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Nachvollziehbarkeit ermöglichen. Qualitative Beiträge in der Zeitschrift für Soziologie

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Veröffentlicht/Copyright: 5. Juni 2025
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Die Debatte um Gütekriterien der empirischen Sozialforschung bewegt die deutschsprachige Soziologie nun schon seit einiger Zeit, wie die zahlreichen Beiträge zu diesem Thema auch in dieser Zeitschrift belegen. Unterschiedliche methodologische Positionen und divergierende Forschungslogiken erschweren eine Verständigung auf einheitliche Kriterien. Während einige Stimmen für universelle Standards jenseits methodologischer Gräben plädieren (Erhard & Schäfer 2024; Otte et al. 2023; Sonntag 2023), betonen andere die Notwendigkeit spezifischer Qualitätskriterien für die qualitative Sozialforschung (Eisewicht & Grenz 2018; Strübing et al. 2018). Was bedeutet dies nun für Autor*innen, die planen, ein Manuskript bei der Zeitschrift für Soziologie einzureichen? Ich beantworte diese Frage aus Sicht eines Mitherausgebers und gebe hierzu vor allem pragmatische Hinweise, die bei der Erstellung eines qualitativen Manuskripts dienlich sein sollen. Mir geht es weder darum, der Vielzahl an Vorschlägen und Wortbeiträgen zur Güte einen weiteren hinzuzufügen, noch die Debatte für beendet zu erklären oder einen der zahlreichen Vorschläge als verbindlich festzulegen. Vielmehr möchte ich in diesem Editorial praktische Leitlinien zur Orientierung vorschlagen, die sowohl der internen Vielfalt als auch einer gemeinsamen Schnittmenge qualitativer Forschung gerecht werden.

Auf den Punkt gebracht schlage ich hier vor, bei der Veröffentlichung qualitativer Forschung Nachvollziehbarkeit in zweifacher Hinsicht zu gewährleisten: (1) die Offenheit des qualitativen Forschungsprozesses angemessen zu übersetzen; (2) für Transparenz beim methodischen Vorgehen Sorge zu tragen. Beide Aspekte stehen in besonderer Weise im Fokus dieser Zeitschrift. Denn die Zeitschrift für Soziologie zielt auf eine „breite Leserschaft und Aufmerksamkeit in der Disziplin“ und setzt demnach auf eine „breite Verständlichkeit“ der Veröffentlichungen, wie man auf der Homepage nachlesen kann. Dementsprechend müssen veröffentlichte empirische Beiträge einer breiten Fachleser*innenschaft darlegen, wie sie zu ihren Ergebnissen kommen – und dies jenseits allzu spezifischer Binnendiskurse einzelner Ansätze und Methodologien.

Die Offenheit im Forschungsprozess angemessen darstellen

Eine häufige Schwierigkeit besteht darin, dass die Offenheit und der (zunächst) tastend-explorative Charakter vieler qualitativer Studien den konventionellen Anforderungen und dem etablierten Format von Zeitschriftenartikeln entgegenstehen (Otte 2019: 4). Die Zeitschrift für Soziologie adressiert ein breites Fachpublikum und die meisten dort veröffentlichten Artikel folgen einem relativ standardisierten Aufbau. Dies beinhaltet unter anderem, dass die Artikel eine klar formulierte These verfolgen, die bereits in der Einleitung präzise herausgearbeitet werden sollte. Diese Übersetzungsleistung ist für qualitative Beiträge eine besondere Herausforderung. Quantitative Beiträge folgen in ihrem Aufbau typischerweise mehr oder weniger der Entdeckungslogik ihrer Forschung: Auf Grundlage einer Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand folgt die Hypothesengenerierung, die mit geeigneten Daten und Methoden überprüft werden. Dies gilt für das Gros der qualitativen Beiträge nicht. Folgte man hier beim Schreiben der Entdeckungslogik und behandelte die textuelle Darstellung in Form eines Zeitschriftenartikels „als ein ästhetisches Randproblem der Ergebnispräsentation“ (Strübing et al. 2018: 93), dann erhielte man in vielen Fällen einen Text, der sich mit einer zunächst vergleichsweisen diffusen Fragestellung an sein empirisches Material wagt, um dann zum Ende mit einer These oder einer Typologie aufzuwarten. Zweifelsohne hat ein solches Vorgehen seine Berechtigung und erlaubt in besonderem Maße der Entdeckungslogik der qualitativ Forschenden zu folgen. Aber er verfehlt gewissermaßen das Genre und vermag als Zeitschriftenartikel nicht zu überzeugen.

