Olga Katharina Schwarz: Rationalistische Sinnlichkeit. Zur philosophischen Grundlegung der Kunsttheorie 1700 bis 1760. Leibniz – Wolff – Gottsched – Baumgarten (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 102 [336]). Berlin und Boston: De Gruyter, 2022. 370 S.
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Olga Katharina Schwarz: Rationalistische Sinnlichkeit. Zur philosophischen Grundlegung der Kunsttheorie 1700 bis 1760. Leibniz – Wolff – Gottsched – Baumgarten (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 102 [336]). Berlin und Boston: De Gruyter, 2022. 370 Seiten.
Seit gut 30 Jahren ist in der Philosophiegeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts die Bemühung zu beobachten, das Denkschema einer Entgegensetzung von „Empirismus versus Rationalismus“, so der Titel des 1996 erschienenen Buchs von Hans Jürgen Engfer,[1] zu kritisieren und zugunsten übergängiger Betrachtungsweisen von Sinnlichkeit und Verstand zu relativieren. Gerade im Blick auf den Charakter der Philosophie Christian Wolffs, in dessen „Windschatten“ noch Kant stehe, wurde gegenüber dem Vorurteil, Wolff sei ein kruder Rationalist, sein „lebendiges“, doch bis dahin „zu wenig“ beachtetes „Interesse an den Erfahrungswissenschaften“ in Erinnerung gerufen.[2] Insbesondere Günter Mühlpfordt hatte aufgrund der Verknüpfung einer experimentell-empirischen Arbeitsweise mit kritisch-prüfender Vernunft in Wolffs naturwissenschaftlichem Werk früh von einem „empiriorationalistische[n] Wissenschaftssystem“ gesprochen.[3] Zwar hat sich, soweit ich sehe, der Begriff ‚Empiriorationalismus‘ zur Bezeichnung für Wolffs Ansatz bis heute nicht durchsetzen können, doch wird im Blick auf den ‚Wolffianismus‘ die Rolle von Empirie, namentlich bei der Naturerkenntnis, z. B. bei der Abkoppelung der empirischen von der rationalen Psychologie, und Sinnlichkeit, etwa im Kontext der Künste, zunehmend gewürdigt.[4] Doch stellt Olga K. Schwarz zu Recht fest, dass sich solche Erkenntnisse in der Literaturwissenschaft erst langsam durchsetzen (vgl. 50). Die große Leistung ihrer vorzüglichen Berliner Dissertation besteht darin, die zuvor skizzierte Forschungsdynamik, in der das von Wolff selbst herausgestellte „Connubium rationis & experientiae“[5] Leitschnur ist, nicht nur aufgegriffen, sondern vielmehr umfassend vertieft und minutiös analysiert zu haben. Wie Rationalität und Sinnlichkeit komplementär bzw. analog aufeinander bezogen sind, wird in Hinsicht auf epistemologische Grundlagen, moralphilosophische Konsequenzen und kunsttheoretische Tragweite in den einschlägigen Werken Wolffs und seiner Schüler Johann Christoph Gottsched und Alexander Gottlieb Baumgarten detailliert, quellennah und in bemerkenswert kenntnisreicher Auseinandersetzung mit der weit (bis Robert Zimmermann, Heinrich von Stein oder Alfred Baeumler) zurückreichenden, von gegenläufigen Bewertungen gekennzeichneten Sekundärliteratur durchdekliniert. Entsprechend ist das Buch in drei Kapitel (I. Erkenntnislehre, II. Moralphilosophie und III. Kunsttheorie) geteilt, in denen wiederum in thematisch gegliederten Unterkapiteln die Positionen Wolffs, Gottscheds und Baumgartens in ihren Übereinstimmungen und Unterschieden vergleichend analysiert werden. Ein Verzeichnis der Quellen- und Forschungsliteratur sowie ein Personenregister schließen das Werk ab. Angesichts der feingliedrigen Argumentation der Verfasserin muss die Besprechung notgedrungen summarisch verfahren.
