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Nie mehr allein?

  • Hans-Georg von Arburg

    Hans-Georg von Arburg ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutschsprachige Literatur des 18.–20. Jahrhunderts im europäischen Kontext, die Geschichte der Kunsttheorie und Ästhetik in der Moderne und die Diskurs- und Wissensgeschichte intermedialer Praktiken wie der Physiognomik oder der Klecksografie. In Vorbereitung ist eine Monografie zur Literatur- und Mediengeschichte des Wohnens von ca. 1880–1930.

Published/Copyright: June 4, 2024
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Hvattum Mari, Style and Solitude: The History of an Architectural Problem Cambridge, MA/London: The MIT Press, 2023, 312 Seiten mit 65 Farb- und 10 Schwarzweißabb., $ 40,00, ISBN 978-0-26254-500-61


Die Osloer Architekturhistorikerin und Semper-Spezialistin Mari Hvattum widmet sich in ihrem neuen Buch einem altbekannten Problem: dem Stil als kunstwissenschaftlichen Grundbegriff und seiner Geschichte in der Architekturtheorie der Moderne. Seit der Erfindung der Ästhetik bzw. der Kunstwissenschaft als Disziplin um 1750 durch Theoretiker wie Alexander Gottlieb Baumgarten und Johann Joachim Winckelmann gehört »Stil« zu den meistdiskutierten Konzepten der neueren Kunst- und Architekturgeschichte. Eine Retorte dieses internationalen Phänomens war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die deutschsprachige Debatte, auf die sich Hvattum konzentriert. Von hier aus trug die diskursive Ausdifferenzierung des Stilbegriffs weltweit zur akademischen Nobilitierung der Architektur an den neuhumanistischen Universitäten des 19. Jahrhunderts bei. Dieser Erfolgsgeschichte machte die Programmästhetik der sogenannten klassischen Moderne mit ihren Sanktionen gegen die Stilarchitektur des Historismus ein jähes Ende: »Stil« wurde zum Unbegriff, der von vielen Architekt:innen und Architekturtheoretiker:innen bis heute tabuisiert wird, auch wenn sie nicht ohne ihn auskommen.

Dieser doppelte Widerspruch – die Diskrepanz zwischen der disziplingeschichtlichen Relevanz des Stilbegriffs und seiner fachpolitischen Sanktion einerseits und die Unvermeidlichkeit seiner Thematisierung bei bewusster Ausklammerung aus dem Diskurs andererseits – ist für Hvattum Grund genug, die notorische Stildebatte für die Architekturästhetik der Moderne noch einmal aufzurollen. Sie stellt diese Revision unter den Leitstern von Georg Simmels Idee zu einer Kunstsoziologie des Stils aus dem 1908 erschienenen Essay Das Problem des Stiles: »Von den Erregungspunkten der Individualität, an die das Kunstwerk so oft appelliert«, schreibt Simmel, »steigt dem stilisierten Gebilde gegenüber das Leben in die befriedeteren Schichten, in denen man sich nicht mehr allein fühlt, und wo – so wenigstens werden sich diese unbewussten Vorgänge deuten lassen – die überindividuelle Gesetzlichkeit der objektiven Gestaltung vor uns ihr Gegenbild in dem Gefühl findet, dass wir auch unsererseits mit dem Ueberindividuellen, dem Allgemein-Gesetzlichen in uns selbst reagieren und uns damit von der absoluten Selbstverantwortlichkeit, dem Balancieren auf der Schmalheit der bloßen Individualität erlösen.«[1] Künstlerischer Stil also als formal-ästhetische Kompensation und kollektiv-psychologische Erlösung vom Individualisierungsdruck, der auf dem modernen Subjekt lastet. Die These ist steil, und Hvattum schöpft deren Erkenntnispotenzial bei ihrer Grabungsarbeit im Textmassiv der deutschsprachigen Stildebatte des 18. und 19. Jahrhunderts nicht ganz aus. Was sie zutage fördert, formiert sich dennoch zu einer für die Begriffs- und Problemgeschichte der Architektur als Kunstwissenschaft exemplarischen Untersuchung, die sich selbstbewusst in die Reihe der älteren Standardwerke von Lorenz Dittmann, Klaus Döhmer, Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer, Wolfgang Herrmann u. a. stellen darf.[2]

