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Wie entsteht „Flow“ in einem Unternehmen?

Teil 2: Qualitätsstreben und Durchlaufzeit – Lehrmeister für exzellente Prozesse
  • Andreas Wendt

    Prof. Dr.-Ing. Andreas Wendt studierte nach einer Ausbildung an der Bayerischen Staatslehranstalt für Fotografie Allgemeinen Maschinenbau an der TU München. Er promovierte über „Qualitätssicherung in flexibel automatisierten Montagesystemen“. Bei der Robert Bosch GmbH durchlief er verschiedene Führungsfunktionen im Produktionsbereich, zuletzt war er Werkleiter des Bremsenwerks in Barcelona. Bei der BMW AG führte er zunächst als Leiter Strategieentwicklung des Produktionsressorts das Wertschöpfungsorientierte Produktionssystem (WPS) ein. Danach wurde er Leiter Produktion „Fahrwerks- und Antriebskomponenten“, Geschäftsführer der BMW Motoren GmbH in Steyr und Leiter der BMW Group Werke Regensburg und Dingolfing. 2018 wurde er in den Vorstand der BMW AG für Einkauf und Lieferantennetzwerk berufen. Als Chairman der European Foundation for Quality Management (EFQM) setzte sich Dr. Wendt von 2013 bis 2018 für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen und Organisationen ein und brachte das Streben nach Business-Excellence maßgeblich voran. Seit 2023 ist Dr. Wendt u. a. Vorsitzender des Aufsichtsrats der Ingenics AG. 2024 wurde er zum Honorarprofessor der TU München für Unternehmensführung bestellt.

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Veröffentlicht/Copyright: 21. März 2025
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Abstract

Wie entsteht Leidenschaft in einem Unternehmen? Nach der Vorstellung eines ganzheitlichen Modells für Unternehmensexzellenz im ersten Teil dieser Beitragsreihe soll hier aus der Perspektive des Kernwertschöpfungsprozesses in Produktion und Büro die systematische Verbesserung aller Abläufe und die Radikalisierung der Qualitätsansprüche als erste Voraussetzung für Unternehmensexzellenz dargestellt werden. Führung vor Ort, Qualitätsregelkreise, methodisches Vorgehen und Freude an Eigenverantwortung sind die Erfolgsfaktoren exzellenter Prozesse. So entstehen Freiräume für eine ebenso intensive strategische Arbeit eines souveränen Unternehmens, über die dann im nächsten Teil berichtet werden soll.

Abstract

How do you generate passion at a company? Following the presentation of a holistic model for corporate excellence in part 1, the aim here – from the perspective of core value creation in production and office environments – is to depict the systematic improvement of all process sequences and the radicalisation of quality standards as an initial prerequisite for corporate excellence. Leadership at the workplace, quality control loops, a methodical approach and the embracing of personal responsibility are the key success factors for excellent processes. This creates scope for a confident company to be equally focused in its strategic work, which is to be the aspect addressed in the next part.

Produktionssysteme – Zusammenhänge, Chancen und Irrtümer

Vor rund 80 Jahren entstand das Toyota Produktionssystem – aus schierer Not. Denn Rohstoffe waren teuer, Eigenkapital knapp und Kunden noch keine stabile Geldquelle. Taiichi Ohno (1912 – 1990) formulierte es so: „Wir konzentrieren uns ausschließlich auf die Durchlaufzeit vom Auftragseingang des Kunden bis zur Bezahlung. Wir verkürzen die Durchlaufzeit, indem wir jede Art von Verschwendung eliminieren.“ [1]

Aus dieser Notwendigkeit heraus entstand ein einzigartiges und hochanspruchsvolles Produktionssystem, das viele Sichtweisen auf die Serienproduktion radikal veränderte: Ziehende Fertigung, in der nicht auf Vorrat produziert werden darf; investitionsarme U-Linien, in denen auftragsbezogen unterschiedlich viele Mitarbeiter in einem Kreislauf Maschinen bedienen und dabei niemals auf diese warten; sofortige Stillsetzung der Produktionslinie bei Auftreten eines Fehlers; aus einfachsten Materialien gebaute Vorrichtungen, die Komponenten mittels Schwerkraft an den Verbauort bringen; Auftragssteuerung durch bunte Tischtennisbälle anstelle von Computern u.v.m. Zudem eine permanente Beobachtung und Verbesserung von Prozessen durch Werkstattführung und Management sowie ein stoisches Einhalten von Prozessvorgaben auf dem aktuell gültigen Prozessstandard. [2, 3]

