Rezensierte Publikation:
Thomas Sparr: „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“. Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank. Frankfurt/Main: Fischer, 2023. ISBN: 978-3-10-397545-1
Seit geraumer Zeit ist es in Mode gekommen, Biographien vorzulegen, die von Gegenständen, Städten oder Ähnlichem handeln. Das ist, strenggenommen, ein Widerspruch in sich: Denn dem Wortursprung gemäß geht es ja um ein Leben (gr. bios), das beschrieben wird (gr. grafia). Auch der Beginn der Gattung im 4. Jahrhundert v.d.Z. ist untrennbar mit der Lebensgeschichte eines konkreten Menschen verbunden, mehr noch: Ihre Entstehung in hellenistischer Zeit markiert einen ganz wesentlichen Einschnitt in der Wahrnehmung des menschlichen Individuums überhaupt. Biographien von Unbelebtem sind also nur im übertragenen Sinne Lebensbeschreibungen. Und doch leuchtet die Metapher unmittelbar ein: Auch Dinge können ein Eigenleben führen, für ihre Entstehung und Wirkung lässt sich – ähnlich wie bei der ‚echten‘ Biographie – eine sinnvolle Geschichte konstruieren. Ein wesentlicher Unterschied ist freilich, wessen Entscheidungen als zentral für die jeweilige ‚Lebens‘-Geschichte angesehen werden. Bei der klassischen Biographie über Personen wird das Individuum, dessen Werden und (in der Regel auch) Vergehen erzählt werden, als zentraler Akteur angesehen: Sie oder er ist nicht nur den Zeitläuften ausgesetzt, sondern hat das Heft in der Hand und kann das eigene Sein wesentlich bestimmen (wenn das oft auch nur scheinbar so ist). Einem Ding, einer Sache, einer Stadt widerfährt das ‚Leben‘ dagegen; es sind im Normalfall mehrere Menschen, die es bestimmen. Insofern sind – nennen wir sie einmal so – gegenständliche Biographien immer Lebensbeschreibungen im Plural: Sie erzählen Ausschnitte aus den Werdegängen unterschiedlichster Protagonistinnen und Protagonisten, die mit der Entwicklung und/oder der Rezeption des Gegenstandes eng verbunden sind. Geradezu paradigmatisch für diese ‚neue‘ Gattung kann Thomas Sparrs überaus erfolgreiche Biographie des Tagebuchs der Anne Frank gelten, deren eigentlicher Held neben der jungen Autorin ihr Vater Otto ist, ohne dessen jahrzehntelanges Engagement für die Aufzeichnungen seiner Tochter diese weltweite Wirkung des Textes niemals zustande gekommen wäre.
Natürlich dürfte sich der Literaturwissenschaftler und Lektor Sparr der Gefahren bewusst gewesen sein, die bestehen, wenn man ausgerechnet die Lebensgeschichte eines der am meisten beschriebenen und beforschten Buches der Weltliteratur erzählen will. Doch bereits in seiner letzten gegenständlichen Biographie hat er bewiesen, dass er vor großen Texten und deren komplexer Rezeptionsgeschichte keine Angst zu haben braucht: Sie galt schließlich mit Paul Celans Todesfuge einem weiteren kanonischen Werk der Holocaustliteratur, das, hundertfach übersetzt, zu einem globalen Phänomen geworden ist. Wenn der Klappentext der aktuellen Biographie auch ein wenig übertreibt, indem er bemerkt, das Buch biete „die bislang unerzählte Geschichte von Anne Franks weltberühmten Tagebuch“, so darf man getrost feststellen, dass auch diese Literatur-Biographie ein ganz großer Wurf ist. Vieles in ihr ist tatsächlich nicht „unerzählt“, sondern seit langem bekannt und immer wieder geschildert worden (so etwa die frühe Editionsgeschichte, die jene entscheidenden Jahre umfasst, in denen aus dem ursprünglichen Tagebuch, den Überarbeitungen durch die älter gewordene Anne und den späteren Eingriffen des Vaters schließlich ein Buch wurde). Aber manches ist mittlerweile auch in