Hvattum lässt ihre Problemgeschichte des deutschsprachigen Stildiskurses mit dem Großangriff der Architekturmoderne auf die Stilarchitektur des Historismus und ihrem Ringen um einen neuen Baustil ›ohne Stil‹ beginnen (Kap. 1, 21–48). Dafür lässt sie neben Diskursführern aus Deutschland wie Hermann Muthesius und Walter Curt Behrendt auch deren Verbündete aus Holland, so etwa Hendrik P. Berlage und die De Stijl-Gruppe, zu Wort kommen und skizziert die Langzeitfolgen dieser Debatte bis in die Gegenwart am Beispiel von Rem Koolhaas. Schlaglichtartig wird so die internationale Dimension des Themas sichtbar, die den Stildiskurs im 20. Jahrhundert prägte und mit der Proklamation eines modernen International Style durch Henry-Russell Hitchcock und Philip Johnson 1932 gleichsam offizialisierte. (Dass diese Dimension in den folgenden Kapiteln wieder aus dem Blick gerät, wirft die Frage auf, ob sich die Stildiskussion des 20. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer historischen und politischen Voraussetzungen nicht doch spezifisch von jener im 19. Jahrhundert unterscheidet?) Indem Hvattum das Pferd so beim Schwanz aufzäumt, wird das Thema des Buches epistemologisch überhaupt erst als Problem sichtbar: Egal, welche Diskursregeln den Stilbegriff jeweils dominieren oder wie sich die Akteure im Diskurs explizit positionieren, der Begriff als solcher ist unvermeidlich, weil das von ihm bezeichnete theoretische Konzept gleichzeitig eine sachliche Objektseite und eine methodische Subjektseite hat: »Adding to the indispensability – and complexity – of style in architectural history is that it is both a method and an object of investigation; both a diagnostic means and the thing being diagnosed. […] In the history of architecture, as we shall see in the following, style appears as both an optics and an object, making it a slippery but indispensable concept. […] Without understanding style – the way it has been used and the way it has been thought about – we cannot understand modern architecture« (47–48).

Mit dieser Einsicht ist ein Erkenntnisversprechen verbunden, das Hvattum auch einlöst: in sechs monografischen Kapiteln mit einer geballten Ladung an historischen Belegen und systematischen Überlegungen. Die historische Grundformation des Problems, das auch alle kommenden Stiltheoretiker beschäftigen sollte, wird von ihr aus der Stildefinition in Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums von 1764 deduziert (Kap. 2, 53–80). Winckelmann bestimmt den Stil einer Kunst und Kultur einerseits relativ zu ihren historischen inneren und äußeren Bedingungen (Klima, natürliche Umgebung, soziale und politische Verfassung etc.) sowie ihrer bio-dynamischen Entwicklung (Wachstum, Blüte, Verfall). Andererseits hält er am absoluten Stilideal der griechischen Antike fest mit dem Argument, dass sich diese Bedingungen hier in einem welthistorischen Glücksmoment einmalig zusammengefunden hätten. Durch diese Schule machende Anverwandlung des klassisch rhetorischen Stilbegriffs für sein Kunstsystem legt Winckelmann den Grundstein zur beispiellosen Karriere des Stils im Historismus des 19. Jahrhunderts.