Dieses oft bestaunte und selten wirklich verstandene System führt bis heute zu einer Vielzahl von Kopien und Anwendungsversuchen, die jedoch häufig keine langfristige Wirksamkeit und Eigendynamik entfalten. Übersehen wird ein wesentliches Wirkprinzip: Exzellente und stabile Prozesse entstehen durch permanente Qualitätsverbesserung und Führung vor Ort. „Fehler“ werden als Signal eines notleidenden Prozesses und nicht als „Schuld“ von Personen betrachtet. Die Lenkung der Verbesserungsarbeit erfolgt also durch den Prozess selbst –er ist der „Chef“, der von „innen nach außen“ führt [4]. Für viele Führungskräfte ist das immer noch irritierend. Es geht also um „Kapieren und nicht Kopieren“ und um die Frage, wie denn die Essenz dieses Systems erfolgreich in anderen wirtschaftlichen Ökosystemen – etwa in Europa – eingeführt werden kann. [5]

Aus der Erfahrung des Autors ist der erfolgreiche Zugang zu dieser Denkweise am besten durch die Radikalisierung des Qualitätsanspruchs und die dramatische Reduktion von Durchlaufzeiten in der gesamten Organisation bei einer gleichzeitigen Neuorientierung des Führungsverständnisses zu erreichen. Prozessexzellenz entsteht vor Ort, bei und mit den Menschen und an realen Problemen – und nicht im Sitzungssaal anhand aggregierter Daten in Telefonkonferenzen.

Die Mitarbeitenden in der Wertschöpfung stehen dem selten im Wege. Sie freuen sich über Aufmerksamkeit und Zugewandtheit. Die größere Herausforderung stellen die Führungskräfte dar, die sich vom sicheren Büro und Computer in die Realität bewegen und dort vor Mitarbeitern ihre Prozess- und Methodenkompetenz und Menschennähe unter Beweis stellen müssen. Dies steht für viele hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte im Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis und ihrem Aufstieg in „höhere“ Funktionen. Will man das ändern, muss die oberste Leitung als Vorbild dauerhaft und sichtbar vorangehen und die Führungskräfte in dieser Entwicklung begleiten.

Durch spürbare Erfolge gestärkt, kann in einer flächig stabilisierten Prozessumgebung das Momentum zur Einführung weiterführender Prinzipien wie ziehende Fertigung, durchgängige Taktung, Reduktion von Losgrößen und Rüstzeiten etc. genutzt werden.

Dieser pragmatische Zugang repräsentiert die beiden Kernelemente des Toyota Produktionssystems: Jidoka, also der absolute Vorrang fehlerfreier Prozesse gegenüber Produktionszielen, und Heijunka, das ziehende Supermarkt-Prinzip auf Basis nivellierter, fehlerfreier und jederzeit verfügbarer Nachschubpfade bei minimaler Bestandshaltung. Voraussetzung sind stabile Prozesse, die regelmäßig verbessert werden, zwischen diesen Verbesserungen jedoch stabil bleiben und deshalb wiederum systematisch verbesserbar sind.

Null-Fehler und Null-Nacharbeit

Die Fokussierung auf Null-Fehler und die Ablehnung jeglicher Art von Nacharbeit ist also eine erste Positionierung der obersten Leitung, die damit gegenüber einem „So-gut-wie-möglich“ einen grundsätzlich anderen Anspruch an die Produktion einfordert. Fehler und Nacharbeit sind in erster Linie Verschwendung, ebenso wie Laufwege, Wartezeiten, Bestände und falsch genutzte Flächen.

