Zusammenfassung
Der interaktionistisch-sozialkonstruktivistisch informierte Beitrag geht davon aus, dass sich die Verlaufsgestaltung der beruflichen Rehabilitation in Form von Aushandlungsprozessen vollzieht, in denen die Bedarfslagen der Rehabilitierenden mit den institutionellen Anforderungen und Zielvorstellungen vereinbart werden. Gegenstand der Aushandlungen sind Ansprüche der Rehabilitierenden an sozialstaatliche Leistungen, die in einem tentativen und iterativen Prozess formuliert werden und die Optimierungsinteressen unterliegen, die sich ebenfalls im Verlauf konstituieren. Rehabilitierende nehmen dabei institutionelle Zuweisungen und Klassifikationen in ihre Selbstsichten auf und richten ihre Lebensentwürfe zumindest teilweise danach aus. Sozialstaatlichen Klassifikations- und Sortierprozessen liegen demnach Übersetzungsleistungen aller Beteiligten zugrunde. Vorgestellt wird die Analyse von Versorgungsverläufen aus einer qualitativen Interviewstudie mit Rehabilitierenden und Mitarbeitenden in Berufsförderungswerken.
Abstract
This interactionist and social constructionist informed contribution posits that the progression of vocational rehabilitation unfolds through negotiation processes wherein the needs of the rehabilitants are aligned with institutional requirements and goals. Rehabilitants’ negotiate their social welfare benefits articulating their claims. In doing so their optimize their interests that also develop over the rehabilitation process. In a tentative and iterative process rehabilitants incorporate institutional assignments and classifications into their self-perceptions and align their life plans at least partially accordingly to institutional requirements. Social welfare classification and sorting processes thus rely on the translation efforts of all involved parties. This paper presents an analysis of care trajectories based on a qualitative interview study with rehabilitants and staff members in vocational training centers.
1 Sortiermaschinen in der beruflichen Rehabilitation
Die Logik des Sozialstaats als ‚Sortiermaschine‘ lässt sich in besonderer Weise am System der Rehabilitation deutlich machen, dessen Ziel es ist, Menschen mit Behinderungen und chronischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Wiedereingliederung in das berufliche und gesellschaftliche Leben zu unterstützen und ihnen zu helfen, unabhängiger von sozialen Leistungen zu leben (Bartel 2018). Das Teilhabeziel ist in nahezu allen Sozialgesetzbüchern (SGB II, SGB III, SGB V, SGB VI, SGB VII, SGB IX) eingeschrieben, wodurch je nach Bedarf und Risikolage der Rehabilitierenden Leistungsträger und Leistungserbringer aus unterschiedlichen Bereichen der Sozialpolitik an der Herstellung von Versorgungsverläufen arbeiten. Dabei operieren die beteiligten Institutionen nach ihren jeweiligen und teilweise konkurrierenden Handlungsorientierungen, Zielvorstellungen und Arbeitsverfahren. Der Rehabilitationsverlauf ergibt sich durch Verweisungen zwischen institutionellen Schaltstellen, an denen Gatekeeper Rehabilitierende auf Versorgungspfade lenken und somit die Statuspassagen sukzessive von einer Station zur nächsten organisieren[1].
Rehabilitationsverläufe in die Erwerbstätigkeit als Prozesse des Return to Work sind häufig sehr langwierig und komplex, insbesondere dann, wenn Rehabilitierende aufgrund von Behinderung oder chronischer Krankheit des psychischen und psychosomatischen Formenkreises ein neues Berufsfeld erschließen. Sie durchlaufen unterschiedliche Institutionen der Erbringung und Trägerschaft sozialstaatlicher Leistungen und treffen dabei auf Behandler:innen, Begutachtende, Fallmanager:innen, Sachbearbeiter:innen, Ausbilder:innen und Arbeitgebende, mit denen sie ihre Lebens- und Problemsituation in die jeweiligen institutionellen Erwartungen und Anforderungen übersetzen. Für die Rehabilitierenden bilden ihre sozialmoralischen Orientierungen, ihre lebensweltlichen Verpflichtungen, insbesondere gegenüber ihren Angehörigen, und das Aufrechterhalten ihrer biografischen Kohärenz eine zentrale Rolle für die Darstellung ihrer Bedarfslagen und dem Vorbringen ihrer Ansprüche.
Aufgrund der Komplexität der lebensweltlichen und gesundheitlichen Probleme der Rehabilitierenden einerseits und der institutionellen Zuweisungsmechanismen andererseits können Verläufe je nach ihrer Gestalt aus Institutionenperspektive unterschiedlich erfolgreich sein. Der Beitrag untersucht aus einer interaktionistisch-sozialkonstruktivistischen Perspektive Handlungsspielräume und Rahmungen, in denen die Beteiligten soziale Probleme als bearbeitungsbedürftig definieren und sozialstaatliche Fallverläufe gestalten (z. B. Groenemeyer 2010). Beobachtet wird in den Fallverläufen ein hohes Maß an kreativen Anpassungsleistungen und geschickter Auslegung institutioneller Anforderungen. So kann der Gesamtprozess der Rehabilitation nach Eintritt der Beeinträchtigung bis zur beruflichen Wiedereingliederung vier bis fünf Jahre dauern und ist mitunter auch dann nicht abgeschlossen. Innerhalb dieser Zeitdauer durchlaufen die Rehabilitierenden die Stationen der Akutbehandlung sowie der medizinischen und beruflichen Rehabilitation, teilweise mit Überschneidungen, in Wiederholungsschleifen oder mit Abbrüchen von Behandlungen und Maßnahmen, wobei vielgestaltig zwischen medizinischen, beruflichen und sozialen Bedarfen sortiert wird. Das Modell einer festgelegten Reihenfolge von Stationen und Verweisen im Rehabilitationsverlauf entspricht nicht den Lebenswirklichkeiten und den chronischen Krankheitsverläufen. Die Routineverfahren der gesundheitlichen und beruflichen Rehabilitation sind daher zunehmend herausgefordert bzw. stoßen zumindest bei komplexen Versorgungsverläufen an ihre Grenzen.
Im Zusammenhang unseres Forschungsprojektes „Erfolgsfaktoren beruflicher Rehabilitations- und Integrationsprozesse – eine Analyse individueller Verläufe in Berufsförderungswerken“[2], richtet sich unser Blick auf die Bedeutung von Gatekeeping für die Organisation von Versorgungsverläufen. Zugrunde legen wir das Konzept der Statuspassagen, an dessen Stationen sich Gatekeeper befinden, die für ihre Passagiere (hier: die Rehabilitierenden) Probleme etikettieren, Ressourcen (Geld, Leistungen, Gutachten) zuweisen, Dienstleistungen (Behandlung, Beratung, Ausbildung) durchführen und die Weichen für die Versorgungspfade stellen (Behrens/Rabe-Kleberg 2000; Glaser/Strauss 1971). Beide, Gatekeeper und Rehabilitierende, vereinbaren in Aushandlungen sukzessive die Verlaufsgestalt, wobei sie entsprechend ihrer Ressourcen, Positionen und Qualifikationen über weitere oder engere Handlungsspielräume verfügen (Strauss 1978).
Die Effekte der sozialstaatlichen Sortiermaschine zeigen sich – wie wir am Beispiel der beruflichen Rehabilitation darstellen werden – in der Strukturierung bzw. der Restrukturierung von Lebensläufen sowie in Angeboten für die Deutungen von Biografie und von Lebensentwürfen (z. B. Leisering et al. 2001; Marstedt/Niedermeier 2000; Mierendorff/Olk 2000). Wir verstehen dies als die gemeinsame Arbeit von Rehabilitierenden und Gatekeepern an der Herstellung von Versorgungs- und Soziallagen, wobei qua sozialstaatlicher Umverteilung und Leistungsgewährung unterschiedliche Privilegierungsniveaus geschaffen werden.