Der genannte dreiteilige Aufbau wird durch eine „Aurora“ bezeichnete Einleitung, in der die Sekundärliteratur mit ihren schematischen Festschreibungen diskutiert und der Aufbau der Arbeit vorgestellt wird, und einen „Dämmerung“ genannten Epilog gerahmt. Hierin wird die rationalistisch-sensualistische Kohabitation in der wolffschen Psychologie und Kunsttheorie sowie das darin inhärente ästhetische Habitualisierungskonzept wie schon im Hauptteil zuvor (vgl. 6, 47) nochmals als Möglichkeitsbedingung der moral-sense-Rezeption (Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Francis Hutcheson) akzentuiert und dessen Fortwirken bei Johann Georg Sulzer, Joachim Heinrich Campe, Friedrich Schiller, Karl Philipp Moritz, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Wolfgang Goethe skizziert. Die Überschriften der Rahmung spielen in raffinierter Weise mit der Formel aus den Prolegomena von Baumgartens Aesthetica „Ex nocte per auroram meridies“ (§ 7), in der das grundlegende Voraussetzungssystem ‚rationalistischer Sinnlichkeit‘, die von Leibniz in den „Meditationes de cognitione, veritate et ideis“ herausgestellte Stufenleiter der Erkenntnisgrade (s. Kap. I, 3.1, 117–120), durchscheint. Das Bild des Sonnenaufgangs war Baumgarten durch den Leibniz-Übersetzer Heinrich Köhler vermittelt worden (s. 7, Anm. 30, wo Schwarz einen Hinweis von Clemens Schwaiger aufgreift, ohne ihm jedoch weiter nachzugehen). Köhler, den Baumgarten in Jena gehört hatte, illustrierte im Sinne des Axioms Natura non facit saltus den Satz „Vor der deutlichen Erkäntniß muß die Undeutlichkeit vorhergehen“ mit den Worten „Vor dem völligen Aufgange der Sonnen gehet die Dunckelheit, Demmerung und Morgenröthe her.“[6] Bei Baumgarten fungiert das Bild der Morgendämmerung als Metapher für den Übergang von konfuser, aber klarer zu deutlicher Erkenntnis, der in der deutschsprachigen Kollegnachschrift wie folgt umschrieben wird: „In der Natur ist nicht jetzt Nacht, und dann folgt heller Mittag, sondern es ist eine Dämmerung dazwischen. So haben wir nicht gleich hellen Mittag der Kenntnis, sondern die Verwirrung als Dämmerung ist dazwischen.“[7] Dass der unbekannte Verfasser der Nachschrift den lateinisch mit dem Wort ‚Aurora‘ gefassten Vorgang doppeldeutig als ‚Dämmerung‘ bezeichnet, öffnet Schwarz die Möglichkeit, Anfang und Ende ihrer fulminanten Untersuchung kurzzuschließen. So spannt sie einen Bogen von der Ästhetik rationalistischer Sinnlichkeit, namentlich der darin aufgehobenen Erkenntnisstufenleiter Leibniz’, bis hin zur abschließend aufgegriffenen „Ästhetik der Dämmerung“ (340) Goethes, wie sie in dessen Sturm-und-Drang-Aufsatz „Von deutscher Baumkunst“ (Nov. 1772) umrissen wird. Darin wird vor Augen gestellt, wie die tagsüber deutlich geschauten Details des Straßburger Münsters in der „‚Abenddämmerung [...] zu ganzen Massen schmolzen‘“ (zit. 340).