Vielen westlichen Managern erscheint die Absicht, mit Menschen fehlerfrei produzieren zu wollen, abwegig und zudem unwirtschaftlich. Sie können sich nicht vorstellen, dass Fehlerfreiheit durch Band- und Büromitarbeiter entsteht, die Verantwortung übernehmen und laufend die Effizienz ihrer Prozesse verbessern. Dahinter steckt das seit den Frühzeiten des Taylorismus bei vielen Managern und Betriebsräten tief verankerte Bild, dass sich Menschen dem Unternehmen zeitlich befristet zur Nutzung ihrer Fähigkeiten und Kräfte zur Verfügung stellen und unternehmerisches Mitdenken allenfalls durch Zusatzentlohnung zu erkaufen ist. Die Verantwortung für die Sinnhaftigkeit und Funktionalität von Prozessen obliegt „dem Unternehmen“ und nicht den Ausführenden. Besonders in einem Hochlohnland wie Deutschland sollte diese Perspektive überprüft werden.

Eine ganzheitliche Null-Fehler-Verantwortung in der Hand der Ausführenden stellt also eine geistige Schubumkehr im Denken über Produktion, Prozesse und Führung dar. Sie ist ein erster spürbarer Schritt zu einer veränderten Sicht auf Menschen in Fabriken, den die Unternehmensleitung anleiten und durchhalten muss. Die Ausführenden müssen dabei unterstützt werden, dieser Verantwortung gerecht werden zu können, indem ihre Verbesserungsanregungen vom Management angenommen und umgesetzt werden (Bild 1).

Bild 1 Der Weg durch den Fluss
Bild 1

Der Weg durch den Fluss

Hat sich die oberste Leitung entschlossen, das Ufer des „So-gut-wie-möglich“ und der Entschuldigungen und Ausflüchte zu verlassen und Probleme von der Seite der absoluten Fehlerfreiheit zu denken, entsteht Klarheit über die wirklich erforderlichen Maßnahmen, und die Umsetzung kommt wirkungsvoll voran. Zudem entstehen positive Verstärkungen: Die intensive Bekämpfung jedweder Nacharbeit im Prozess vermeidet Doppelarbeit. Sie verhindert zudem, dass durch das meist nicht qualitätsgesicherte „Basteln“ an einem in industriellen Prozessen erzeugten Serienprodukt neue und kaum lokalisierbare Fehlerquellen entstehen. Tatsächlich haben viele Qualitätsprobleme ihre Ursache in Fehlhandlungen durch Nacharbeit.

Sollen Nacharbeit und Prozessfehler eliminiert werden, ist zunächst die geistige „Schürftiefe“ der Qualitätsarbeit zu verbessern. Der in der Automobilindustrie etablierte 8D-Bericht in seiner Grundlogik – Problembeschreibung und Ursachenanalyse, Maßnahmenableitung und -umsetzung, Erfolgskontrolle – ist als grundlegendes Denkmuster für alle Arten von Problemen und Prozessabweichungen in der Organisation zu etablieren [6]. Das ritualisierte „5 × Warum“ bei jeglicher Prozessabweichung führt zu relevanteren Ansatzpunkten als eine schnelle Symptombekämpfung. Häufig landet man am Ende der Ursachenanalyse bei Führungsversagen und Prozessvorgaben, die richtiges Handeln von Menschen verhindern.