Im Rahmen unserer Studie untersuchen wir Verläufe der beruflichen Rehabilitation in Berufsförderungswerken (BFW). Die rechtlichen Grundlagen dafür bilden die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA). Diese Leistungen sollen die Erhaltung des Arbeitsplatzes bzw. die berufliche (Re-)Integration im Sinne des Erlangens eines Arbeitsplatzes sichern. Sie zielen darauf ab, „krankheits- oder behinderungsbedingten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken und eine möglichst dauerhafte Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zu erreichen“ (Deutsche Rentenversicherung Bund Geschäftsbereich Sozialmedizin und Rehabilitation 2018: 6). Durch Erhaltung des vorhandenen oder durch Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes soll ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verhindert und eine möglichst dauerhafte berufliche Eingliederung erzielt werden. BFW, in denen berufliche Umschulungen und Qualifizierungen stattfinden, bilden dabei einen Teilbereich ab, der diese Leistungen gewährleistet. Die Bildungsmaßnahmen sind mit medizinischen, sozialpädagogischen und psychologischen Fachdiensten flankiert, um die Rehabilitierenden während der Ausbildung zu unterstützen.
Die berufliche Rehabilitation umfasst ein ganzes System sozialrechtlicher und sozialpolitischer Instrumente, Institutionen und Akteure der Leistungserbringung und Kostenträger. Ohne im Detail darauf in diesem Artikel eingehen zu können (zur weiterführenden Lektüre: Weber et al. 2015) sei darauf verwiesen, dass die berufliche Rehabilitation – ähnlich wie andere gesellschaftliche Teilbereiche, die mit Qualifizierungs- und Bildungsaufgaben betraut sind – einem weitreichenden Wandel unterliegen. Für die hier im Zentrum stehenden Berufsförderungswerke entstehen neue Herausforderungen durch eine starke Zunahme an Rehabilitierenden mit psychischen Erkrankungen und Komorbiditäten, eine zunehmende Planungsunsicherheit bezüglich der Teilnehmendenzahlen an den Qualifizierungs- und Umschulungsangeboten, ein zunehmender Preiswettbewerb und Kostendruck bei insgesamt sinkenden Teilnehmendenzahlen sowie mehr Teilnehmende mit Verhaltensauffälligkeiten und Anpassungsschwierigkeiten (Meschnig et al. 2019; Reims et al. 2023: 209).
Für die vorliegende Studie wurden mit 113 Rehabilitierenden, davon 66 Frauen und 47 Männer, im Alter zwischen 23 bis 62 Jahren biografisch-verstehende Leitfadeninterviews (Kaufmann 1999) in zwei ländlich gelegenen Berufsförderungswerken durchgeführt (Stand: 31.12.2023). Thematisiert wurden u. a. Erwerbsarbeit und Familie, Erleben und Versorgung der Erkrankung sowie das Erleben der beruflichen Rehabilitation, einschließlich der Erfahrung mit der Sozialadministration. Im Verlauf der Maßnahme erfolgte im Rahmen einer qualitativen zweijährigen Kohortenstudie die Erhebung von Follow-up-Interviews, die u. a. die Erfahrungen der Umschulung bzw. der Qualifizierung zum Inhalt hatten. Zur Sondierung des Feldes wurden Expert:inneninterviews mit elf Mitarbeitenden der BFW (Ausbilder:innen, Casemanager:innen, Psycholog:innen) und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt.
Die Interviews mit den Rehabilitierenden wurden zunächst pro Fall einer inhaltsanalytischen Globalauswertung im Hinblick auf die einzelnen Verlaufs- bzw. Karriereschienen der Erwerbstätigkeit, der Familie, der Krankheit und der Versorgung unterzogen. In einem zweiten Schritt wurden zehn Interviews für eine Feinanalyse herausgegriffen, in der die unterschiedlichen Verlaufsschienen (Familie, Erwerb, Erkrankung, Versorgung) übereinandergelegt und auf diese Weise Problemkonstellationen an biografischen Knotenpunkten sowie Bearbeitungsstrategien identifiziert wurden. In einem dritten Schritt wurden die Fälle kontrastiert und Verlaufsformen identifiziert. Dieses Ergebnis wurde mit den Fällen abgeglichen, die nur einer Globalauswertung (im 1. Schritt) unterzogen wurden. Die Auswertung erfolgte rekursiv und tentativ, indem die Interviews und die entwickelten Begrifflichkeiten immer wieder abgeglichen wurden (Strauss 1991).
2 Arbeitsstile der Gatekeeper aus der Perspektive der Rehabilitierenden
In der sozialstaatlichen Sortiermaschine konfrontieren die Rehabilitierenden ihre Gatekeeper mit ihren Bedarfen, die, wenn sie als Klassifikationen oder Diagnosen anerkannt sind, in Zuweisungen oder Behandlungen münden. In unseren Interviews mit den Rehabilitierenden zeigt sich, dass Sortiervorgänge in der beruflichen Rehabilitation abhängig von Einstellungen und der Nutzung von Handlungsspielräumen der beteiligten Gatekeeper sind. Dabei lassen sich Arbeits- und Bürokratiestile unterscheiden, die in spezifischer Weise auf die Bedarfe und Problemkonstellationen der Rehabilitierenden reagieren und damit deren Versorgungsverläufe strukturieren.
Von den Rehabilitierenden werden Situationen mit Gatekeepern beschrieben, die eng an den formalen Verfahren sowie standardisierten bzw. fachlichen Leistungsdefinitionen verhaftet sind. Bei diesem als Regelgeleitetheit und Verwaltung etikettierten Arbeitsstil werden nur die von den Rehabilitierenden vorgebrachten Bedarfe und Anliegen, die unmittelbar in den administrativen Prozessen subsumierbar sind, als zu bearbeitendes Problem gesehen. Durch den Fokus auf die formalen Dimensionen der Falldefinition und der Fallbearbeitung werden lebensweltliche Situationen der Rehabilitierenden weitgehend ausgeblendet und Entscheidungen dominierend im Hinblick auf Zuständigkeit, Handlungslogik und Ziel der Organisation getroffen. Beziehungsarbeit zu den Rehabilitierenden und offene Aushandlungen finden kaum statt. Die Rehabilitierenden beschreiben diesen Arbeitsstil als erfolgreich, wenn die von ihnen vorgebrachten Bedarfe kaum interpretationsbedürftig sind und die Voraussetzungen für Zuweisungen, z. B. die Bewilligung von LTA, umstandslos akzeptiert werden. Sind die Bedarfslagen komplex, möglicherweise in sich widersprüchlich, kommt die reine Regelgeleitetheit an ihre Grenzen. Unsere Interviewpartner:innen erinnern sich dann an gescheiterte Kontakte, in denen ihre Bedarfsartikulation nicht als Grundlage für die Einsortierung in das von ihnen angestrebte Verfahren akzeptiert wurde, etwa wenn sie mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht die Finanzierung einer Umschulung in einen anderen Beruf erreichten.