Eine weitere Quelle für Passungsschwierigkeiten liegt in dem in Teilen der qualitativen Forschung selbst gesetzten Anspruch in besonderem Maße Theoriearbeit zu leisten (Kalthoff et al. 2008). Demzufolge liegt der Reiz und die Innovationskraft qualitativer Publikationen gerade darin, etwas zu wagen, neue Perspektiven und Konzepte zu entwickeln – und dies bedarf mitunter auch der Abweichung vom konventionellen Format des Zeitschriftenartikels. Woher die Passungsschwierigkeiten auch rühren mögen, die von den qualitativ arbeitenden Autor*innen zu leistenden Übersetzungen beim Publizieren sind meines Erachtens ungleich herausfordernder als in einer quantitativen Forschung, die auf inkrementellen Wissenszuwachs und auf standardisierte Publikationsformate setzt. Diese Offenheit und anfängliche Unbestimmtheit des Forschungsprozesses steht jedenfalls in einem Spannungsverhältnis zum Format des gängigen Zeitschriftenaufsatzes.

Transparenz von methodologischen Grundannahmen und methodischem Vorgehen

Eine wichtige Voraussetzung für Nachvollziehbarkeit ist Transparenz. Empirische Beiträge müssen ihr methodisches Vorgehen, aber auch ihr methodologisches Grundverständnis hinreichend offenlegen. Transparenz kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Herbert Kalthoff hat in einem vorherigen Editorial (2021) der Zeitschrift für Soziologie die Gütekriterien-Debatte zum Anlass genommen, zu Fragen der Replizierbarkeit, der Archivierung und Nachnutzung qualitativer Daten Stellung zu beziehen und hierzu für einzureichende qualitative Manuskripte Vorgaben (Data Note) zu formulieren. Transparenz wird in diesem Fall als Frage nach dem Zugang zu Forschungsdaten verhandelt. Ich wähle hier einen anderen Zugang und stelle Fragen der „textuellen Performanz“ (Strübing et al. 2018: 93–94) in den Vordergrund. Genauer: Wie stellen qualitative Forschungsbeiträge sicher, dass Leser*innen das methodische Design und seine Umsetzung lesend nachvollziehen und hernach hinsichtlich seiner Güte beurteilen können? Wie schreibt man so, dass Kolleg*innen die „Gegenstandsangemessenheit“ und „empirische Sättigung“ (Strübing et al. 2018: 86–90) oder die „Konzept-Indikator-Korrespondenz“ (Otte et al., 2023, S. 35–37) einer qualitativen Studie einschätzen können?

Passend hierzu haben Mario Luis Small und Jessica McCrory Calarco (2022) Vorschläge zur „qualitative literacy“ gemacht. Damit meinen sie die Fähigkeit, qualitative Forschung nicht nur durchzuführen, sondern sie auch nachvollziehbar und argumentativ kohärent darzustellen. Unbenommen aller weiterhin (zu Recht) geführten Diskussionen um Gütekriterien müssen Herausgeber*innen und Gutachter*innen die Qualität eines qualitativen empirischen Manuskripts beurteilen können. Dies setzt voraus, dass Autor*innen methodisch nachvollziehbar darlegen, ob und inwiefern ihre Arbeit wissenschaftlichen Qualitätsstandards genügt – unabhängig davon, welche Gütekriterien man konkret anlegt. Dies umfasst aus meiner Sicht insbesondere die folgenden Ebenen:

  1. Datenerhebung und Fallauswahl: Autor*innen müssen klar darlegen, welche Art von Daten sie in welchem Kontext erhoben haben. Dazu gehören beispielsweise in der Interviewforschung die Anzahl der geführten und analysierten Interviews mit Angaben der Gesprächslänge (so auch das entsprechende Merkblatt „Hinweise für Autorinnen und Autoren“ dieser Zeitschrift). Weitere Angaben dienen der Einordnung des Datenmaterials und geben hilfreiche Kontextinformationen, etwa zum Alter und Geschlecht der Beforschten oder (je nach Fragestellung und Gegenstand) zu ihrem Beruf oder ihren Mitgliedschaften in Organisationen. Ähnliches gilt für ethnografische Feldforschung: Wo, wann und in welchen Zeiträumen wurden Beobachtungen durchgeführt? Unter welchen Umständen? Hier können Tabellen Übersicht verschaffen. Schließlich sollte dies auch eine Darstellung der Fallauswahl beinhalten. Welche Fälle haben Forschende mit welchen Überlegungen ausgewählt? Welche Samplingstrategien kamen warum zum Einsatz? Und schließlich wofür steht die Fallauswahl? Inwiefern lassen sich die Ergebnisse auf andere Fälle übertragen? Handelt es sich um besonders herausgehobene Fälle, an denen sich sozialtheoretisch interessante Dinge beobachten lassen („perspicuous settings“; Garfinkel 2002: 181–182)? Geht es um die hermeneutisch genaue Analyse eines Einzelfalls? Oder sind hier typische Muster bestimmter Typen zu sehen?