Der Gestaltung der Aufbauorganisation vom Kernwertschöpfungsprozess her kommt eine besondere Rolle zu. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist die Rolle von Vorarbeitern, die in ihrem Prozessabschnitt mit ihrem Mitarbeiterteam als kleinste Organisationseinheit stellvertretend die wesentlichen Prozessziele der obersten Leitung – also Ausbringung, Qualität, Produktivität, Verbesserungsarbeit, Anwesenheit – verantworten. Da sie in dieser Rolle die Sicht des Unternehmens gegenüber den Beschäftigten vertreten, ist auf ihre Kompetenz, ihr Führungstalent und ihre Akzeptanz in der Gruppe besonderes Augenmerk zu legen. Die Vorarbeiter tragen in ihrer Gesamtheit die Verantwortung für einen reibungslosen Wertschöpfungsprozess. Sie sind deshalb als Führungskräfte zu achten und entsprechend zu unterstützen. Sie verantworten unter der Führung ihrer Meister die notwendigen Verbesserungen in ihrem Bereich, um die Ziele Null-Fehler und Null-Verschwendung zu erreichen. Als Kenner und Beobachter ihrer Prozesse erteilen sie Planern, Instandhaltern und Einkäufern Aufgaben, die diese sich vor Ort abholen müssen. Das ist eine fundamentale Veränderung im Arbeits- und Selbstverständnis der hochqualifizierten indirekten Angestellten. Werden die Werkstattführung und die Mitarbeitenden der Produktion systematisch für diese Rolle qualifiziert und ernst genommen, entwickeln sie eine persönliche Verantwortung für die Umsetzung und Einhaltung von Prozessvorgaben und die Sicherstellung fehlerfreier Prozesse.

Im Werk Regensburg wurde systematisch eine Arbeitsorganisation mit mehreren hundert Vorarbeitern in allen operativen Bereichen aufgebaut. Es folgte eine strukturierte Schulung und Ausbildung der Mitarbeitenden, Vorarbeiter und Meister in den Prinzipien des Wertschöpfungsorientierten Produktionssystems (WPS) [7]. Bild 2 zeigt einen Vorarbeiter bei der Arbeit an seiner Prozesstafel. Auf ihr verfolgt er als Verantwortlicher nicht nur täglich die Entwicklung „seiner“ Kenngrößen zu Ausbringung, Qualität, Produktivität, Verbesserungsarbeit und Anwesenheit, sondern auch die Historie bekannter und möglicher Fehlerbilder. Der Qualitätsregelkreis wurde geschlossen, indem alle am Auto überprüften und bekannten Fehlermerkmale an ihrem Entstehungsort im jeweiligen Prozessabschnitt verortet wurden.

Bild 2 Vorarbeiter an der Teamtafel
Bild 2

Vorarbeiter an der Teamtafel

Wird ein Fehler in der Endprüfung gefunden, wird der Vorarbeiter unverzüglich informiert und die Ursache sofort abgestellt. Danach beginnt die akribische Ursachenanalyse. Insbesondere muss die Frage beantwortet werden, ob es sich um ein bekanntes oder ein unbekanntes Problem handelt. Ist der Fehler bereits bekannt, müssen Maßnahmen zur endgültigen Abstellung in den nächsten vier Wochen erarbeitet, umgesetzt und dokumentiert werden. Auch ist die Frage zu beantworten, warum der Fehler wiederholt auftritt und offensichtlich bisher nicht wirklich abgestellt wurde. Ist der Fehler neu, muss er grundlegend analysiert werden. Auch ist zu hinterfragen, ob weitere Risiken im Prozess schlummern und wie systematisch sie in der Risikoprävention durchleuchtet werden.

Indem die Teams um Tage ohne eine einzige Reklamation aus der Endprüfung wetteiferten, entstand im Laufe der Zeit eine Art „Volkssport“. Rekorde bestanden in mehreren Monaten fehlerfreier Produktion und wurden mit viel Energie weiter verbessert. Dieser konstruktive Wettbewerb zwischen den Teams und die ausgesprochene Anerkennung durch die Führung trugen erheblich zur Verankerung der Nullfehler-Einstellung in der gesamten Fabrik und zu einer beschleunigten Verbesserungsarbeit bei. Auf eine finanzielle Vergütung wurde bewusst zugunsten der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft des Standorts verzichtet.

Neben der Qualitätsarbeit und der fachlichen Mitarbeiterführung in ihrem Prozessabschnitt beschäftigen sich die Vorarbeiter aber auch mit der ständigen Vereinfachung und Verbesserung der Abläufe: Reduzierung von Verschwendung, Verkürzung der Wegezeiten, bessere Anreichung von Material, Zusammenlegung von Arbeitsinhalten und Poka-Yoke-Lösungen zur Fehlhandlungssicherheit. Ziel jedes Vorarbeiters ist der Entfall eines Arbeitsplatzes pro Jahr. Dies wird auch anhand von einfachen Modellen untersucht, die mit den Mitarbeitern und im Kreis der Vorarbeiter erarbeitet werden (Bild 3).