Das Beharren der Gatekeeper auf Routineverfahren scheint auch damit einherzugehen, dass dadurch Risiken der Zurechnung von Fehlentscheidungen minimiert werden: Man hält sich an das durch Vorgängerinstanzen schon strukturierte Verfahren, unter dem alle bisher vorgebrachten Bedarfslagen subsumiert wurden. Bedarfslagen, die nicht den Standards entsprechen, werden nicht als verfahrensrelevant identifiziert. Uminterpretieren und Umetikettieren der Bedarfslagen der Rehabilitierenden verlangen höhere Handlungsspielräume und werden unter Unsicherheit über den korrekten oder erfolgreichen Ausgang des Verfahrens vollzogen. Einerseits können dafür Wissensbestände schlicht fehlen (z. B. wenn Mitarbeitende in den Agenturen für Arbeit über wenig Kenntnisse zum System der beruflichen Rehabilitation verfügen), andererseits verdeckt die funktionale Zuspitzung auf ein begrenztes Reservoir an Verfahren den Blick für die lebensweltlichen Dimensionen der von den Rehabilitierenden vorgebrachten Ansprüche. Bei komplexen Problemlagen werden Entscheidungen unter erhöhten Unsicherheitsbedingungen gefällt, die ihrerseits gegenüber den Vorgesetzten legitimationsbedürftig sind, schließlich ist eine bürokratische Einrichtung in einer Verantwortungs- und Zurechnungshierarchie organisiert. Es kann aber auch in der Umkehrung geschehen, dass an einem Verfahren wider besseres Wissen festgehalten wird, da der Verwaltungsaufwand für die Änderung seines Kurses als sehr hoch eingeschätzt wird, wie uns ein Gatekeeper berichtete.
Ein zweiter Arbeitsstil, Fallorientierung und Engagement, bezieht in die verwaltungsbezogene Falldefinition die subjektiv hervorgebrachte Problemartikulation der Rehabilitierenden punktuell mit ein. Die aus der Perspektive der Gatekeeper der Hauptarbeitslinie nebengeordneten Probleme, für die das formale Verfahren zunächst keine Lösungen bereithält, können für die Rehabilitierenden aber zentrale Hinderungsgründe für die Bearbeitung ihres Rehabilitationsbedarfs sein. Die Aushandlungen zwischen Gatekeeper und Rehabilitierenden thematisieren individuelle Problemlagen, um in der Hauptarbeitslinie – dem Zustandekommen der beruflichen Rehabilitation und der Arbeitsmarktintegration – möglichst voranzukommen. Im Zuge der Aushandlung und Problemartikulation werden dann unter Nutzung bürokratischer und lebensweltlicher Handlungsspielräume Einzelfalllösungen vereinbart, indem Rehabilitierende und Gatekeeper die lebensweltliche ‚störende‘ Problemsituation und die formalen Voraussetzungen ineinander übersetzen. Wenn dies mit Aushandlungsgeschick der Beteiligten gelingt, werden unter Umständen auch Lösungen im rechtlichen ‚Graubereich‘ formaler Verfahren im Sinne der „brauchbaren Abweichungen“ (Luhmann 2016: 16) vereinbart. Wichtig ist die Einschätzung der Gatekeeper, dass Rehabilitierende auch mit den bearbeiteten Störungen die entsprechenden Verfahren (z. B. die Umschulung) erfolgreich durchlaufen. Aus den Interviews mit den Rehabilitierenden lässt sich rekonstruieren, dass sich das fallbezogene Engagement der Gatekeeper situativ (und eher zufällig) ergibt und sowohl von der Darstellungskompetenz der Rehabilitierenden als auch von gegenseitigen Sympathien abhängt. Teilweise rekurrieren die Gatekeeper dabei auf ihre eigenen lebensweltlichen Sinnbezüge. Dieser Arbeitsstil kann durch eine offene Organisationskultur und durch institutionell akzeptierte informelle Handlungsspielräume unterstützt werden, ist aber nicht notwendigerweise eine offiziell formulierte Bearbeitungsstrategie, wofür systematische Methodenkenntnisse vorgehalten werden.
Die Rehabilitierenden berichteten uns auch von Situationen, in denen Gatekeeper ein weites Spektrum ihrer objektiven und subjektiven Lebensrealität in den Blick nehmen und dafür ein ganzes Arsenal an Verfahren vorrätig haben (Dreßke et al. 2024). In diesem Arbeitsstil, Sozialpädagogik und Netzwerkarbeit, verfügen die Gatekeeper im Rahmen ihrer offiziellen Zuständigkeit über Qualifikationen oder Wissensbestände, mit denen sie die psychosozialen Problemlagen und die soziale Gesamtsituation der Rehabilitierenden als offiziellen Arbeitsauftrag und als bearbeitungsbedürftig definieren, damit das Hauptarbeitsziel überhaupt erreicht werden kann. Komplexere psychosoziale Problemlagen gelten als Normalfall und nicht als ‚Störung‘. Unter Umständen wird auch das Arbeitsziel ‚berufliche Rehabilitation‘ relativiert, wenn andere Bedarfe im Vordergrund gesehen werden. Insbesondere werden lebensweltliche und biografische Aspekte der Rehabilitierenden systematisch in den Blick genommen, wobei netzwerkförmige Verweisungen zu anderen Diensten vorgenommen werden. Dieser Arbeitsstil nimmt für sich einen weiten Handlungs- und Entscheidungsspielraum in Anspruch, nicht zuletzt da sich die Verfahren bei komplexen Problemlagen unter hoher Unsicherheit über den korrekten oder erfolgreichen Ausgang vollziehen, wobei sich die Gatekeeper der Verlaufskontingenzen bewusst sind (Dollinger 2010), anstatt feststellbare Ergebnisse zu fokussieren. Durch die in der Sozialpädagogik professionell gestützte Handlungslehre der „Lebensweltorientierung“ (Grunwald/Thiersch 2004) gerät die Fallstruktur der Rehabilitierenden als Arbeitsauftrag in den Blick und mit der „Mandatslehre“ des Doppel- bzw. Tripelmandats wird der ambivalente Charakter und die Eigenlogiken von helfenden Institutionen reflektiert (Böhnisch/Lösch 1973; Staub-Bernasconi 2018). Nicht immer haben die Gatekeeper eine sozialpädagogische Ausbildung absolviert, dennoch greift der dort vermittelte professionelle Habitus in den unterstützenden Leistungen und im Fallmanagement der Rehabilitationsverläufe. Im sozialpädagogischen Arbeitsstil werden Gatekeeper in geringerem Maße für Misserfolge verantwortlich gemacht; vielmehr folgen sie der Handlungslogik der professionellen Autonomie, nach der sie die institutionellen Interessen zugunsten der Bedarfslagen der Rehabilitierenden relativieren und gegenüber den formalen Verfahren eine gewisse Eigenständigkeit behaupten. Das Arbeitsziel ‚berufliche Rehabilitation‘ wird an den Lebenswirklichkeiten der Rehabilitierenden gemessen. Dies eröffnet dann Handlungsspielräume insbesondere für komplexe Bedarfslagen und deren Interpretation und Etikettierung im Gesamtverlauf auch über die eigene Institution hinaus. Für die Gatekeeper konstituiert sich die Versorgung als ein Netz sozialer, psychologischer, medizinischer und pädagogischer Hilfsangebote, in denen auch der Verlaufscharakter der Versorgung in den Blick rückt. Dabei wird ein diskontinuierlicher Fallverlauf zwar nicht erwartet, aber es werden schon am Startpunkt der beruflichen Rehabilitation Vorkehrungen getroffen, um mögliche Problembereiche zu antizipieren. Der Fallverlauf selbst steht unter kontinuierlicher Beobachtung. Bei Bedarfen, die problemlos in Verfahren münden, realisieren Rehabilitierende diesen Arbeitsstil häufig nicht, er wird aber bei komplexeren Problemlagen offensichtlich, in denen von beiden Seiten ein höherer Anteil an Interpretationsarbeit notwendig wird, um den Fall zu definieren und zu bearbeiten.
