichte hypostasiert, liegt ihre Relevanz bei Benjamin und Adorno gerade in ihrer Nicht-Existenz. Negativ zeichnet sie sich in den Schründen und Rissen des Immanenzzusammenhangs, also eben dieser Wirklichkeit, ab.
Der Tod Gottes ist, in diesem Sinne, keine Neuigkeit, denn sowohl für Benjamin als auch für Adorno steht fest, dass Gott als Sinngarant der Totalität der Wirklichkeit bereits im 17. Jahrhundert abgedankt hatte. Die Wirklichkeit selbst als fragmentierte begreifend, kann einem Sinn in den Fragmenten dieser Wirklichkeit, oder vielmehr in deren Konstellation, nachgespürt werden. Daher auch die Faszination, die diese Denker für die Mystik aufbringen, besonders für die lurianische Kabbalah und deren Motiv des Zerbrechens der Gefäße. Das Neue ist, dass die Moderne – das lässt sich am Barock beobachten und kulminiert in Beckett – den Un-Sinn auf das Niveau von Sinn erhoben hat: Wert, die gesellschaftlich notwendige Arbeit, hat sich in das absolute Maß aller Dinge verwandelt, und seine Tyrannei annihiliert, was ihr nicht gerecht wird. Nach wie vor handelt es sich um eine Tyrannei des Subjekts, aber eines automatischen – des Kapitals. Dieses Subjekt darf sich sicherlich keiner Einheit des Bewusstseins brüsten, dennoch bildet es ein einheitliches System, das mittlerweile die Totalität des Globus umfasst. Wer nicht leistet, endet in der Mülltonne wie die Alten aus dem Stück Becketts; wem das Geld ausgeht, wird wie Jimmy in Bertolt Brechts Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny exekutiert; der Rest vegetiert dahin, ohne zu wissen, warum. Metaphysik hatte abgedankt, so schien es; trotzdem tritt sie in dem Moment auf den Plan, in dem sich noch der Horror breit macht angesichts eines Zustandes „wo alle Beteiligten, wenn sie von der nächsten großen Mülltonne den Deckel abheben, erwarten, die eigenen Eltern darin zu finden“ (Adorno, „Versuch“ 311).
Wo die von Gott verlassene Epoche des Barock Trost in der Einheit des Subjekts fand und diese in der Idee der Auferstehung der Seele in die Unsterblichkeit hinüberrettete, winkt den Sterblichen bei Hölderlin Hoffnung vom Ideal einer offenen Subjektivität. Rettung in der Einheit seines Bewusstseins kennt der überforderte Genius Hölderlins nicht mehr, geschichtsphilosophisch steht er an der Schwelle zum Modernismus. Der späte Modernismus Becketts kennt weder Rettung noch Einheit des Subjekts: Er hält die Erfahrung fest, dass der Moment der Rettung versäumt wurde – Explosion der Metaphysik. Die andere Seite der Explosion der Metaphysik ist, nach Adorno, die Implosion des Subjekts: „Dissoziation der Bewusstseinseinheit in Disparates, die Nichtidentität“ (Adorno, „Versuch“ 294), ist die Folge. „Sobald aber das Subjekt nicht mehr zweifelsfrei mit sich identisch, kein in sich geschlossener Sinnzusammenhang mehr ist, verfließt auch seine Grenze gegen das Auswendige, und die Situationen der Innerlichkeit werden zu solchen der Physis zugleich.“ (294) Das ist der Umschlag der absoluten Innerlichkeit in Mythos, dessen Gefahr schon Lohenstein und Gryphius in der Figur des entscheidungsunfähigen Tyrannen, der der Willkür seiner naturhaften Affekte hilflos ausgeliefert ist, vorwegnahmen.
Dass Geist und Natur sich im Subjekt kaum mehr unterscheiden, ist aber nicht deren Versöhnung geschuldet – diese bleibt weiterhin auf unbestimmte Zeit vertagt. Vielmehr braucht der späte Monopolkapitalismus keine autonomen Subjekte mehr,[10] die gerade erst im 17. Jahrhundert Bewusstsein von sich selbst erlangten und deren idealtypische Ausprägung der bürgerliche Kapitalist des 19. Jahrhunderts darstellte. Für Adorno ist das Endspiel das Nachspiel der Subjektivität („Versuch“ 303).