  2. Analyseverfahren: Ebenfalls in den „Hinweisen für Autorinnen und Autoren“ der Zeitschrift für Soziologie vermerkt, ist die Forderung, die verwendeten Analyseverfahren (Sequenzanalyse nach Objektiver Hermeneutik, Kodierungen nach der Grounded Theory, diskursanalytische Verfahren usw.) anzugeben. Jenseits einer einfachen Nennung im Methodenteil des Beitrags sollen die empirischen Teile darlegen, wie Daten, Analyseverfahren und Ergebnisse zusammenhängen. Dies beinhaltet, dass das Datenmaterial in eine Form gebracht wird, in der es hinreichend konkret und detailreich vorliegt („palpability“ im Sinne von Small & Calarco 2022: 80–98), damit die Leser*innen nachvollziehen können, wie die Autor*innen zu ihren Ergebnissen gelangt sind. Für auf Interviews basierende Beiträge zeigen exemplarische Aussagen der Interviewten die (A-)Typik von Akteuren, Biografien oder Handlungsmustern. In der ethnografischen Forschung geben einzelne Situationsbeschreibungen und Protokollausschnitte Einblick in Situationen, Lebenswelten oder Praktiken.

    Es geht hier nicht darum, dass möglichst viele Datenausschnitte gezeigt werden sollten. Vielmehr gilt es, exemplarische Fälle oder Sequenzen auszuwählen, die die entwickelte Argumentation tragen können und diese vor dem Hintergrund der Analyse des gesamten Datenmaterials einzuordnen. Zeigen die Ausschnitte typische Fälle und Verläufe? Oder sind es gerade abweichende Fälle, an denen sich etwas Interessantes zeigt? In jedem Fall soll an diesen Ausschnitten deutlich gemacht werden, wie die Autor*innen von den Daten zu ihren empirischen Ergebnissen und theoretischen Einsichten gelangt sind.

  3. Methodologische bzw. sozialtheoretische Grundannahmen: Ein Beitrag sollte über die Nennung des Analyseverfahrens an geeigneter Stelle (beispielsweise in der Einleitung) klar ausweisen, welche methodologische bzw. sozialtheoretische Grundhaltung er verfolgt. Erfolgt dies nicht, stellen sich oft Missverständnisse bei der Lektüre ein. Verfolgt ein Artikel etwa eine wissenssoziologische Perspektive, bei der die subjektive Sichtweise der interviewten Akteure rekonstruiert wird, kann dies schnell als objektive oder affirmative Aussage der Autor*innen über einen Gegenstand fehlinterpretiert werden. Diese Klärung lohnt sich dementsprechend bisweilen auch auf Ebene der empirischen Darstellung: Wer spricht hier eigentlich auf welcher Ebene? Sind es die Autor*innen oder die Beforschten? Hinzukommen sollte ein klares Auseinanderhalten unterschiedlicher Verwendungsweisen theoretischer Konzepte. Welche sind jeweils begriffliche Werkzeuge („sensitizing concepts“ im Sinne von Blumer 1954), welche sind Ergebnisse der empirischen Arbeit?

Die hier vorgestellten Empfehlungen zielen darauf ab, qualitative Forschungsbeiträge für ein breites Fachpublikum zugänglich und beurteilbar zu machen, ohne ihre methodologischen Besonderheiten zu vernachlässigen. Sie verstehen sich als pragmatische Orientierungshilfen, nicht als starre Vorgaben. Die Zeitschrift für Soziologie wird auch weiterhin verschiedene methodologische Ansätze und Darstellungsformen berücksichtigen, solange sie den grundlegenden Anforderungen an wissenschaftliche Transparenz und Nachvollziehbarkeit entsprechen. Gleichzeitig sind sich die Herausgeber*innen bewusst, dass qualitative Forschungsbeiträge mitunter von gängigen Formaten abweichen können und müssen. In diesem Sinne müssen Autor*innen qualitativer Beiträge, Transparenz in der Darstellung von Methode und Methodologie sicherstellen und die prinzipielle Offenheit ihres Vorgehens anschlussfähig halten, ohne die Besonderheit qualitativer Sozialforschung zu unterlaufen.

Literatur

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Strübing, J., Hirschauer, S., Ayaß, R., Krähnke, U., & T. Scheffer, 2018. Gütekriterien qualitativer Sozialforschung. Ein Diskussionsanstoß. Zeitschrift für Soziologie, 47(2), 83–100. https://doi.org/10.1515/zfsoz-2018-100610.1515/zfsoz-2018-1006Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2025-06-05
Erschienen im Druck: 2025-06-03

© 2025 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Heruntergeladen am 16.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zfsoz-2025-2017/html
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