3 Verlaufsstrukturierung aus der Perspektive der Rehabilitierenden
Im Folgenden werden Rehabilitationsverläufe aus der Perspektive der Rehabilitierenden dargestellt, die sich aus den Aushandlungen mit den Gatekeepern ergeben. Die Arbeitsstile der Gatekeeper haben spezifische Wirkungen auf die Gestalt des Rehabilitationsverlaufs, abhängig davon, an welcher Station welcher Bedarf artikuliert und bearbeitet wird. Anlass für den Eintritt in das Rehabilitationssystem sind gesundheitliche Beeinträchtigungen in Verbindung mit dem Risiko, die bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr ausüben zu können, wodurch Lebensentwürfe neu projektiert werden. Die Stabilität der Lebenslagen bzw. die „Elastizitätspotentiale“ (Kudera 1995: 142) sowie die Fähigkeiten und Ressourcen der Rehabilitierenden, ihren biografischen Bruch (Bury 2009; Corbin/Strauss 1993) zu bewältigen, gehen als sozio-ökonomisches Kapital in die Aushandlungen ein. In den Aushandlungen mit den Gatekeepern kommt zusätzlich performatives Kapital ins Spiel, nämlich die Fähigkeit, ihre Bedürfnisse als ein soziales Problem gegenüber den Gatekeepern zu plausibilisieren und dabei mitzuarbeiten, ihre lebensweltlichen Bedarfslagen in sozialbürokratische Kategorien zu übersetzen.
3.1 Routineverfahren und Standardverläufe
Bei der Verlaufsform der Bearbeitung von Standardproblemen stoßen die Rehabilitierenden auf Gatekeeper, die deren Problemartikulation in formalisierte Falletikette überführen, so dass das Verfahren in eingespielte Routinen überführt wird, auf die das System der beruflichen Rehabilitation in seinem Kern hin ausgerichtet ist. Dabei verarbeiten die Gatekeeper Kategorien, etwa in Form von Diagnosen und medizinischen Gutachten, die in früheren Stationen des Verlaufs erstellt wurden. Befindet sich diese vordefinierte Realität im Einklang mit der Bedarfsartikulation der Rehabilitierenden und deren angestrebten Ziele, wird das Verfahren zunächst reibungslos weiterlaufen. Im System der beruflichen Rehabilitation können kleinere nebengeordnete Bedarfslagen umstandslos mit den üblichen unterstützenden Hilfestellungen bearbeitet werden. Im Folgenden wird ein Fallverlauf vorgestellt, der als Routineverfahren bearbeitet wird.
Herr Kohler[3] (zum Zeitpunkt des Interviews 40 Jahre alt), ein angestellter Malermeister, bekam Rückenprobleme und eine Kontaktallergie gegen Chemikalien, die ihm die weitere Tätigkeit als Maler unmöglich machte. Nach anderthalb Jahren Krankschreibung, einschließlich medizinischer Rehabilitation, wurden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben von der Deutschen Rentenversicherung (DRV) bewilligt. Die Beantragungsprozeduren zur LTA laufen aus seiner Sicht reibungslos ab. Er erinnert sich nicht an Details, etwa an den Kontakt zur Rehaberatung der DRV. In der Wahl seines Umschulungsberufs des Industriekaufmanns und der Wahl seiner Praktikumsstelle in der Chemieindustrie schloss Herr Kohler an seine Kenntnisbestände als Malermeister an. Während der Krankheitsphase kam es zu Problemen in der Ehe und in deren Folge zur Trennung von der Ehefrau. Die psychischen Belastungen aufgrund der Scheidung und der Kränkung, nicht erwerbstätig gewesen zu sein, kann Herr Kohler gut mit der obligatorischen psychologischen Beratung im BFW abfangen.
Das System der beruflichen Rehabilitation hat sich auf solche Verläufe eingestellt, die bis vor einigen Jahren als Kerngeschäft der BFW gelten konnten. Der Ausfall der Erwerbsfähigkeit bei körperlichen Beeinträchtigungen gilt als Standardproblem, das durch Bildungsprozesse gelöst werden kann. Ein BFW sieht sich als eine dafür spezialisierte Einrichtung der beruflichen Bildung für Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und fungiert in diesem Verständnis als konventionelle Organisation der Berufsbildung, in der pragmatisch für den Arbeitsmarkt ‚fit‘ gemacht wird. Das Ziel der Vollqualifizierungen ist das Bestehen der Prüfungen der Industrie- und Handelskammer (IHK) durch die Rehabilitierenden für den neuen Ausbildungsberuf.
Rehabilitierende mit solchen Verläufen verfügen über genügend soziale und finanzielle Elastizitätspotentiale, um schwierige Situationen zu bewältigen und den durch die körperliche Beeinträchtigung irritierten Lebensentwurf zu reparieren, wobei psychische Komorbiditäten mit den Vorstellungen einer körperlichen Schädigung versehen und dementsprechend behandelt werden. Mitunter werden Rehabilitierende durch die Umschulung sogar in eine bessere Lage versetzt, was Arbeitsbedingungen (Schichtzeiten, körperliche Belastungen), Prestige und Einkommen angeht. In der beruflichen Rehabilitation sehen diese Rehabilitierenden nach der Krankheitsphase und der medizinischen Rehabilitation Chancen, ihren (berufs)biografischen Bruch zu reparieren und ihren bereits projektierten Lebensentwurf eines Normallebenslaufes auch mit der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu erfüllen.
Die ‚Sortiermaschine‘ des Systems der beruflichen Rehabilitation springt bei dieser Verlaufsform gewissermaßen automatisch an, ist der lebensweltliche Problembedarf als Passung mit sozialstaatlichen Etiketten artikuliert. Die Verfahren nehmen, ausgehend von den gesundheitlichen Beeinträchtigungen, den Bedarf der Rehabilitierenden als Bearbeitungsauftrag in Form von Bildungsleistungen auf, wobei sie weitgehend von den lebensweltlichen Umständen abstrahieren, da nur die formal definierten Bedarfe berücksichtigt werden. Das zeigt sich auch im Fall von Herrn Kohler, der trotz passender formaler Voraussetzungen und guter Ergebnisse die Umschulung abbrach. Latente lebensweltliche Motive und Sinnhorizonte sowie die Neu-Projektierung seines Lebensentwurfs wurden von den Gatekeepern, die im Routinemodus arbeiteten, nicht wahrgenommen und spielten in den Verfahren keine Rolle.
3.2 Strategische Optimierung und die Aushandlung von Einzelfalllösungen
Verläufe lassen sich in der Regel kaum gänzlich reibungslos organisieren. Immer wieder schieben sich in den Bearbeitungsauftrag der beruflichen Rehabilitation lebensweltliche und institutionelle Konstellationen ein, die keine unmittelbare Entsprechung in den Routineverfahren haben. Für diese ‚Störungen‘ der Normalverfahren werden dann mit Hinblick auf das Hauptproblem Einzellösungen gesucht. Die Falldefinition wird zu einem ‚umkämpften‘ Gegenstand, wofür Rehabilitierende und Gatekeeper ein höheres Maß an Interpretations- und Aushandlungsarbeit einbringen. Strategische Optimierung, eine weitere beobachtete Verlaufsform, unterscheidet sich vom zuvor dargestellten Standardverlauf insofern, als dass sich dessen Gestalt nicht durch die reine Anwendung von bürokratischen Routinen ergibt (z. B. Bartel et al. 2015). Vielmehr nutzen Rehabilitierende und Gatekeeper ihre jeweiligen Handlungsspielräume und strukturieren in einem – auch konflikthaften – Abstimmungsprozess die Verlaufsform entlang der bürokratischen Verfahren, in denen verfahrensgerechte Etikette – teilweise mühsam – erst gefunden und dem Bedarf angepasst werden. Kontingenzen und Entscheidungsszenarien nehmen dabei einen höheren Stellenwert als im Standardverlauf ein. Dies setzt für die Beteiligten voraus, dass sie ihre Interessen strategisch artikulieren und gleichzeitig die Perspektive des Gegenübers einnehmen, sollen die Aushandlungen zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen.