Eine zweite Voraussetzung für den historistischen Stil-Hype erkennt Hvattum in der Anreicherung formaler und kultureller Kriterien mit emotionalen und atmosphärischen Stimmungsqualitäten in der Gartentheorie und -architektur um 1800 (Kap. 3, 83–122). Ohne die ›romantische‹ Popularisierung in der Gartenästhetik eines Christian Cay Lorenz Hirschfeld oder Johann Gottfried Grohmann und in der davon inspirierten eklektizistischen Assoziationsarchitektur eines Joseph Friedrich Racknitz und der neugotischen Stimmungsarchitektur Karl Friedrich Schinkels wäre der durchschlagende Erfolg des »aufklärerischen« Stildiskurses im bürgerlichen 19. Jahrhundert kaum möglich gewesen. Diese Erfolgsgeschichte schreibt Hvattum entlang von zwei dominanten Traditionslinien weiter, einer ›idealistischen‹ in der Goethezeit und einer ›relativistischen‹ im Historismus. Die idealistische Tradition führt Hvattum auf Goethes Schlüsseltext Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil von 1789 zurück, in dem Stil als ein harmonisches Drittes definiert wird, welches die extremen Qualitäten objektiver Imitation und subjektiver Fiktion ausgleicht (Kap. 4, 125–150). Das goethezeitliche Stilideal funktioniert interessanterweise nicht nur ideell, wenn sich die klassische Ästhetik mit der idealistischen Philosophie verbündet wie bei Friedrich Schiller oder Friedrich Schlegel. Es kann auch materiell interpretiert werden wie durch Carl Friedrich von Rumohr, der die stilistische Meisterschaft des Genies, das bei Schiller die Materie bezwingt, auf das stilsichere Know-how des Künstlers im Umgang mit Techniken und Materialien herunterbricht. Die idealistische Höchstleistungslehre wird so relativiert und der eine ›ideale‹ Stil zu vielen optionalen Stilen pluralisiert und damit versöhnt, wie Hvattum am Ausstellungskonzept von Leo von Klenzes 1830 eröffneter Münchner Glyptothek vor Augen führt. Die relativistische Tradition, die dadurch begründet wird, erhält mit Heinrich Hübschs 1828 publiziertem Traktat In welchem Style sollen wir bauen? die Epoche machende Sinnfrage. Sie beherrscht bis ins späte 19. Jahrhundert hinein die historistische Identitätssuche nach dem zeitgemäßen eigenen Stil als technologisch modernisiertem Amalgam historischer Stilvorlagen (Kap. 5, 153–181).

Dieser später viel gescholtene Eklektizismus wird nicht nur epistemologisch produktiv, indem er die Korrespondenzthese zwischen dem Zeitgeist der Gegenwart und dem Geist einer verwandten Epoche aus der Vergangenheit als genuine Stilidee des 19. Jahrhunderts hervortreibt. Er initiiert in den 1830er und 1840er Jahren auch die moderne deutschsprachige Architekturpublizistik mit einer ganzen Reihe von neuen Zeitschriften und mehrbändigen Architekturgeschichten und schafft damit eine wichtige Voraussetzung für die akademische Institutionalisierung der Disziplin an den um 1850 neu gegründeten Polytechnischen Hochschulen. Und er greift nicht zuletzt in die nationale Frage ein, welcher Stil den deutschen Pionierstaaten Bayern und Preußen mit ihren hegemonialen Ambitionen angemessen sei, wie Hvattum an den alternativen Neubauplänen Schinkels für die Kirche am Friedrichswerder in Berlin veranschaulicht. Diese dritte Stil-Dominante im nationalistischen 19. Jahrhundert führt in Bayern unter Maximilian II. zu einer einmaligen Initiative, der vom König höchstpersönlich geleiteten Enquete über einen Bayerischen Nationalstil (Kap. 6, 183–204). Als moderne Medienkampagne aufgezogen und vom öffentlichen Preisausschreiben bis zur privaten Korrespondenz mit führenden Intellektuellen wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling fanatisch verfolgt, führt die monarchische Zeitgeistfahndung in den 1850er Jahren mit dem berüchtigten ›Maximiliansstil‹ zu gebauten Lösungen, die durch ihre gigantischen Dimensionen mehr quantitativ überwältigten als dass sie durch die gefundene Formensprache qualitativ überzeugt hätten (wie z. B. in der namensgebenden Münchner Maximilianstraße von Georg Friedrich Christian Bürklein). Dass aber auch dieser Stilbombast seine subtilen Seiten hatte, beweist Hvattums fulminante Bildlektüre von Engelbert Seibertz’ 1857 vollendetem Fresko Die imaginäre Einführung Alexander von Humboldts in einen Kreis berühmter Männer aus Kunst und Wissenschaft im Akademiesaal des Maximilianeums. Der König ist darin als Person zwar abwesend, dafür thront er in Architektur gewordener Gestalt als Abbild seines eigenen Gebäudes über allem, was in Bayern Rang und Namen hatte und sich im Bildvordergrund zur kollektiven Stilfindung versammelt (203—204).