Wie sich hier andeutet, gründet sich Schwarz’ Argumentation auf drei Einsichten der älteren Forschung, und zwar, dass Leibniz’ Lehre von der Stufenfolge der Erkenntnis „Ausgangpunkt“ und „Rahmen“ der hier verfolgten Erkenntnislehre sei, dass diese zu einer „Emanzipation der Sinnlichkeit“ führe und dieser Umstand wiederum zu einer „neuen ‚philosophischen Anthropologie‘“ des ‚ganzen Menschen‘ hinleite.[8] Diese Stichpunkte Cassirers hatten schon vor knapp 25 Jahren auf die „Aktualität“ der Ästhetik Baumgartens gelenkt.[9] Aber Olga K. Schwarz verschiebt die Gewichte bei der „Aufwertung“ (6, 9, 10, 112 und passim) bzw. „Neubewertung“ (38, 111 und passim) und der kunsttheoretischen „Instrumentalisierung der Sinnlichkeit“ (48) von Baumgarten auf seine Vorgänger. Die Stellung der Sinnlichkeit in den Werken Wolffs, Gottscheds und Baumgartens wird umfassend rekonstruiert. Dabei führt die Untersuchung der verschiedenen Gewichtungen, die die drei Autoren hinsichtlich der „Komplementarität von Sinnlichkeit und Verstand“ (128) vornehmen, zum Ergebnis, dass sie nicht als „Repräsentanten eines einheitlichen Rationalismus“ angesehen werden können (59). Zwar erweist sich Baumgartens Kunsttheorie als Lösung der bei seinen Vorgängern herauspräparierten Widersprüche, aber das ‚Bahnbrechende‘, das seiner Ästhetik zugesprochen worden ist, wird doch namentlich zugunsten von Wolff zurückgenommen. Die „Qualifikation von Baumgartens Leistung als ‚bahnbrechend‘ ist zu relativieren.“ (50) Mit diesem Urteil greift Schwarz auf die ältere Einsicht Baeumlers zurück, dass das Unternehmen Baumgartens im Zusammenhang mit der Erkenntnislehre Wolffs „‚alles Auffallende‘“ verliere (zit. 51, Anm. 12). Gerade Wolff gewinnt an Statur, insofern er die Sinnlichkeit keineswegs, wie man in der Literaturwissenschaft lange glaubte, nur negativ bewertete. Die ‚emotionalistische Wende‘ der Ästhetik und Kunsttheorie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so die gut unterfütterte These des Buchs, habe „nicht gegen, sondern dank und mit den sogenannten ‚Rationalisten‘ stattgefunden“ (48). Ihre Werke böten keine Vorgeschichte, vielmehr bildeten ihre Analysen der „‚rationalistische[n] Sinnlichkeit‘ [...] den Ausgangspunkt der Kunsttheorie im 18. Jahrhundert“ (10, vgl. 48).
Das erste, der Untersuchung der Erkenntnislehre Wolffs, Gottscheds und Baumgartens gewidmete Kapitel steht unter dem Leitsatz „‚Unser Verstand ist niemahls rein‘“ aus dem Psychologie-Kapitel von Wolffs Deutscher Metaphysik (zit. 120). Dargestellt wird zunächst das je spezifische Verhältnis zu Leibniz in Hinsicht auf dessen Aussagen zum Leib/Seele-Verhältnis, zur Monadologie und zur Erkenntnisstufenlehre. Herausgestellt wird weiterhin, dass Wolff einen weitläufigen Verstandesbegriff, der die oberen und unteren Teile des Erkenntnisvermögens umfasst, von einer engeren Begriffsverwendung unterscheidet. Diese bezieht sich einerseits „als eine Art Basisvermögen“ auf die oberen, deutlich erkennenden Vermögensteile insgesamt, andererseits als ein einzelnes oberes Vermögen, das von der Vernunft, die als das höchste obere Erkenntnisvermögen in der Lage ist, Schlüsse zu ziehen und den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen, unterschieden wird (52–53) – freilich erst in der Deutschen Metaphysik, noch nicht in der mehrere Jahre zuvor publizierten Deutschen Logik, in der ‚Vernunft‘ noch ein überflüssiges Wort zu sein schien. Das Beispiel mag genügen, um anzudeuten, wie akribisch Schwarz