Vergessenheit geraten, wird durch Sparr wieder hervorgeholt und mit neueren Erkenntnissen angereichert. Zu diesen heute eher weniger bekannten Episoden gerade der ersten Nachkriegsjahre gehört jene um den niederländischen Journalisten und Dachau-Überlebenden Nico Rost, der 1949 in die sowjetische Besatzungszone gereist und um Vermittlung bei der Suche nach einem deutschen Verlag für das Tagebuch gebeten worden war. Die Absage des ostdeutschen Kiepenheuer Verlages, die Rost im Juli 1949 im Berliner Hotel Adlon erreichte, verschlägt einem noch heute angesichts ihrer Selbstgefälligkeit die Sprache:
Es ist mir sehr, sehr peinlich, aber das von Ihnen freundlichst übersandte Tagebuch des deutsch-jüdischen Mädchens erscheint mir für den Kiepenheuer Verlag, der von jeher das Bestreben hatte, nur Bücher von hohem literarischen Niveau zu bringen, ungeeignet. Wenn das Buch in Holland einen so grossen Erfolg hatte, so müssen da die Verhältnisse eben anders liegen als bei uns. Hier würde es meiner Ueberzeugung nach eher schädlich wirken, und das wollen wir doch gewiss alle nicht. (70)
Natürlich ist Anne Franks Tagebuch in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Es erging vielen Autorinnen und Autoren der frühen Holocaust- und Zeugnisliteratur ähnlich, deren Werke nicht selten von den Verlagen brüsk zurückgewiesen wurden, weil man ernsthaft eine „fortwährend anwachsende Flut“ solcher Texte beklagte, wie etwa Wolfgang Borchert 1947 in einer Sammelrezension formulierte, und weil man sich immer wieder über deren angeblich fehlende literarische Qualität beschwerte (Die Aufzeichnungen aus einem Erdloch Jakob Littners lassen grüßen). Solche rüden Fehlurteile ziehen sich fast wie ein roter Faden durch die Geschichte der Holocaustliteratur, und nur die prominentesten Fälle sind heute noch bekannt (so etwa das vielzitierte Gutachten des Suhrkamp Verlages zu Ruth Klügers brillanter Autobiographie weiter leben, die 1992 im bis dahin unbekannten Wallstein-Verlag erschienen ist). Das spezifisch Perfide im Falle Anne Franks ist gleichwohl, dass sich in der Ablehnung von Kiepenheuer bereits ex negativo eine Rezeptionslinie andeutete, die bestimmend für die Wahrnehmung des Tagebuches in Deutschland werden sollte: Ganz offenbar waren dem Verlag aus Weimar Anne Franks Aufzeichnungen zu gefühlig – was so ziemlich das Gegenteil von ‚literarisch‘ war, wie es die Lektoren des so anspruchsvollen Verlages verstanden. Anne Franks Tagebuch war aber tatsächlich eminent literarisch und zeugte vom einmaligen Talent seiner Autorin – und erst seine radikale Verkitschung durch eine Broadway-Produktion bescherte ihm seinen weltweiten Durchbruch. Literaturgeschichte paradox. Auch von diesem ‚Drama um ein Drama‘ erzählt Thomas Sparr äußerst anschaulich und legt noch einmal quellengesättigt die Kontroverse zwischen dem Literaturkritiker und Autor Meyer Levin sowie Otto Frank offen. Levin, der sich viele Verdienste um die amerikanische Rezeption des Tagebuchs erworben hatte und sich selbst im Besitz von Lizenzrechten für eine Bühnenfassung wähnte, bekämpfte das Theaterstück des Ehepaares Frances Goodrich und Albert Hackett vehement, nicht nur weil es Anne Frank eine universelle Botschaft aufdrückte, die sie so ganz sicher nicht hatte verbreiten wollen („Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen“), sondern auch weil es für Levin die Protagonistin ihrer jüdischen Identität beraubte. Thomas Sparr kann verdeutlichen, dass es Levin bei dieser heftigen Auseinandersetzung um Aneignung ging – für ihn wäre das alles nicht passiert, hätte sich