Bild 3 Vorarbeiter diskutieren Prozessverbesserungen anhand eines Modells
Bild 3

Vorarbeiter diskutieren Prozessverbesserungen anhand eines Modells

Solche Verhaltensveränderungen in einer großen Organisation entstehen nur, wenn sich die oberste Leitung regelmäßig, dauerhaft und ernsthaft für die Prozesse und Menschen im Wertschöpfungsprozess interessiert und dort auch selbst Beiträge liefern kann. Dies wurde in Regensburg über Jahre hinweg durch ein Glücksrad organisiert, das alle Teams und Gruppen des Werks einbezog und einmal wöchentlich sichtbar für alle im Betriebsrestaurant gedreht wurde. Die ausgelosten Bereiche erhielten danach einen Besuch durch den Werkleitungskreis, der Interesse und Respekt für die erreichten Ergebnisse ausdrückte, aber auch Anregungen zu weiteren Verbesserungen gab.

Durchlaufzeit im Büro

Neben der Verbesserungs- und Führungsarbeit im Produktionsbereich ist darauf zu achten, dass auch alle indirekten Bereiche des Unternehmens in diese Entwicklung einbezogen werden. Auch hier ist die prozessnächste Führungskraft Dreh- und Angelpunkt aller Verbesserungen. Also Gruppenleiter mit ihrer Mannschaft von Angestellten in Planung, Controlling, Qualitätssicherung, Einkauf etc. Dabei sind Angestellte im Gegensatz zu Mitarbeitenden in der Produktion häufig der Meinung, dass in ihren Abläufen kaum Verbesserungen zu erzielen sind, da diese nie gleich und zudem hochkomplex seien. Das ist freilich eine Schutzbehauptung. Man muss also am Beginn der Aktivitäten viel Energie darauf verwenden, den Ansatz der permanenten Verbesserung überhaupt im indirekten Bereich zu verankern und zu verhindern, dass sich die dort zweifelsfrei bestehende Intelligenz und Kreativität in der Abmoderation dieses Ansatzes verwirklicht.

Die Betrachtung der Durchlaufzeit und ihre systematische Verkürzung um jeweils 30 Prozent sind hier ein augenöffnendes und wirkungsvolles Instrument. Allein das Aufzeichnen des aktuellen Prozessablaufs sowie die Erkenntnis, dass auch ein indirekter Bereich einen Kunden hat, stellen Angestellte vor Herausforderungen. Verschwendung in Form von Doppelarbeit, Rekursionen und Verzögerungen lassen sich mit einer Wertstromanalyse gut sichtbar machen und können mit der Kompetenz der Prozesseigner und verbesserten Ablaufregeln wirksam reduziert werden. [8, 9]

Erfolgsentscheidend ist, dass diese Wertstromanalysen flächig und regelmäßig durchgeführt werden und zu einer Selbstverständlichkeit indirekter Bereiche werden. Im Werk Regensburg wurden nach dem systematischen Aufbau interner Methodentrainer jährlich weit über 100 solcher Analysen durchgeführt. Wie bei allen strukturierten Schritten zur Unternehmensexzellenz ergeben sich im Fortschreiten immer weitere lohnende Potenziale, die man am Beginn der Aktivitäten noch gar nicht erkennen kann.

Ausbau zum Produktionssystem

Sind diese grundlegenden Vorgehensweisen verankert, die Prozesse zunehmend stabilisiert und die Führungsroutinen in der Aufbauorganisation etabliert, kann man weitere Themenfelder eines Produktionssystems angehen.