Mit ihr verliert das Drama seinen Helden, und „von Freiheit kennt es nur noch den ohnmächtigen und lächerlichen Reflex nichtiger Entschlüsse“ (303). Tektonik hat sich verabsolutiert. Beckett parodiert die Tätigkeit, die nur um ihrer selbst willen verrichtet wird; die Mittel, die sich als Zwecke gebärden. Die Entschlussunfähigkeit des Souveräns, die schon im Barock eine mentale Situation war, dehnt sich nun auf dessen entstellten Körper aus, der nicht dazu in der Lage wäre, einen Entschluss auszuführen. Doch die fragmentierten Ichs des Beckett’schen Personals, wenn sie noch den Namen Ich verdienen, könnten sich ohnehin zu keiner Entscheidung durchringen. Indes automatisiert Technokratie sogar die Idee staatlicher Souveränität. Lückenlose Verwaltung zur Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktion um ihrer selbst willen parodiert jegliche Kategorie von Sinn. So lange es allerdings noch Verzweiflung über diesen Zustand gibt, solange noch eine Frage nach dem Sinn und eine Klage über den Un-Sinn laut wird, gibt es auch Hoffnung. Das Infragestellen öffnet die Möglichkeit von Sinn. Adorno rettet es vor der „geweihte[n] Sprache“ der Existenzialontologie. Er nennt es „[d]as implizite Jedennoch. Krypto-Theologie“ (Adorno, zit. n. Tiedemann 31).
5. Coda
Adorno hatte das Gewaltvolle an den barocken Kunstwerken bemerkt: Er stellt fest, dass die bis ins kleinste Detail planvolle Ausführung der barocken Kunstwerke eine tiefe Wunde verbarg – „Male des Mißlingens“ (420) des „letzten gelungenen Stil[s]“ (420). Doch gerade der Blick auf diese Wunde eröffnet das kritische Potenzial, das im Barock verborgen liegt: Es liegt im Eingeständnis eines Konflikts zwischen dem modernen Innen und Außen, zwischen dem affektiven Subjekt und seiner Entäußerung, die ihm als etwas Objektives, Naturgesetzliches, entgegentritt. „Die Objektivität des Selbstgemachten übertäubt, daß es bloß selbstgemacht ist“ (Adorno, „Der missbrauchte Barock“ 421). So findet Adorno in der barocken Kunst das Dilemma vorgezeichnet, das das zentrale Dilemma der revolutionären politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts war: Der Mensch macht seine eigene Geschichte, so Karl Marx in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonapartes, aber er macht sie nicht aus freien Stücken. Wie naturwüchsige stellen sich ihm die Produkte vergangener menschlicher Arbeit entgegen. Das selbstgemachte System tut ihm Gewalt an nach objektiven Gesetzlichkeiten, die in der Tat nicht mehr als Produkte von Subjektivität erkennbar sind. Adorno hatte im neunzehnten Jahrhundert das Umhergeistern eines „versprengten Barock[s]“ („Rede“ 515) beobachtet, in den Romanen Dickens wie in der „scheinbar so individualistischen Philosophie Kierkegaards“ (515–516). Die barocke utopische Intention zielt darauf, die Möglichkeit eines „Lebensraums“ (515–516) und dessen objektiver Strukturen zu erkennen, der „von sich aus alle Objektivität in Subjektivität auflösen möchte.“ (516) Eingesprengt ist diese Hoffnung auch noch in den Kunstwerken des 20. und 21. Jahrhunderts, in Gestalt jenes Impliziten Trotzdem, das in der Wunde und in dem Verpassen der Chance die Möglichkeit liest, dass es auch anders sein könnte. Unverständlich und ungreifbar gibt es sie trotz der Verzweiflung über die herrschende Ordnung, in der das Erhoffte nicht vorgesehen ist. Mehr noch, sie muss durch diese Verzweiflung durchgehen, anstatt das Schreckliche als Notwendigkeit, als gerechte Strafe oder als Station des Martyriums auf dem Heilsweg des Fortschritts zu verklären. Denn erst wo der Horror normalisiert wäre, gäbe es keine Hoffnung mehr.
Bibliografie
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