Das Schlusskapitel von Hvattums Buch ist Gottfried Semper und seiner ›praktischen Ästhetik‹ mit dem unbescheidenen Titel Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten gewidmet (Kap. 7, 207–230). Bei der Auseinandersetzung mit diesem 1860 veröffentlichten Jahrhundertwerk in ihrer wegweisenden Semper-Dissertation mag Hvattum einst den Plan zum aktuellen Buchprojekt gefasst haben.[3] Und weil sie Semper als historistischen Nachlassverwalter Winckelmanns versteht, stellen Hvattums Lektüren von Sempers überraschend zerstreuten und kursorischen Stildefinitionen auch den konsequenten Fluchtpunkt ihres Buches dar. Indem Semper Winckelmanns Mehrfaktorenanalyse dynamisiert, befreit er den Stil von seinen ideellen, kulturellen und materiellen Determinanten und entgrenzt ihn zum universellen, ja kosmischen Produktionsprinzip. Seine Theorie des Stoffwechsels, nach der sich Stil in der Architektur aus ursprünglichen Kulturtechniken entwickelt und unter variablen materiellen, technologischen und sozio-politischen Rahmenbedingungen immer wieder anders konkretisiert, führt Semper über die etymologische Verbindung des Stils mit dem lat. stylus zurück zur menschlichen Hand, die das Schreib-Werkzeug führt: »The word ›style‹ originally signified a stylus with which one impressed letters on wax tablets; later the term was used to convey the quality of the manner of writing in general. We have adopted the word together with its meaning. […] I see in the word ›style‹ the quintessence of those qualities of a work that come to the fore when the artist knows and observes the limitations imposed on his hand by the particular character of all contributing coefficients and, at the same time, takes into account and gives artistic emphasis to everything that, within these limitations, these contributory coefficients offer, provided this will serve the purpose of the task.«[4] Einen radikaleren Geltungsanspruch und eine experimentellere Antriebskraft als bei Semper, der die Frage des Stils in der Architektur zu einer Sache der Sprache macht, die man dazu finden muss, hat das Stilproblem im Diskurs über Architektur bis heute nicht mehr erreicht.

Diese Parforcetour durch das zweihundertjährige Dickicht deutschsprachiger Stiltheorien gelingt Hvattum in magistraler Weise. Ihr Kompass ist wie gesagt Simmels Vorstellung vom »style as a place where ›one no longer feels alone‹« (9). Auf diesen Leitsatz kommt sie in der abschließenden Coda (233–239) noch einmal zurück und trägt nun auch den Zusammenhang nach, in dem die Idee bei Simmel steht: »›What drives modern man so strongly to style,‹ he observed, ›is the unburdening and concealment of the personal, which is the essence of style’« (239).[5] Hvattum sieht darin jene »more cosmopolitan ways of thinking« konzentriert »[that] emphasized style as common property« (239). Von Cicero bis Semper als eine Art Gegentradition kultiviert, wirke diese Begriffsgeschichte als ein »antidote to the solitude of individual expression«, mit der ein spezialistischer bis idiosynkratischer Stilbegriff die neuere Architektur(theorie) geschlagen hat (239). Diese kosmopolitische und kommunitäre Alternative in Erinnerung zu rufen, ist Hvattums Anliegen. Leider scheint sie selbst der Tragfähigkeit dieses Arguments nicht ganz zu trauen, oder mindestens rutscht es ihr im Handgemenge mit den vertrackten Theoriediskussionen immer wieder weg. Die programmatische Konjunktion von ›Style‹ und ›Solitude‹ taucht insgesamt einfach zu selten auf, um als Leitidee des Buches wirksam werden zu können. Auf Simmels Grundgedanken, dass Stil und Stilisierung – worauf Simmel eigentlich abzielt – mit künstlerischen Mitteln Vereinzelung verhindern und Gemeinschaft stiften können oder sollen, kommt die Darstellung nur beiläufig und oft implizit zurück (139–140, 177–181, 195, 204 und 228–229). Wer beim Lesen auf die Erhellung der kanonischen Texte und Positionen durch Simmels Geistesblitz hofft, muss sich mit Geduld wappnen und fragt sich bisweilen, zu welchen neuen Einsichten Hvattums Detaillektüren eigentlich führen. Auch die Erschließung der deutschsprachigen Fachdiskussion für ein internationales Publikum erklärt da zu wenig, wenn man an Herrmanns englischsprachige Anthologie von 1992 denkt (es sei denn, man liest Hvattums Buch als interpretierenden Kommentar zu dieser Textsammlung) oder an die angelsächsische Spezialforschung, die Hvattums gut sortierte Bibliografie verzeichnet (281–298). Last not least hätte auch die bemerkenswerte Schlussbeobachtung, dass die deutsche Stildebatte immer wieder in politischen Krisen und Kriegen (1789–1814, 1848/49, 1914–1919) aufflackerte (238 – 239), nicht bloß konstatiert werden müssen, sondern mit Simmels These der Gemeinschaftsstiftung durch Stilisierung mindestens ansatzweise erklärt werden können.