Hierzu soll das Wertschöpfungsorientierte Produktionssystem (WPS) von BMW erläutert werden. Die zehn WPS-Grundsätze greifen ineinander und ergeben einen stabilen Gestaltungsrahmen. Flexibilität und Wandlungsfähigkeit sind die wesentlichen Faktoren des weltweiten BMW-Produktionsnetzwerks (Bild 4). Die Prozessgrundsätze im inneren Ring beschreiben die Gestaltung der Produktion. Null Fehler, Pull, Fluss und Takt sind Grundprinzipien und werden im direkten wie im indirekten Bereich verwirklicht. Die Verhaltensgrundsätze im äußeren Ring sichern die Nachhaltigkeit im Vorgehen ab: Verantwortung vor Ort, Transparenz, kontinuierliche Verbesserung, Standards und Null Verschwendung. [10]

Bild 4 Grundsätze des Wertschöpfungsorientierten Produktionssystems von BMW
Bild 4

Grundsätze des Wertschöpfungsorientierten Produktionssystems von BMW

Die Umstellung auf ziehende, am Kundentakt ausgerichtete und pufferfreie Abläufe stellt eine fundamentale Veränderung eines Produktionsprozesses dar. Fehlerfreiheit und Stabilität aller Prozesse, massive Reduzierung der Losgrößen und minimale Rüstzeiten sind die Voraussetzung. Dabei unterscheidet sich die Umsetzung in einer Serienproduktion von täglich 1.600 Autos sicher im Detail von einer Investitionsgüterherstellung in Kleinstserie. Jede Technologie muss hier ihre individuellen Ansätze entwickeln, die grundsätzlichen Herausforderungen und der prinzipielle Zugang sind aber vergleichbar.

Perfekte Prozesse als Wegweiser zur Unternehmensexzellenz

Bei der Perfektionierung des Wertschöpfungsprozesses geht es im Prinzip darum, ein Universum von Prozessen, Komponenten und prozessbeteiligten Menschen in ihrer Varianz so aufeinander abzustimmen, dass reproduzierbar und selbstregelnd ein Höchstmaß an Verlässlichkeit und Stabilität im Prozessergebnis erreicht wird. Mit Zwang und Determinismus wird man wenig erreichen, mit Führung, Einbindung, Wertschätzung, Kompetenz und Freude am gemeinsamen Erfolg dagegen viel. Dies soll am Beispiel der Verbesserung der Ablieferqualität einer Komponentenfertigung aufgezeigt werden (Bild 5).

Bild 5 Konsequente Qualitätsarbeit als Weg zur Unternehmensexzellenz
Bild 5

Konsequente Qualitätsarbeit als Weg zur Unternehmensexzellenz

Hierzu wird die Qualitätsentwicklung in Form fehlerhafter Teile bezogen auf eine Million gelieferte Teile logarithmisch in ppm (parts per million) über der Zeit dargestellt.

Auch in Serienproduktionen beginnt die „Reise“ zu Null-Fehler oft im Prozentbereich (1 % = 10.000 ppm). Es kann festgestellt werden, dass jede Reduktion der Fehlerquote um den Faktor 10 die Behandlung neuer und grundlegenderer Themenfelder in der Fabrik erfordert. Verbesserungen können stabilisiert werden, wenn sie in stabilen Prozessen verankert und durch konsequente Führung aufrechterhalten werden. Beginnend mit dem Aufbau erster Qualitätsregelkreise kommt man über die Anwendung von Methoden zunehmend auf Themen der Führung und Haltung, wenn die bereits deutlich verringerten Fehlerzahlen weiter reduziert werden sollen.

Man kann diese Entwicklung durchaus in eine Analogie mit der Funktionalität der Maslowschen Bedürfnispyramide bringen, die das Streben jedes Menschen nach Selbstverwirklichung und Sinnerfüllung in seinem Tun beschreibt. Zunächst müssen untere, physiologische Bedürfnisebenen abgesichert werden, wenn Teilhabe und Wertschätzung entstehen sollen. Die Befriedigung dieser „Hygienefaktoren“ löst alleine aber noch keine dauerhafte Motivation aus. Übersetzt ist der „Sinn“ einer Fabrik ein idealer, stabil fehlerfreier Prozess. Voraussetzung ist die Absicherung grundlegender Erfordernisse in Form von Qualitätsregelkreisen und Prozessvorgaben. Methoden zur Fehlerabstellung und präventiven Fehlervermeidung unter Teilhabe der Prozessbeteiligten sind die nächste Stufe. Höchste Zielerreichung ist aber nur möglich, wenn Werte und Haltung der beteiligten Menschen durch Führung geprägt und sichergestellt werden. Eine abstrakte Diskussion über Verantwortung und Werte ohne stabilen Unterbau aus konkreten Prozessregeln wird keine fehlerfreien Prozesse erzeugen.