bei ihren Autoren jeweils in die Materie eindringt, stets verschiedene Quellentexte, bei Wolff u. a. auch umfassend die Psychologia empirica, heranzieht, die darin mitunter zum Ausdruck kommenden Entwicklungstendenzen markiert und dabei immer wieder die divergierenden Meinungen der Sekundärliteratur diskutiert. Entscheidend ist für Wolff die von ihm postulierte „Korrelation“ (so die Unterkapitelüberschrift, 79), „Komplementarität“ bzw. „gegenseitige Bedingtheit“ von Sinnlichkeit und Verstand“ (101). Ihr wohnt jedoch eine signifikante „Ambiguität“ inne (101), insofern die unteren Vermögensteile, namentlich im Blick auf die ars inveniendi der Erfahrungs- und Versuchslehre, zwar einerseits als notwendige Erkenntnisquellen der oberen fungieren, letztere andererseits aber auch stören und zum Verhängnis werden können (100–101). Diese Ambivalenz wird in dem zweiten, der moralphilosophischen bzw. handlungstheoretischen Rolle von Sinnlichkeit und Verstand geltenden Kapitel bei der Bewertung von Wolffs Gewissensbegriff entscheidend sein. Zwar folgt Gottsched in der Weltweisheit (2 Bde, 1733/1734 u. ö.) Wolffs Einsicht einer Komplementarität der unteren und oberen Erkenntnisvermögen, räumt diesen jedoch vor jenen eine „Vorrangstellung“ (106) ein. Auch Baumgarten folgt – entgegenstehenden Ansichten, denen Schwarz jedoch „nicht zustimmen“ (106, Anm. 339) kann, zum Trotz – grosso modo den vermögenspsychologischen Vorgaben Wolffs. Er spricht jedoch nicht mehr von unteren und oberen Vermögensteilen, sondern von zwei eigenständigen Vermögen, die er auch nicht länger komplementär, sondern analog aufeinander bezieht. Baumgarten weitet den schon zuvor gebräuchlichen Begriff eines analogon rationis (für ‚vernunftähnliches‘, auf die Erwartung ähnlicher Fälle bezogenes unteres Vermögen, vgl. 91–93) aus, indem er dem oberen Erkenntnisvermögen mit dem unteren „ein sinnliches Pendant“ an die Seite stellt, das Sammelbecken jener Seelenvermögen wird, die die Dinge nicht deutlich (distinkt), sondern nur verworren (konfus) oder dunkel (obskur) vorstellen (110). Mit Ausnahme des Dichtungsvermögens (facultas fingendi) haben alle sensitiven Einzelvermögen des analogon rationis intellektuelle Entsprechungen, d. h. Ästhetik und Logik weisen eine analoge Architektur auf. Dieser Vorgang, wertet Schwarz, bedeute eine „entschiedene Anerkennung des Potentials der Sinnlichkeit“ – sie werde „‚rationalisiert‘ und dadurch aufgewertet“ (111).[10] Es öffnet sich die Möglichkeit, den Bereich des je ne sais quoi philosophischer Begrifflichkeit zugänglich zu machen.
Der Rezeption der Erkenntnisstufenlehre Leibniz’ und ihrer Modifikation ist ein eigenes Unterkapitel gewidmet (I 3, 114–148). Darin wird u. a. die Bedeutung der cognitio historica für den von Wolff angestrebten Ausbau der Erfahrungs- und Versuchskunst herausgearbeitet. Sein eigenes empiristisches Vorgehen, so wird ein neuerer Forschungsbeitrag zustimmend erwähnt, sei noch weitgehender als der Ansatz Lockes (127), dessen Seelenverständnis als tabula rasa Wolff jedoch abgelehnt hat (94). Akzentuiert wird Herkunft und Bedeutung von Baumgartens sensitivus-Begriff, dessen Extension die gesamten Vorstellungen, die unter der Schwelle der Deutlichkeit bleiben, umfasst. Die Bezeichnung geht wohl auf die Verwendungsweise in Gottscheds Weltweisheit zurück, wobei wiederum Leibniz’ Charakteristik der Tierseelen als ‚ames sensitives‘ Pate gestanden haben könnte. Eingehende Analysen gelten neben der in den Meditationes (1735) eingeführten Unterscheidung extensiv klarer und intensiv klarer Vorstellungen, die entscheidend für Baumgartens Poetizitätskonzept ist, sowie den unterschiedlich perspektivierten Modi der Wahrheit. Im Zusammenhang der Lebhaftigkeit (vividitas) extensiv klarer Vorstellungen wird auch die Rolle der Rhetorik, die Baumgarten ihr im Rahmen der Ästhetik einräumt, thematisiert, insofern Lebhaftigkeit Bedingung für die Erzeugung rhetorischer evidentia ist (140, Anm. 557). Doch ist Schwarz weit davon entfernt, Baumgartens Ästhetik als die „wiedergewonnene Rhetorik Quintilians“ zu bewerten, wie es in einer ganz anders ausgerichteten Forschungsrichtung geschieht, in der entgegen den Prioritäten des hier besprochenen Werks das im zweiten, 1758 publizierten Teil der Aesthetica eröffnete „Feld der figurae cryptica“ gegenüber den „bêtisen der Sinnlichkeits-Debatte“ entscheidendes Gewicht erhält.[11] Insgesamt kann Schwarz festhalten, das Baumgarten Wolffs Impuls zum Ausbau der Erfahrungskunst aufgreift, insbesondere dadurch, dass er der Ästhetik Übung, Ausbildung und Kultivierung der Sinnlichkeit als Aufgabe zuweist. Dagegen bleibt Gottsched der Sinnlichkeit gegenüber skeptisch, indem er die „Vernunft dezidiert über“ sie stellt (147).
Die bisherigen Akzente, mit denen die je unterschiedlich gewichtete Korrelation von Sinnlichkeit und Verstand bei Wolff, Gottsched und Baumgarten ausgezeichnet wurden, prägen auch die im zweiten Kapitel verfolgte Moralphilosophien bzw. Handlungstheorien der untersuchten Autoren. Zwar ist auch auf diesen Gebiet die, wie es nun heißt, „Kollaboration von Verstand und Sinnlichkeit“ (159) grundlegend, aber diese ist namentlich bei Wolff, dessen Gewissenstheorie, wie Schwarz herausarbeitet, aporetisch bleibt (vgl. 188–191), nicht ohne Spannung und Tücken, da nur eine lebendige, d. h. von sinnlichen Vorstellungen stimulierte bzw. motivierte Erkenntnis zur Handlung führt.[12] Daher liegen in der genannten Zusammenarbeit „Fluch und Segen für das moralisch verantwortungsvolle Handeln“ (184) – ‚Fluch‘, da die Sinnlichkeit stets irrtumsanfällig ist, ‚Segen‘, da die Sinnlichkeit eine große Triebkraft ist und die Möglichkeit eröffnet, die durch Kunst erregten unteren Erkenntnis- und Begehrungskräfte, Einbildungskraft und Affekte, salopp gesagt, vor den Karren der Moral zu spannen. Die Kunst, insbesondere die Dichtung erhält einen „Erziehungsauftrag“ (so die Unterkapitelüberschrift, 192) – und es ist Wolff, der „den Grundstein für eine Instrumentalisierung der Poesie durch die Philosophie“ (193) legt, insofern er insbesondere die Wirkungskraft fiktiver Exempel in fabula oder in Schauspielen zur Legitimation der Poesie anführt. Die Aufführung von Lust- und Trauerspielen wird deswegen als fester Bestandteil eines Staatswesens „verankert“ (200) – freilich nur, sofern sie nicht, wie in der Deutschen Politik eingeschränkt wird, vom Pfad der Tugend abführen. Darin wird Gottsched, der „die sittliche Erziehung zum Hauptziel der Poesie erhebt“ (193), Wolff folgen – und noch Sulzer (vgl. 321–325) und der Schiller der Schaubühnenrede (vgl. 334–335) werden dies tun. Angesichts der in der Forschung umstrittenen Frage, welche Rolle Baumgarten der sittlichen Erziehung in der Ästhetik zubilligt, zielt Schwarz darauf, die darin bezweckte Übung und Ausbildung der Sinnlichkeit per se als „ethisch im eigentlichen Sinn“ (209) auszuweisen. Der felix aestheticus tritt in die Fußstapfen des vir bonus-Ideals der alten Rhetorik.
