Werkstattberichte
-
Hubert Locher
Titelbilder sind Merkbilder. Sie verdienen schon deswegen besondere Aufmerksamkeit im Prozess der Gestaltung eines Zeitschriftenheftes. Eines späteren Tages wird man sich vielleicht erinnern, diesen oder jenen Beitrag zu einem spannenden Sachverhalt gelesen zu haben, ohne das Jahr oder die Nummer noch zu wissen, aber vielleicht ist doch das Motiv des Titelbildes der entsprechenden Ausgabe im Gedächtnis geblieben. Jenes des aktuellen Doppelheftes, mit dem wir den Jahrgang 2022 unserer Zeitschrift beschließen – den ersten in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kunstverlag –, dürfte besonders markant sein. Es handelt sich um das bestechend originelle (Selbst-)Porträt einer Fotografin – der jungen Annelise Kretschmer, geborene Silberbach (1903–1987). Mit Kamera ist sie auf einem Tisch knieend in nach vorne drängender Pose konzentrierten Fotografierens abgelichtet, die aufgeklappte Balgenkamera auf ihrem linken Oberschenkel sicher abgestützt, den Fernauslöser in der Rechten. Alles auf diesem Bild ist genussvoll inszeniert: Die Fotografin trägt ein zweiteiliges Streifenkleid mit passenden Schuhen, ebenso modisch ist ihr Haarschnitt, eine asymmetrische Variante des Bob, Zeichen der emanzipierten, modebewussten „Neuen Frau“, die sich hier mit Vergnügen und Energie bei der Arbeit zeigt.
Der Vintage-Abzug hat besonderen Wert, ist er doch Teil des Nachlasses von Annelise Kretschmer aus der Zeit der Weimarer Republik, zu dem die Negative im Krieg verloren gingen. Die Übernahme des Bestandes der noch bis 1978 erfolgreich tätigen Fotografin in das LWL Museum für Kunst und Kultur in Münster wird im vorliegenden Heft in einem ‚impressionistischen‘ Arbeitsbericht von Stephan Sagurna beschrieben, der die typischen Arbeits- und Verwaltungsschritte schildert, die bei dergleichen Vorhaben anfallen, aber selten ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangen (S. 40–50).
Einblicke in offene Forschungsfelder und laufende Arbeiten mit konsolidierten Ergebnissen geben die Beiträge in der Rubrik „Mediengeschichte“. Gloria Köpnick präsentiert zwei Fotoalben des Bauhauslehrers Lyonel Feininger (1871–1956) (S. 8–19). Es handelt sich um private Bildsammlungen mit teils von Feininger angefertigten Aufnahmen, die neben ihrem privaten Zweck auch für sich genommen einmalige, mit Fotografien gestaltete Objekte darstellen. Mit deren erstmaliger Zusammenschau möchte die Autorin dazu anregen, die Fotografie im Schaffen Feiningers weiter zu erkunden. Mit dem Text von Marie-Agathe Simonetti zum Offizier und französischen Autochrompionier Léon Busy (1874–1951) können wir einmal mehr einen Forschungsbeitrag zur frühen Farbfotografie präsentieren. Die Autorin gibt Einblick in ihr Dissertationsprojekt und behandelt den speziellen Fall eines Amateurs, dessen Arbeiten aus Französisch-Indochina in den Kontext kolonialer Propaganda eingeordnet werden (S. 20–30).
In die Werkstatt eines Fotoarchivs führt uns Marco Rasch, der über die digitale Erschließung eines Bestandes von 4 500 gerahmten Stereofotografien durch die Saxonia-Freiberg-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Deutschen Fotothek in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek (SLUB) Dresden berichtet. Er führt vor Augen, dass für den Bergbau die Erfassung räumlicher Tiefe – in buchstäblichem Sinn – von Belang ist. Die Leserinnen und Leser der gedruckten Ausgabe des „Rundbrief Fotografie“ können mit der beiliegenden Anaglyphenbrille, welche die SLUB bereitstellt, den Effekt an einigen Abbildungen selbst nachvollziehen (S. 31–39).
Über die „visuelle Autoethnografie“ als eine Methode qualitativer Sozial- und Kommunikationsforschung reflektiert Evelyn Runge anlässlich ihrer Teilnahme an einem praktischen Workshop mit dem Magnum-Fotografen Nikos Economopoulos (*1953). Der Bericht bietet sehr persönliche Einblicke in die Arbeitsweise aktueller Fotografieforschung (S. 64–73).
Aus gegebenem Anlass sei schließlich mit Kurt Deggellers Besprechung die Lektüre von Peter Pfrunders „Geschichte der Fotostiftung Schweiz“ empfohlen (S. 74–79). Die wechselvolle Entwicklung dieser für die Archivierung und Erforschung der Fotografie in der Schweiz so wichtigen nationalen Institution dürfte manch lehrreichen Aspekt im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten zur Einrichtung einer mit vergleichbaren Aufgaben betrauten Instanz in Deutschland bereithalten, die – gemäß jüngsten politischen Beschlüssen und Verlautbarungen – nun doch ihren Ort in Düsseldorf finden soll. Mit diesem „Deutschen Foto-Institut“ werden wir uns sicherlich im „Rundbrief Fotografie“ in nächster Zeit befassen und möchten unsere Spalten für die weiteren – dringend nötigen – Diskussionen, Meinungsbekundungen und Reflexionen offenhalten.

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Editorial
- Werkstattberichte
- Frontmatter
- Ein Bild
- Eine Kamera und ein Bier
- Mediengeschichte
- „Deeper Sommertage“ und Bauhausjahre
- Color Galore in the French Colonial Empire
- Digitalisierung
- Fotografien aus dem Untergrund
- Bestände
- Ankunft im Museum
- Bekanntes Unbekanntes
- Materialität
- Cold Storage?
- Netzwerk Cellulosenitrat
- Forschung
- Visuelle Autoethnografie
- Literatur
- Rezensionen
- Kunst und Fotografie oder Kunstfotografie?
- Neu Eingegangen
- Zeitschriftenauswertung
- Personalia
- Personalia
- Mitteilungen
- Mitteilung
- Fortbildung
- Ankündigung
Articles in the same Issue
- Editorial
- Werkstattberichte
- Frontmatter
- Ein Bild
- Eine Kamera und ein Bier
- Mediengeschichte
- „Deeper Sommertage“ und Bauhausjahre
- Color Galore in the French Colonial Empire
- Digitalisierung
- Fotografien aus dem Untergrund
- Bestände
- Ankunft im Museum
- Bekanntes Unbekanntes
- Materialität
- Cold Storage?
- Netzwerk Cellulosenitrat
- Forschung
- Visuelle Autoethnografie
- Literatur
- Rezensionen
- Kunst und Fotografie oder Kunstfotografie?
- Neu Eingegangen
- Zeitschriftenauswertung
- Personalia
- Personalia
- Mitteilungen
- Mitteilung
- Fortbildung
- Ankündigung