Die Kunst der Führung besteht also darin, zutiefst menschliche Verhaltensweisen in einem technischen Umfeld auf unternehmerische Ziele zu übertragen, ihre Erreichung zu befördern und kollektive Energie freizusetzen. Gelingt es, das Bedürfnis aller Beteiligten, gute Arbeit zu machen, in ein strukturiertes Vorgehen zur Perfektion zu übersetzen, sind unglaubliche Verbesserungen und Erfolge möglich. Ziele werden sicher und mit weniger Aufwand erreicht. Es entstehen neue Freiräume und zeitliche Souveränität, mit denen sich das System noch weiter antreiben und zum Selbstläufer entwickeln lässt.

Wirkprinzipien

Zusammengefasst kann man folgende Wirkprinzipien eines exzellenten Kernwertschöpfungsprozesses festhalten:

  1. Ein hoch effizienter Kernwertschöpfungsprozess ist zentrale Voraussetzung für ein exzellentes Unternehmen.

  2. Die Einführung eines wirksamen Produktionssystems erfordert von der obersten Leitung Methodenverständnis, Ausdauer und Führung.

  3. Es geht nicht darum, das Toyota Produktionssystem kognitiv zu verstehen, sondern es in Europa und genau im eigenen Unternehmen wirksam einzuführen.

  4. „Der Prozess ist der Chef“. Alle inhaltlichen Verbesserungen werden vom Prozess aus betrachtet und vor Ort erarbeitet.

  5. „Sehen lernen“ von Problemen und Verschwendung ist für alle Bereiche des Unternehmens elementar. Die sieben Arten der Verschwendung müssen zu einer gemeinsamen Sprache werden. [11]

  6. Die prozessnächsten Führungskräfte sind das Rückgrat verbesserter und stabiler Prozesse und verantworten stellvertretend für die oberste Leitung die Erreichung der operativen Ziele. Sie müssen in dieser Rolle entwickelt und gestärkt werden.

  7. Das mittlere Management und die indirekten Bereiche erhalten Aufträge aus der Verbesserungsarbeit der prozessnächsten Führungskräfte. Den vermeintlichen Selbstwertverlust muss die oberste Leitung auffangen.

  8. Indirekte Bereiche erfordern mehr Überzeugungsarbeit für Prozessverbesserungen als direkte Bereiche.

  9. Null-Fehler, Null-Nacharbeit und Null-Verschwendung sind die besten Begleiter auf dem Weg zu effizienten und stabilen Prozessen.

  10. Durch die Absolutierung dieser Ziele zeigt die oberste Leitung die Ernsthaftigkeit ihres Ziels eines exzellenten Unternehmens. Das zugespitzte Denken von der Seite der Perfektion befördert die Gründlichkeit der Ursachenanalyse und die Wirksamkeit der Lösungen.

  11. Nur auf der Basis effizienter, fehlerfreier und stabiler Prozesse lassen sich weiterführende Ansätze eines Produktionssystems verwirklichen: Ziehende Fertigung im Kundentakt, kleine Losgrößen und minimale Rüstzeiten.

  12. Der konsequente Weg zu Null-Fehler beginnt bei Prozessverbesserungen und führt über Methoden und Führung zur Verankerung von Einstellungen und Werten. Man kann dies als Wegbeschreibung zur Unternehmensexzellenz nutzen.

  13. Ein Fehler ist ein Prozessproblem und keine Schuld von Personen. Jede Fehlerbehebung besteht aus kurzfristiger Fehlerabstellung und nachhaltiger Systemverbesserung.