ein jüdischer Autor oder eine jüdische Autorin mit dem Tagebuch auseinandergesetzt. Und noch etwas wird überaus deutlich: Levin, der oft als Querulant und obsessiver Wichtigtuer abgetan wird, hatte in letzter Konsequenz recht: Die Broadway-Verkürzung hat Anne Franks Rezeption natürlich nicht nur genutzt, sondern v. a. auch massiv geschadet. Die Ikone, zu der die junge Autorin nicht zuletzt durch das Drama (das so gut wie nicht mehr gespielt wird) wurde, verstellt bis heute den Blick auf die ‚echte‘ Anne, die so zur leicht benutzbaren Chiffre für alles Mögliche wird. Und das bisweilen auf übelste Weise, wie Sparr zeigt, wenn er etwa über die schlimmen antisemitischen Beleidigungen schreibt, die Fußball-Fans in Italien unter Zuhilfenahme von Anne Franks Porträt 2017 verbreiteten, oder über die unsäglichen Anmaßungen von Impfgegnern während der Corona-Pandemie, die wohl noch vielen im Gedächtnis sein dürften. Während die frühe Rezeption aus vielerlei Gründen davon gekennzeichnet war, dass ihr Schicksal und ihr Tagebuch (der „zweifelhafte Singular“, den Sparr zurecht beklagt, sei hier der Einfachheit wegen weiterverwendet) als einmalig und doch stellvertretend für alle Opfer betrachtet wurde, ist die späte von Differenzierung geprägt: Denn Annes Geschichte ist eine unter vielen und sie ist ganz sicher nicht typisch.
Es gäbe noch viele Details, die man aus Sparrs wunderbarem Buch ausgiebig nacherzählen könnte, wie etwa die überraschende Tatsache, dass Ernst Schnabel, der die frühe westdeutsche Aufnahme des Tagebuchs mit einem Radio-Feature und einem Buch über Anne Frank so positiv beeinflusste, auch der Mann war, der Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür den Titel gab und so mit zwei Texten in enger Verbindung stand, die die ausgerufene ‚Vergangenheitsbewältigung‘ literarisch stark prägten. Doch seien stattdessen abschließend noch einige wenige kritische Worte gestattet: Dass Sparrs Biographie keinen Apparat enthält, ist einerseits verständlich, weil die Gattung eben prinzipiell eher eine populäre Textsorte ist, bei der solche wissenschaftlichen Elemente stören. Andererseits schränkt diese Entscheidung auch die Benutzbarkeit des Werkes unnötig ein, denn Sparrs Buch ist eben auch ein seriöser Beitrag zur Forschung, der Fährten legt, denen nachzugehen sich im Rahmen unterschiedlichster Erkenntnisinteressen lohnte. Endnoten hätten hier einen Kompromiss darstellen können, die den ‚normalen‘ Leser wenig stören, dem Literaturwissenschaftler oder der Historikerin aber helfen, nicht zuletzt beim Nachvollzug einiger Interpretationen. Darüber hinaus bleibt es unbefriedigend, wenn zwar ausführlich darauf hingewiesen wird, wie ungerecht die Rezeptionsgeschichte Annes Schwester oder die Familie van Pels (van Daan) behandelt hat, aber nur wenige Worte über Dr. Fritz Pfeffer („Dr. Dussel“), einen weiteren Untergetauchten im Hinterhaus, verloren werden. Er, der elendig im KZ Neuengamme an der Ruhr verstarb, ist der eigentliche Verlierer von Anne Franks Erfolgsgeschichte: Für immer mit dem Spottnamen „Dussel“ belegt und gekennzeichnet als nerviger Unsympath, hätte er mehr Beachtung in dieser Biographie verdient, gerade weil ihm auch sonst nur oberflächliches Interesse zukommt. In der heutigen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau z. B. wird in der niederländischen Ausstellung noch nicht einmal sein Geburtsort richtig wiedergegeben. Bei „Dussel“ muss man es eben offenbar nicht so genau nehmen.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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