Ein Beispiel dafür ist Frau Fender (57 Jahre alt), die etwa 30 Jahre als Krankenschwester im Nachtdienst auf einer internistischen Station arbeitete und sich aufgrund von Rückenschmerzen in ärztlicher Behandlung befindet. Nach der Ablehnung einer in der medizinischen Rehabilitation empfohlenen Umschulung durch die Agentur für Arbeit vereinbart sie mit dem Arbeitgeber den Wechsel auf eine Station, auf der sie weniger körperlich schwere Arbeit verrichten muss. Nach etwa drei Jahren wurde sie jedoch zu Beginn der Pandemie 2020 im Zuge einer betrieblichen Anpassung wieder in ihren alten Bereich mit einer höheren Arbeitsbelastung versetzt. Nach einigen Monaten kam es wieder zu Bandscheibenvorfällen und in deren Folge zu einer Dauerkrankschreibung, in deren Verlauf ein ruhendes Arbeitsverhältnis vereinbart wurde. In der medizinischen Rehabilitation empfahl ihr der Arzt, einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu stellen, was sie empört zurückwies: für die Rente sei sie noch zu jung, außerdem möchte sie, so lässt sich aus dem Interview rekonstruieren, finanziell unabhängig von ihrem Lebenspartner sein und ihren Lebensstandard beibehalten. Kurz vor der sogenannten ‚Aussteuerung‘ aus der Gesetzlichen Krankenversicherung (also nach etwa anderthalb Jahren Krankschreibung) wurde sie von der Sachbearbeiterin ihrer Krankenkasse angerufen, die fragte, ob sie nun nicht doch die Rente beantragen möchte. Frau Fender fühlte sich unter Entscheidungsdruck gesetzt: In ihrer Not, so erzählte sie im Interview, fragte sie aus einer Eingebung heraus ihre Sachbearbeiterin nach deren beruflichen Werdegang, die berichtete, ihren Job nach einer Umschulung bekommen zu haben. Nach dieser persönlichen Einlassung eröffneten sich Alternativen zur Frühberentung: Der Weg der Umschulung, den Frau Fender nach der Episode beim Arbeitsamt verschlossen glaubte, wäre nun doch möglich, obwohl sich die formellen Voraussetzungen nicht verändert haben. Die Sachbearbeiterin initiierte den Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, der von der DRV bewilligt wurde. Mit der Rehabilitationsberaterin der DRV, die nächste Station im Rehabilitationsverlauf, wurde eine Arbeitserprobung (ABE) vereinbart, in der ihre Eignung für Archivtätigkeiten festgestellt wurde und daraufhin eine neunmonatige Qualifikation bewilligt. Mit den Ergebnissen aus dem DRV-gesteuerten LTA-Verfahren konfrontierte Frau Fender in einem Betrieblichen Wiedereingliederungsverfahren[4] (BEM) ihren Arbeitgeber mit der Vorstellung, im Krankenhausarchiv tätig zu werden. Dort war jedoch keine Stelle frei und das Stellenangebot einer Stationsschreibkraft lehnte Frau Fender wiederum ab, da sie befürchtete, (die gesundheitsgefährdenden) Pflegetätigkeiten bei Personalengpässen nicht ablehnen zu können. Nach dem gescheiterten Verfahren zur betrieblichen Wiedereingliederung entschied sie sich für die DRV-finanzierte Umschulung in einem Berufsförderungswerk. Während des Rehabilitationsvorbereitungslehrgangs (RVL) wurde nun doch im Archiv des Krankenhauses eine Stelle vakant, die allerdings zeitnah angetreten werden musste. Dem stimmte Frau Fender zu, brach die Maßnahme ab und trat ihren neuen Arbeitsplatz an.
Im Grunde ist der Fall von Frau Fender, eine Krankenschwester mit Bandscheibenvorfällen, ein Standardproblem. Die Maschinerie, die auf den Pfad der beruflichen Rehabilitation sortiert, springt jedoch verspätet an: Auch mit einem ärztlichen Gutachten hält sich der Gatekeeper bei der Agentur für Arbeit an die Routinen und orientiert sich am institutionellen Primärziel der Arbeitsvermittlung bzw. des Arbeitsplatzerhalts, das andere Optionen überschattet und gleichermaßen von der lebensweltlichen Perspektive der Antragstellerin abstrahiert. Hier können institutionseigene Logiken eine Rolle spielen, die die Sicht auf den Pfad der beruflichen Rehabilitation ausblenden, wenn die Arbeitsmarktchancen in die Pflege größer als in einem neuen Tätigkeitsbereich eingeschätzt werden. Statt sich ihrem Schicksal zu fügen, wechselt Frau Fender die Aushandlungsarena zum Arbeitgeber, mit dem sie eine Einzelfalllösung vereinbart, mit geringeren körperlichen Belastungen weiter zu arbeiten. Auch im weiteren Verlauf zeigt sich, dass sie den Aushandlungsfaden weder gegenüber den sozialbürokratischen Institutionen noch gegenüber dem Arbeitgeber fallen lässt (etwa mit der Entscheidung, den neuen Arbeitsplatz anzunehmen und dafür die LTA abzubrechen).
Die Rehabilitierenden artikulieren in dieser Verlaufsform ihren lebensweltlichen und gesundheitlichen Problembedarf in unterschiedlichen Arenen und nehmen dabei deren jeweilige Prozesslogiken und die Arbeitsstile der Gatekeeper in ihre Problemdarstellung auf. Sind Rehabilitierende mit ihren nicht gänzlich standardmäßigen Problembedarf mit einer regelgeleiteten Arbeitsweise konfrontiert, verzögert sich die Bearbeitung oder sie scheitert. Eine Passung zwischen Verfahren und Lebensentwurf erreichen sie bei Gatekeepern mit einem einzelfallorientierten Engagement, was sie u. U. auch selbst hervorrufen. Der Rehabilitationsverlauf konstituiert sich nicht nach einem vorgegebenen Ablaufschema, sondern als ein iterierend-rekursiver Prozess der Abstimmung von den erzielten Ergebnissen (z. B. Gutachten der medizinischen Rehabilitation, Krankenkasse, Rehaberatung der DRV, Arbeitserprobung im BFW, BEM beim Arbeitgeber) mit dem projektierten Lebensentwurf. Reibungsverluste an den Schnittstellen zwischen und zu den Institutionen vermitteln die Rehabilitierenden zum Teil selbst, wobei Misserfolge oder Rückschläge in Aushandlungen in der einen Arena in anderen Arenen ausgeglichen werden. Das Einsortieren ihrer spezifischen Fallkonstellation in administrative Verfahren setzt genügend sozioökonomischen Rückhalt voraus, damit überhaupt Alternativen ventiliert und Zeiträume des Überdenkens und Aushandelns ermöglicht werden. Die andere Voraussetzung besteht in genügend kulturellem Kapital, mit dem Rehabilitierende ihre Bedarfslagen gegenüber den Institutionen plausibilisieren und nachdrücklich vertreten können – sie sich also selbst aktiv am Prozess des Einsortierens beteiligen. Dass Frau Fender zum Interviewtermin mit dem Aktenordner der Unterlagen ihres Rehabilitationsverfahrens erscheint, ist zumindest ein Hinweis darauf, mit welcher Entschlossenheit und Kompetenz sie ihre Ansprüche durchzusetzen versucht.