Mit dem im zweiten Kapitel herausgearbeiteten ‚Segen‘, den die Sinnlichkeit potentiell für Kunst und Dichtung bedeutet, ist die entscheidende „Schnittstelle[n]“ zur Kunsttheorie zu Beginn der Aufklärung gegeben, der das dritte Kapitel gewidmet ist. Hervorzugeben ist hier zunächst die Absicht, eine „Synthese“ (225) der verstreuten Äußerungen Wolffs zur Kunsttheorie zu geben, wobei u. a. dessen frühe Skizze Anfangsgründe der Baukunst (1717) herangezogen wird. Insgesamt ziele Wolff auf einen „Mittelweg zwischen einem objektiven und einem subjektiven Schönheitsbegriff“ (243), doch führe der Versuch, Schönheit als Resultat subjektiver Rezeption und objektiver Werkvollkommenheit zu konzipieren, zur Spannung zwischen sinnlicher und deutlicher Erkenntnis (vgl. 246). Gerade der „Ausschluss des Wunderbaren“ (253) aus den Künsten, d. h. die Einhegung der Einbildungskraft in die Grenzen des zureichenden Grundes und der Vernunft, unterstreichen Wolffs Neigung zur „Rationalisierung“ (257) sinnlicher Prozesse, ungeachtet dessen seine Definition des Romans in der Deutschen Metaphysik als einer „‚Erzehlung von etwas, so in einer andern Welt sich zutragen kann‘“ (zit. 263), Gottscheds Fabelbegriff der Critischen Dichtkunst und Lessings Definition der poetischen Fabel zugrunde liegen wird. Gerade bei Lessing sind die Wolffanleihen darüber hinaus im Blick auf den dramatischen Handlungsbegriff im Laokoon und die Welt-Werk-Relation als ‚Schattenriß‘ in der Hamburgischen Dramaturgie (79. Stück) unübersehbar. Für Gottsched arbeitet Schwarz, eine treffende Formulierung aus der Forschung aufgreifend, heraus, dass seine an Wolff ausgerichtete ‚Regelpoetik‘ „‚den Keim ihrer eigenen Subversion‘“ (Dietmar Till, zit. 270) in sich trage, da seine auf die Affektrhetorik von evidentia und si vis me flere-Prinzip ausgerichtete Wirkungsästhetik der Rezipientenillusionierung das „sinnliche Wirkungspotential der Dichtung“ (282) voll ausspielt. Am Beispiel von Gottscheds Geschmacksbegriff wird das „subversive Potential“, das die Ausrichtung seiner Poetik an der Vernunft aufsprengt, enggeführt. Einerseits ist Geschmack für ihn eine nur klar, d. h. nicht deutlich empfundene Vollkommenheit bzw. Unvollkommenheit, andererseits ordnet er ihn nicht den Sinnen zu, sondern rechnet ihn in Auseinandersetzung mit Dubos’ sentiment-Begriff in den Réflexions critiques (1719) zum Verstand (vgl. 302–303).
Sowohl bei Wolff als auch bei Gottsched hält Schwarz die Spannungen bei den Versuchen, Sinnlichkeit und Verstand zu korrelieren, fest, um schließlich Baumgarten als denjenigen zu präsentieren, der sich anschickt, die „inhärenten Widersprüche“ und „Unstimmigkeiten“ in Wolffs Kunstkonzeption und Gottscheds Poetik „aufzulösen“ (310). Er tut dies dadurch, dass er die sich bereits bei Wolff und Gottsched andeutende, aber problematisch bleibende Verschiebung des Definitionskriteriums des Schönen vom Werkgegenstand in dessen Rezeption vollendet. Schönheit ist nicht länger (sensu Wolff) sinnliche Erkenntnis der Vollkommenheit bzw. (sensu Gottsched) in die Sinne fallende Vollkommenheit, sondern „perfectio cognitionis sensitivae“ (zit. 312). Dadurch, dass Schönheit als „‚Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‘“ (312) begriffen wird, tritt der „Rezeptionsvorgang [...] an die Stelle des Gegenstands“ (312) – die schöne Kunst bleibt aber, so war zuvor im Gegensatz zur „Gefühlsästhetik“ Dubos’ betont worden, an einen „sittlichen Anspruch“ gebunden (217–218).