  14. Die persönliche Verantwortung für Fehlerfreiheit lautet: „Kein Fehler entsteht in meinem Bereich, kein Fehler verlässt meinen Bereich, ich akzeptiere keinen Fehler eines Vorleisters“.

  15. Nur ein flächiges Ausrollen von Methoden und ein jahrelanges Nachhalten in der täglichen Führungsarbeit erzielt Wirksamkeit.

  16. Führung vor Ort, Beschäftigung mit Prozessproblemen und inhaltliche Anleitung der Werkstattführung sind keine Zusatztätigkeiten, sondern die Kernaufgabe des Managements. Ist das Zielsystem richtig aufgesetzt, erreicht das Management genau dadurch sicher seine Ziele.

  17. Die systematische, flächige Anwendung dieses Vorgehens reduziert operative Probleme auf ein Minimum und verankert die unternehmerische Verantwortung für den Kernwertschöpfungsprozess tief und breit in der Organisation. Dies entlastet die oberste Leitung und gibt ihr Freiraum und Zeitsouveränität, die sie für die systematische Bearbeitung strategischer Fragen und Führung nutzen kann.

  18. Die weitreichende Verantwortungsübergabe an die Vorarbeiter erfordert von diesen technische Kompetenz und Übersicht. Die duale Ausbildung im deutschsprachigen Raum bietet hier besondere Chancen und Wettbewerbsvorteile.

Ausblick

Im nächsten, dritten Teil soll die systematische Strategiearbeit der Führungsebene durch Zielbild, jährlichen Strategiekreislauf und Ergebnis/Befähigermatrix erläutert werden. Die strukturierte Verbesserung der Führungsleistung durch den Führungsdialog und die sichere Verankerung von Zielen im Unternehmen runden diese Veröffentlichung ab.

Teil 4 stellt Erfordernisse und Erfolgsfaktoren eines langjährigen Vorgehens einer Organisation auf dem Weg zum exzellenten Unternehmen in den Mittelpunkt. Der fundamentale Anspruch an die Führungsleistung der obersten Leitung wird mit sieben Paradigmen geschärft. Den Abschluss stellt die Analogie der Unternehmensentwicklung mit der Maslowschen Bedürfnispyramide dar.


Hinweis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen von den Mitgliedern des ZWF-Advisory-Board wissenschaftlich begutachteten Fachaufsatz (Peer Review).


About the author

Prof. Dr.-Ing. Andreas Wendt

Prof. Dr.-Ing. Andreas Wendt studierte nach einer Ausbildung an der Bayerischen Staatslehranstalt für Fotografie Allgemeinen Maschinenbau an der TU München. Er promovierte über „Qualitätssicherung in flexibel automatisierten Montagesystemen“. Bei der Robert Bosch GmbH durchlief er verschiedene Führungsfunktionen im Produktionsbereich, zuletzt war er Werkleiter des Bremsenwerks in Barcelona. Bei der BMW AG führte er zunächst als Leiter Strategieentwicklung des Produktionsressorts das Wertschöpfungsorientierte Produktionssystem (WPS) ein. Danach wurde er Leiter Produktion „Fahrwerks- und Antriebskomponenten“, Geschäftsführer der BMW Motoren GmbH in Steyr und Leiter der BMW Group Werke Regensburg und Dingolfing. 2018 wurde er in den Vorstand der BMW AG für Einkauf und Lieferantennetzwerk berufen. Als Chairman der European Foundation for Quality Management (EFQM) setzte sich Dr. Wendt von 2013 bis 2018 für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen und Organisationen ein und brachte das Streben nach Business-Excellence maßgeblich voran. Seit 2023 ist Dr. Wendt u. a. Vorsitzender des Aufsichtsrats der Ingenics AG. 2024 wurde er zum Honorarprofessor der TU München für Unternehmensführung bestellt.

Literatur

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Published Online: 2025-03-21
Published in Print: 2025-03-20

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 2.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zwf-2025-1031/html
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