3.3 Durchwursteln: Zwischen Routine und Rückzug
Mit Durchwursteln bzw. „muddling through“ identifizieren wir eine Verlaufsform, die von Reckwitz (2017: 350–363) für die Lebensführung der ‚Unterklasse‘ beschrieben wird. Sie lässt sich auch bei einem Teil der von uns interviewten Rehabilitierenden beobachten und basiert auf prekären materiellen Lebensverhältnissen und beruflichen Tätigkeiten im Niedriglohnbereich. Durch gesundheitliche Beeinträchtigungen geraten die Lebensvollzüge der Rehabilitierenden zusätzlich ins biographische Trudeln, was anhand eines Fallbeispiels illustriert wird:
Frau Erdmann (58 Jahre alt, Hauptschulabschluss, abgebrochene Ausbildung im Einzelhandel) wurde nach zwölf Jahren im Alter von 35 Jahren in ihrer Tätigkeit als Telefonistin im Zuge einer betrieblichen Umstrukturierung gekündigt. Gegenüber der Agentur für Arbeit äußerte sie die Idee, sich zur Erzieherin ausbilden zu lassen, thematisierte jedoch nicht ihre schon vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Eine Unterstützung dafür wurde ihr mit Verweis auf ihr Alter verweigert, wie sie sich im Interview erinnert. Nach dieser Episode ließ sich Frau Erdmann als Lagerarbeiterin in Leiharbeitsfirmen anstellen. Im Alter von 57 Jahren erhielt sie nach einem Bandscheibenvorfall eine medizinische Rehabilitation und wurde währenddessen von der Leihfirma gekündigt. Nachdem ihr beruflicher Rehabilitationsbedarf von der DRV anerkannt worden war, hatte sie im Zuge der Abklärung der beruflichen Eignung Kontakt zu einer Mitarbeiterin des BFW, die sie als signifikante Kontaktperson durch das Rehabilitationssystem lotste: Frau Erdmann absolvierte zunächst einen sechswöchigen Computerlehrgang. Nachdem sie damit auf dem Arbeitsmarkt keinen Erfolg hatte, schlug ihr die Mitarbeiterin des BFW die neunmonatige Qualifizierung zur ‚Fachkraft für medizinische Dokumentation‘ im BFW vor, was ebenfalls von der Rehabilitationsberaterin der DRV bewilligt wurde. Nach einigen Wochen im BFW stellte sich heraus, dass sich Frau Erdmann mit dem Lehrgang, insbesondere mit den medizinischen Fachbegriffen überfordert fühlte. Schließlich kam sie gemeinsam mit ihrer Casemanagerin im BFW darin überein, in den Lehrgang für ‚Büro und Verwaltung‘ zu wechseln, den sie erfolgreich absolvierte. Allerdings gelang es ihr nicht, innerhalb von zehn Monaten nach der Maßnahme eine Arbeitsstelle zu finden.
Verläufe des Durchwurstelns zeichnen sich durch prekäre Berufsbiografien aus, etwa ungelernte Tätigkeiten oder Anstellungen in Leiharbeitsfirmen bei schlechter Bezahlung, wenig Anerkennung und geringen Karrierechancen. Dennoch hangeln sich die Rehabilitierenden von Job zu Job mit zwischenzeitlichen Phasen der Erwerbslosigkeit durch. Familiäre Verpflichtungen, wie Kindererziehung oder die Pflege von Eltern, für die sie nur auf geringe soziale Unterstützung zurückgreifen können, engen sie in beruflichen Entscheidungen stark ein. Das betrifft vor allem alleinerziehende Frauen, die auf Teilzeitstellen arbeiten und wenig Chancen haben, auf höher dotierte Positionen zu kommen. Beim Durchwursteln kumulieren die schlechten Chancen, bis sich im späten Erwerbsalter und bei relativ schlechter Gesundheit die Arbeitsmarktchancen zusätzlich verringern.
Häufig sind einige zentrale Voraussetzungen für die Standardverfahren der beruflichen Rehabilitation nicht gegeben und müssen in Aushandlungen erst angepasst werden. Dafür allerdings verfügen die Rehabilitierenden nicht über das kulturelle Kapital, ihr Anliegen gegenüber ihren Gatekeepern nachdrücklich ins Spiel zu bringen. So passen ihre berufs- und bildungsbiografischen Erzählungen (etwa der abgebrochenen Ausbildung, der ungelernten Tätigkeiten und der prekären Erwerbsverhältnisse) und ihre Wünsche von qualifizierten Sozial- oder Büroberufen nicht in das Bild, das sich die Gatekeeper von ihrer beruflichen Zukunft machen, die in der anvisierten Tätigkeit eine Überforderung sehen.
Ein zentrales Problem besteht in der Bildungsferne der Rehabilitierenden: Trotz hoher Motivation eines beruflichen Neustarts ‚fremdeln‘ sie beispielsweise mit der Unterrichtssituation, mit dem Lernstoff und mit dem zukünftigen Berufsbild. Seit dem letzten Schulbesuch sind für diese Rehabilitierenden unter Umständen 20 bis 30 Jahre vergangen; Unterricht kennen sie als Frontalunterricht und nicht als die neuen Methoden des selbstständigen Erarbeitens der Lerninhalte am Computer; die zukünftige Tätigkeit in einem Büro oder in einem Archiv ist ihnen, die bisher meist harte körperliche Arbeit in Fabriken, Lagerhallen, Pflegeheimen oder in Discountmärkten geleistet haben, ebenfalls zunächst suspekt. In diesen Fällen haben die Gatekeeper, selbst wenn sie nicht nur Standards abarbeiten, nur wenig Handlungsspielraum, außer eine leichtere bzw. Teilqualifizierung oder eine Lernunterstützung anzubieten. Der Arbeitsstil des einzelfallorientierten Engagements setzt auch auf Seiten der Rehabilitierenden ein intrinsisches Engagement voraus, ansonsten können die vereinbarten Lösungen ins Leere laufen.
Dem notwendigen eigenem Engagement der Rehabilitierenden steht nämlich ihr distanziertes Verhältnis zu den Akteuren des Sozialstaats entgegen. Im Wesentlichen meiden sie Kontakte zu den Hilfeinstitutionen und akzeptieren deren Entscheidungen bzw. gehen nicht in Widerspruchsverfahren, die – sieht man sich die Bewilligungsquoten von Widersprüchen an – häufig sehr vielversprechend verlaufen würden (Ciszewski 2021). Die bürokratischen Verfahren sind für sie eine Black Box, deren Mechanismen nicht durchschaubar sind und von denen sie annehmen, wenig Mitspracherechte zu besitzen. Ihre bisherigen Erfahrungen in den Institutionen berechtigen sie jedenfalls zu diesen Annahmen. Angebote der Gatekeeper befolgen sie und bleiben fügsam-passiv. Die Rehabilitierenden verfügen i. d. R. auch nicht über genügend soziales und ökonomisches Kapital, um Zeit für Alternativen zu gewinnen, etwa ein Praktikum im gewünschten Tätigkeitsbereich zu absolvieren und so berufsbiografisches Kapital anzuhäufen.