Olga K. Schwarz ist bestrebt, die Prägekraft der Wolffʼschen Psychologie als Begünstigungsbedingung und Weichenstellung für die Rezeption der moral-sense-Theorie und den Ausbau einer „‚Ästhetik des Emotionalismus‘“ (Alberto Martini, zit. 335) in der Kunsttheorie im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts geltend zu machen. Daher kommt sie immer wieder darauf zurück, die Analyse ‚rationalistischer Sinnlichkeit‘ mit dem sensualistischen Ansatz Dubos’ zu vergleichen und dabei, ihrem Vorsatz entsprechend, die Entgegensetzung rationalistischer und sensualistischer Ansätze als „vergeblich“ (16) zu erweisen und die „Überschneidungen der beiden Positionen“ (305) zu akzentuieren. Gemeinsamkeiten sieht sie u. a. in der auf Vergnügen (235–240) und Rührung (204 und 217–218) abstellenden Wirkungsästhetik und der Folgenlosigkeit künstlerisch hervorgerufener Affekte (206). Der entscheidende Unterschied besteht daher nicht in der Einstellung gegenüber den Affekten, sondern, wie mehrfach konzediert wird, in den moralischen Vorgaben, die Wolff, Gottsched und Baumgarten mit den Künsten verbinden (239–240). Die moralische bzw. ethische Instrumentalisierung der Sinnlichkeit für die Moral scheint mir jedoch, anders als Schwarz das sieht, gerade der entscheidende Hinderungsgrund gewesen zu sein, der der Rezeption von Dubos’ Emotionalismus entgegenstand. Die Auflösung des ‚Rätsels‘ tragischer Lust, die bei Dubos Ausgangspunkt der Überlegungen war, gelang dem ‚Vollkommenheitsmann‘ Mendelssohn im Rahmen seiner Theorie vermischter Empfindungen nach mehreren Anläufen jedenfalls erst in der zweiten Fassung der Rhapsodie 1771. Dass Künste und Dichtung im protestantisch-mitteldeutschen Raum der Frühaufklärung im Gegensatz zu Dubos, dessen geschichtlicher Ort die katholisch dominierte Zerstreuungskultur des von ‚ennui‘ geplagten Publikums von la cour et la ville (Erich Auerbach) war, einen ‚Erziehungsauftrag‘ erhielten, scheint – stärker als Schwarz es berücksichtigt – am theologischen Kontext gelegen zu haben. Jedenfalls ist in neuerer Forschung die Verbindung von Ästhetik mit moralischer bzw. ethischer Erziehung im Blick auf Baumgarten auf das pietistische Umfeld in Brandenburg-Preußen zurückgeführt und zugleich eine Brücke zu ganz ähnlichen Entwicklungen, die zur moral-sense-Theorie bei Shaftesbury und Hutcheson geführt hatten, geschlagen worden.[13] War schon vor mehr als 20 Jahren bedauert worden, dass Baumgartens Ästhetik auf pietistische Motive „noch nicht genauer untersucht worden“[14] sei, bleibt auch nach Schwarz eine solche Untersuchung Desiderat. In der vorliegenden Arbeit wird die Frage, inwieweit zeitgenössische theologische Debatten gerade Baumgartens Sinnlichkeitskonzept beeinflusst haben könnten, ausdrücklich „nicht diskutiert“ (7, Anm. 30). So bleibt für weitergehende interdisziplinäre Erkundungen noch Spielraum – etwa, was alles konnotiert wird, wenn die zum unteren Begehrungsvermögen gehörenden Affekte sinnlicher Begierde und Abscheu zusammen mit dem unteren Erkenntnisvermögen „‚das Fleisch genannt‘“ („‚caro dicitur‘“) (zit. 175) werden.[15]
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