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Gerd Danigel, Französische Straße, 2. Juli 1990, 1990, Fotografie
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Gerd Danigel, Französische Straße, 2. Juli 1990, 1990, Fotografie

Dennoch und trotz dieser Kritik (es ist die einzige grundsätzliche): Hvattums Stilbuch ist ein Wurf. Es überzeugt durch eine enorme Sachkenntnis, ist pointiert formuliert und brilliert mit einem besonderen Esprit, der stets auf ein besseres Verständnis der Sache abzielt. Style and Solitude bietet einen souveränen Überblick über eine verästelte und in sich verknotete Diskursgeschichte, weil die Verfasserin den historischen Wust an Spezialwissen mit einer beneidenswerten Gabe zur Verknappung konzentriert und auf das Wesentliche reduziert. Und nicht zuletzt ist Hvattums Buch reich und klug illustriert, so dass die zentralen Argumente auch sinnfällig werden. Diese argumentative Bildunterstützung gipfelt in Gerd Danigels Schwarzweiß-Fotografie (Abb. 1) aus dem Nachwendejahr 1990, die die Quintessenz des Buchs auf dem Cover ausstellt und innen auf einer Doppelseite abbildet (236–237). In Frontalansicht steht dort Schinkels Friedrichswerdersche Kirche als Ikone eines antik-modernen preußischen Universalstils (168–177) dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der ehemaligen DDR von Josef Kaiser, Heinz Aust, Gerhard Lehmann und Lothar Kwasnitza im International Style der Moderne gegenüber, dynamisch auf den Betrachter zu und über ihn hinweg laufend, im Vordergrund ein Stück Straße mit ein bisschen Unkraut am Bordstein, dahinter eine Rasenfläche mit zwei versenkten Scheinwerfern, eine kleine Baumgruppe zwischen den emblematischen Bauten, ein paar vereinzelte Fußgänger, im Hintergrund ein Parkplatz mit abgestellten Trabis. Besser könnte das, was Hvattum nach Simmel am Stil interessiert, nicht ins Bild gesetzt werden: sein merkwürdiger Sitz im Leben, das kein ganz wirkliches (mehr) ist, seine spannungsvolle Geometrie, mit der hier Einer (der preußische Geheime Oberbaurat) gegen alle (das realsozialistische Architektenkollektiv) steht, das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Tradition und Innovation, das seine architektonischen Lösungen unvermeidlich aneinander kettet, die emotionalen Batterien, die seine gebauten Formen mit der nostalgischen Traumenergie von nationaler Größe und kultureller Suprematie aufladen usw. Ist, wer sich an den Stil hält, wirklich nie mehr allein? Diese kritische Rückfrage muss sich Simmels Stilthese nach der Lektüre von Hvattums Buch und in Anbetracht dieses Titelbildes gefallen lassen. Dass man sich diese Frage stellt, weil Hvattum sie nicht beantwortet, spricht am Ende vielleicht doch wieder für ihr Buch. Denn möglicherweise lässt sich die These gar nicht erhärten. Mit Sicherheit spricht es aber für ihre historische Relevanz, denn das Stilproblem und seine deutsch-deutsche(n) Geschichte(n) haben ihre gesellschaftliche und politische Aktualität bis heute nicht verloren.

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Hans-Georg von Arburg

Hans-Georg von Arburg ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die deutschsprachige Literatur des 18.–20. Jahrhunderts im europäischen Kontext, die Geschichte der Kunsttheorie und Ästhetik in der Moderne und die Diskurs- und Wissensgeschichte intermedialer Praktiken wie der Physiognomik oder der Klecksografie. In Vorbereitung ist eine Monografie zur Literatur- und Mediengeschichte des Wohnens von ca. 1880–1930.

  1. Bildnachweis: 1 Wikimedia Commons / Gerd Danigel, CC BY-SA 4.0 (URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fc/Friedrichswerdersche_Kirche_Ministerium_für_Auswärtige_Angelegenheiten_1990.jpg [letzter Zugriff 7. Februar 2024]).

Published Online: 2024-06-04
Published in Print: 2024-06-25

© 2024 Hans-Georg von Arburg, published by De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Downloaded on 21.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zkg-2024-2008/html?licenseType=open-access
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