Die Verlaufsform des Durchwurstelns kommt zustande, da sich die Rehabilitierenden und ihre Gatekeeper an den Routineverfahren orientieren, in denen zwar der Bedarf zugestanden, aber zentrale Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Die Fälle lassen sich also weder abweisen noch mit den dafür vorgesehenen Mitteln bearbeiten. Häufig scheinen die Gatekeeper geradezu ratlos zu sein. An signifikanten Stationen nehmen dann einzelne engagierte Gatekeeper Rehabilitierende an die Hand und versuchen, eine Einzelfalllösung herbeizuführen oder sie durch das Rehabilitationssystem zu lotsen. Unter Umständen kann dieses Vorgehen erfolgreich sein und zu einer Arbeitsmarktintegration führen, wenn sie in sicheren und zugewandten Erwerbsmilieus Fuß fassen können.
3.4 Multiple Bedarfslagen
Bei einem zunehmenden Anteil von Rehabilitierenden mit Beeinträchtigungen und Komorbiditäten des psychischen und psychosomatischen Formenkreises steigert sich die Komplexität der Verläufe, da die medizinische Problemdefinition eng mit der lebensweltlichen Situiertheit in einem Verstärkungsverhältnis zusammenhängt (z. B. Meschnig et al. 2019). Der Ausgangspunkt für eine vierte Verlaufsform sind multiple Bedarfslagen der Rehabilitierenden, die sich durch miteinander korrespondierende Problemaufschichtungen in Beruf, Familie, Gesundheit und der ökonomischen Lage ergeben und sich durch psychische Beeinträchtigungen verschärfen.
Ein Beispiel für diese Verlaufsform ist Frau Janssen (42 Jahre alt, Sozialpflegerin, 10-jähriges Kind, alleinerziehend), die fünf Jahre vor dem Interview nach einem Bandscheibenvorfall aufgrund von chronischen Schmerzen, Burnout und Depression als berufsunfähig attestiert wurde. Ein Jahr später begann sie die Umschulung in einem BFW zur Industriekauffrau. Während der Maßnahme häuften sich jedoch ihre schon vorher bestehenden Probleme mit der Erziehung ihres Kindes und mit dem Kindesvater, ihrem gewalttätigen und alkoholsüchtigen Ex-Partner, an, für die das Jugendamt eingeschaltet wurde. In der Folge verstärkten sich ihre psychosomatische Erkrankung und ihre eigene Alkoholabhängigkeit. Aufgrund der zunehmenden Fehlzeiten musste sie die Umschulung nach etwa anderthalb Jahren abbrechen; sie hätte nur noch das Praktikum und die Abschlussprüfung absolvieren müssen. Mit der Casemanagerin am BFW vereinbarte sie im Zuge des Abbruchs eine Rückkehr in die Maßnahme unter der Bedingung, dass sie ihre gesundheitlichen und familiären Probleme bearbeitet. Nach dem Abbruch führte Frau Janssen zunächst eine erfolglose medizinische Rehabilitation zur Behandlung ihrer Adipositas durch. Nach einer weiteren psychosomatischen Rehabilitation, die erfolgreicher war, suchte sie eine Suchtberatungsstelle auf und wurde durch eine von der Casemanagerin vermittelte Psychologin telefonisch betreut. Neun Monate nach ihrem Abbruch war Frau Janssen psychisch so stabil, dass sie die Umschulung fortsetzte, innerhalb eines halben Jahres absolvierte und einen Arbeitsplatz fand.
In der Verlaufsform bei multiplen Bedarfslagen schichten sich familiäre, berufliche und gesundheitliche Probleme auf und verstärken sich gegenseitig, bis eine weitere gesundheitliche Beeinträchtigung das Fass zu Überlaufen bringt. Während in der Verlaufsform des Durchwurstelns das Problemgefüge auf niedrigem Niveau von den Rehabilitierenden als managebar gesehen wird, sind die Rehabilitierenden von ihren aufgeschichteten Problemlagen schier überwältigt und ohne Unterstützung kaum handlungsmächtig. Nicht nur die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, sondern auch die gesamte soziale Situation werden als soziopsychosomatischer Bedarf Gegenstand rehabilitativer Interventionen. Im Zuge der umfassenden Betreuung ergeben sich für die Rehabilitierenden Unterstützungsmöglichkeiten und neue Chancen. Der angestrebte Berufswechsel erfolgt nun auf der Basis der psychosomatischen Diagnose im System der beruflichen Rehabilitation als eine Strategie, der Berufsbiografie eine neue Richtung zu geben (Jellen et al. 2018).
In ihrer biografischen Zwangslage sind ihre ohnehin geringen sozioökonomischen Ressourcen nahezu aufgebraucht und werden mit vielfältigen sozialen Hilfen kompensiert. Im Gegensatz zu den Optimierungsverläufen suchen sie allerdings nicht eigeninitiativ die Gatekeeper auf und vertreten auch nicht offensiv ihre Ansprüche. So werden Beratungsleistungen und soziale Interventionen eher angenommen als aktiv nachgefragt. Allerdings haben diese Rehabilitierenden im Laufe ihrer Krankenkarriere oder in ihren Sozial- und Pflegeberufen praktische therapeutische Wissensbestände angehäuft, mit denen sie ihren Bedarf in der Logik der adressierten Institution in Anschlag bringen können. Sie greifen auf das institutionelle Bedeutungssystem zu – allerdings nur, solange es einem sozialpädagogisch-therapeutischen Code folgt. Dieser bietet die Chance, unterschiedliche Problembereiche aus Familie, Beruf, Bildung und Gesundheit ineinander zu übersetzen und dafür Deutungsangebote zu machen. Der formalistische Arbeitsstil bietet dagegen sowohl für die Rehabilitierenden als auch für die Gatekeeper zu wenig Handlungsspielräume zur Bewältigung von Kontingenzen, insbesondere wenn sich Problemarenen überschneiden. Während im Fallbeispiel von Frau Janssen eine Arbeitsmarktintegration gelingt, ist dies in der Verlaufsform bei aufgeschichteten Problemlagen nicht regelhaft der Fall. Wahrscheinlicher ist zunächst eine längere Phase der Sozialstaatsabhängigkeit, etwa ein befristeter Status der Erwerbsminderung.
4 Passungsverhältnisse von sozialstaatlichen Verfahren und Lebensentwürfen
Anhand der Versorgungsverläufe in der beruflichen Rehabilitation lässt sich thematisieren, inwieweit sozialstaatliche Interventionen in Biografien und in Lebensentwürfen ihrer Adressat:innen hineinregieren. Dabei lassen sich unterschiedliche Passungsverhältnisse von sozialstaatlichen Zuweisungen und der Lebensführung und den Lebensentwürfen der Rehabilitierenden identifizieren. Rehabilitationsverläufe werden zunehmend komplexer, was im Gegenzug auch bedeutet, dass die Verfahren weiträumiger und elastischer auf die Rehabilitierenden angewendet werden müssen. Die Unterstützung für einen gelingenden Verlauf ist dann zunehmend abhängig vom Zusammenspiel, der Aushandlungsbereitschaft und der Passung von Gatekeepern und Rehabilitierenden.
Der Standardverlauf ist durch die Reparatur einer gesundheitsbedingten berufsbiografischen Abweichung durch Bildungsprozesse charakterisiert. Der entsprechende Versorgungspfad, auf dem es zu einer selbstverständlichen Passung zwischen Rehabilitierenden und den Verfahren kommt, hat eine eher formale und geradlinige Struktur, die auf einen Normalerwerbsverlauf bei mittleren Bildungsabschlüssen abgestimmt ist. Die Verlaufsform geht von der prästabilisierten Harmonie von Arbeitsmarkt, Bildung, Lebensläufen und subjektiven Deutungsmustern mit ihren standardisierten Habitusformen aus, die für die Industriemoderne als typisch galt, und immer noch weitreichend in der „alten Mittelklasse“ (Reckwitz 2019) vorzufinden ist, deren sozialmoralische Orientierung auf Erwerb und Kleinfamilie mit konservativen Werten ausgerichtet ist. Routineverfahren reparieren für diesen ‚Normalfall‘ den biografischen Bruch und ermöglichen, das Wohlfahrtsniveau und die soziale Lage soweit wie möglich beizubehalten.
Bei Vorliegen von komplexen Problemkonstellationen, brüchigen oder prekären Erwerbs- und Bildungsverläufen sowie von entstandardisierten Lebensentwürfen, typisch für die Spätmoderne, kommt die formalisierte und gradlinige Verlaufssteuerung, wie sie der Routineverlauf repräsentiert, an ihre Grenzen. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen liegen nicht mehr nur punktuell vor, sondern haben sich verzeitlicht und durch Komorbiditäten vervielfacht. Zudem werden die Bereiche der Lebensführung, der Familie und des Erwerbs mitunter selbst zu Problemarenen, die in den Gesundheitszustand hineinspielen. In unseren Interviews zeigt sich, dass Prozesse des offenen Aushandelns nun die formalen Verfahren flankieren, die elastischer werden und einen größeren Interpretations- und Handlungsspielraum zulassen.
So sind die Verläufe des strategischen Optimierens mit einem größeren Aushandlungsanteil als die Routineverläufe versehen, in denen Rehabilitierende die Chancen, die ihnen Lebenswelt, Erwerb und Sozialstaat bieten, ausloten. Die Passung zwischen Rehabilitierenden und Gatekeepern ergibt sich daraus, dass der berufs- und lebensbiografische Entwurf den Gatekeepern im Hinblick auf die Maßnahme und das Verfahren nachvollziehbar gemacht und mit dem Lebensentwurf in Übereinstimmung gebracht wird. Der Gegenstand der Aushandlung ist nicht nur eine sozialstaatliche Leistung oder Zuweisung. Vielmehr wird ebenfalls auf jeder Station und gegenüber jedem Gatekeeper eine biografische Erzählung in den Entscheidungs- und Aushandlungsprozessen hervorgerufen und strategisch gegenüber den Gatekeepern als kohärent angepasst. Während im Routineverlauf die Thematisierung der Biografie selbstverständlich vorausgesetzt ist, wird biografische Kohärenz im Optimierungsverlauf erst hergestellt. Für die sozialstaatlichen Verfahren und die Lebensentwürfe ist zwar der Normallebenslauf eine leitende Orientierung, die jedoch eher locker mit den davon zunehmend abweichenden Lebensrealitäten verknüpft ist. Zum Ausgleich finden daher Aushandlungen statt, bei denen Lebensstandard, Familien- und Erwerbsverläufe sowie subjektive Dimensionen wie Wohlbefinden, Emanzipation, Jobzufriedenheit, Work-Life-Balance und individuelle biografische Projekte optimiert werden.
Die Risiken in den Verläufen des Durchwurstelns bestehen nun regelmäßig darin, dass eben keine biografische Kohärenz der Rehabilitierenden gegenüber den Gatekeepern erzielt wird, aus der ein Lebensentwurf abzulesen ist, der zu den Verfahren und Maßnahmen als passend bewertet wird. Durch den prekären oder gebrochenen Erwerbsverlauf ist Biografie einerseits nicht mehr selbstverständlich (im Gegensatz zum Routineverlauf), andererseits bedeuten die Zwangslagen auch, dass vor allem der Not gehorcht und Biografie weitgehend als fremdbestimmt erfahren wird. Gerade in der beruflichen Rehabilitation ist eine innere und kohärent dargestellte Folgerichtigkeit für die ‚richtigen‘ Berufsentscheidungen aber notwendig. Ein (aus Sozialstaatsperspektive nicht intendiertes) Passungsverhältnis tritt dennoch ein, wenn das biografische Durchwursteln sowie Erfahrungen der Diskontinuität und der Fremdbestimmung auch im Unterstützungssystem weitergeführt werden.
Bei Verläufen mit multiplen Problemlagen gestaltet sich der Lebensentwurf auf der Basis sozialstaatlicher Interventionen (und wird im Gegensatz zu den anderen Verlaufsformen nicht nur an einzelnen Punkten, sondern in seiner Gesamtheit bearbeitet), wofür aus Anlass der meist psychischen Beeinträchtigungen die Biografie von den Gatekeepern als eine therapeutische Erzählung hervorgerufen wird (Illouz 2011 sowie im Überblick: Anhorn/Balzereit 2016). Zu zentralen Prinzipien werden Selbstoptimierung und Authentizität, emotionales Selbstmanagement, das Überwinden emotionaler Traumata und die rationale Selbstanalyse von Gefühlen. In den netzwerkförmigen Unterstützungsstrukturen etabliert sich dafür ein neues Passungsverhältnis, bei dem sozialstaatliche Institutionen Rehabilitierenden ein Korsett bieten und ihre Lebensführung in ihrer Gesamtheit der unmittelbaren Lebens- und Alltagspraxis überhaupt erst ermöglichen. Im Sample finden wir allerdings nicht die Repräsentant:innen des therapeutischen Stils aus der akademischen Mittelklasse. Zumeist haben die beruflich Rehabilitierenden aus der alten Mittelklasse konservative sozialmoralische Orientierungen, auf deren Basis sie sich den therapeutischen Duktus erst mühsam aneignen. Das Passungsverhältnis von sozialstaatlichen Interventionen und Lebensentwurf kann daher trotz der Dichte der Versorgung durchaus fragil sein, wenn der Lebensentwurf nicht nach therapeutischen Prinzipien projektiert wird.
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial: Der Sozialstaat als „Sortiermaschine“ – Kategorien und Kategorisierungsprozesse in der Sozialpolitik
- Die Aushandlung von Versorgungsverläufen in der beruflichen Rehabilitation. Passungsverhältnisse von sozialstaatlichen Interventionen und Lebensentwürfen
- De facto-Kategorisierung und Ungleichheit bei der Kita-Platzvergabe in Deutschland: Der Rechtsanspruch auf Frühe Bildung und seine Realität
- Wie Mütter für den Arbeitsmarkt verfügbar gemacht werden sollen
- Rollenverständnisse von Vermittlungsfachkräften in Jobcentern und ihre Bedeutung für das Sanktionshandeln
- The Boundaries of the Jobseeker Category in Europe
- Calibrating families: Data behaviourism and the new algorithmic logic
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- Editorial: Der Sozialstaat als „Sortiermaschine“ – Kategorien und Kategorisierungsprozesse in der Sozialpolitik
- Die Aushandlung von Versorgungsverläufen in der beruflichen Rehabilitation. Passungsverhältnisse von sozialstaatlichen Interventionen und Lebensentwürfen
- De facto-Kategorisierung und Ungleichheit bei der Kita-Platzvergabe in Deutschland: Der Rechtsanspruch auf Frühe Bildung und seine Realität
- Wie Mütter für den Arbeitsmarkt verfügbar gemacht werden sollen
- Rollenverständnisse von Vermittlungsfachkräften in Jobcentern und ihre Bedeutung für das Sanktionshandeln
- The Boundaries of the Jobseeker Category in Europe
- Calibrating families: Data behaviourism and the new algorithmic logic