Abstract
1952 erklärte sich die Bundesrepublik Deutschland bereit, Wiedergutmachung an Israel und die Jewish Claims Conference zu zahlen – ein beispielloser Schritt, dem komplexe Verhandlungen vorausgegangen waren. Der deutsche Jurist Otto Küster fungierte in den ersten Phasen dieser Gespräche als stellvertretender Leiter der westdeutschen Delegation, bis er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zurücktrat. Wie er es schon sein ganzes erwachsenes Leben getan hatte, führte Küster damals ein Tagebuch, das er in maschinenschriftlichen Auszügen einem Archiv übergab. Diese einzigartige Quelle wird hier veröffentlicht, kontextualisiert durch eine umfangreiche Einleitung und durch einen Vergleich mit seinen handschriftlichen Notizen, die der Forschung bisher nicht zugänglich waren. Küsters „Tagebuchnotizen“ geben einen seltenen Einblick in die Erfahrungen und Gedanken eines westdeutschen Repräsentanten in hochkomplexen Verhandlungen nach dem Holocaust.
Abstract
In 1952, the Federal Republic of Germany agreed to pay compensation (Wiedergutmachung) to Israel and the Jewish Claims Conference – an unprecedented move preceded by complex negotiations. During the first phase of those talks German jurist Otto Küster acted as deputy chief negotiator for West Germany before stepping down amid disagreements. As had been his habit throughout his adult life, Küster kept a diary during the consultations. He subsequently gave typewritten excerpts to an archive. This unique source is published here, contextualized by an extensive introduction and by a comparison with his original handwritten notes, which had not been available to researchers until now. ?Küster’s diary notes provide rare insights into how a West German representative experienced and reflected on these highly complex negotiations in the aftermath of the Holocaust.
I. Wiedergutmachungsverhandlungen aus der Ich-Perspektive
Mit der Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens am 10. September 1952 erklärte die Bundesrepublik Deutschland sich sieben Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust bereit, Wiedergutmachungsleistungen an den Staat Israel und die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference) zu zahlen.[1] Das Übereinkommen war gleich in mehrfacher Hinsicht ein Novum. Erstens wurde es von Vertretern zweier Länder unterzeichnet, die zum Zeitpunkt der Gräueltaten noch nicht existiert hatten: von der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland und von Israel, das im Mai 1948 seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Zweitens waren an den Verhandlungen sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure beteiligt, die Wiedergutmachung für eine länderübergreifende Gruppe von Opfern und Überlebenden verlangten. Drittens wurde die Bundesrepublik damals nicht juristisch haftbar gemacht und zur Zahlung verpflichtet. Dass Deutschland mit am Verhandlungstisch saß, ergab sich nicht aus einer Rechtspflicht, sondern resultierte aus einer politischen Entscheidung.
Bei den Verhandlungen begegneten sich zum ersten Mal Repräsentanten von Opfern und Überlebenden eines Genozids und Vertreter eines Staats, dem die Täter entstammten, direkt. Die Verhandlungen dauerten von März bis Ende August 1952 – unterbrochen von einer zehnwöchigen Pause zwischen April und Juni 1952, in der die Situation sich krisenhaft zuspitzte.[2] In dem Abkommen wurde vereinbart, drei Milliarden DM – zu einem großen Teil in Form von Warenlieferungen und Dienstleistungen – an Israel zu zahlen. Weitere 450 Millionen DM wurden der Claims Conference zugesprochen. Mit der Unterzeichnung des Abkommens verpflichtete sich die Bundesrepublik zudem, eine Entschädigungsgesetzgebung auf den Weg zu bringen und umzusetzen. Heute wird das Abkommen oft als „exemplarisch“ gelobt und von verschiedenen Gruppen, die Entschädigungsleistungen für andere Massenverbrechen fordern, als Bezugspunkt genannt.[3] In der Geschichtsschreibung besteht jedoch seit Langem Klarheit darüber, dass die dem Übereinkommen vorausgegangenen Verhandlungen von Spannungen geprägt waren und sich schwierig gestalteten.[4]
Der deutsche Jurist Otto Küster (1907–1989) war zwischen März und Mai 1952 stellvertretender Leiter der westdeutschen Delegation, bevor er sein Mandat niederlegte. Grund dafür waren zunehmende Meinungsverschiedenheiten in der Frage, wie die Gespräche zu führen seien. Küster war es gewohnt, Tagebuch zu führen, und er hielt auch während der Verhandlungen seine Erlebnisse und Gedanken in einem privaten Tagebuch fest. Mehr als 25 Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens übergab er 1978 ausgewählte Tagebucheinträge, in denen er den Fortgang der Verhandlungen geschildert hatte oder die in der Zeit entstanden waren, als das Abkommen unterzeichnet und ratifiziert worden war, als Schenkung dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sankt Augustin.[5]
Otto Küsters hier präsentierte „Tagebuchnotizen“ bestehen aus redigierten, bearbeiteten und maschinenschriftlich dokumentierten Auszügen des privaten Tagebuchs. Dokumentiert wird dabei die Spanne von gut einem Jahr: Der erste Eintrag datiert vom Februar 1952, der letzte vom März 1953. In Fachkreisen sind Küsters „Tagebuchnotizen“ bekannt; Passagen daraus werden in der einschlägigen Fachliteratur zitiert oder erwähnt.[6] Doch in der Fassung, in der Küster sie dem Archiv übergab, wurden die hier vorgestellten Seiten zuvor nie veröffentlicht.
Die maschinenschriftlichen Aufzeichnungen aus dem Tagebuch gehören zu Otto Küsters Nachlass, der zusammen mit anderen Unterlagen wie Briefwechseln, Reden, Zeitungsausschnitten und anderen Schriften im ACDP in Sankt Augustin aufbewahrt wird.[7] Sein handschriftliches Tagebuch hingegen befindet sich im familieneigenen Privatarchiv und ist für Forschende nicht zugänglich – außer für ausgewählte Teammitglieder des Forschungsprojekts „Wording Repair“.[8] Im Rahmen des Projekts wurden die Notizbücher, aus denen Otto Küsters Tagebuch besteht, katalogisiert und digitalisiert. Derzeit werden sie untersucht, transkribiert und ausgewertet.[9] Die digitalisierte, auf Servern der Universität Utrecht gehostete Sammlung umfasst 118 Notizbücher und erstreckt sich über den Zeitraum von 1932 bis 1989 – mit einer kleinen, aber nicht unwichtigen Lücke zwischen 1940 und 1944, für die Aufzeichnungen weitgehend fehlen.[10] Der Fokus der vorliegenden Dokumentation liegt insbesondere auf den maschinenschriftlichen und bearbeiteten Seiten, die Küster als Schenkung dem ACDP übergab und in denen er über das Geschehen im Vorfeld und unmittelbar nach Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens berichtete.[11]
II. Eine andere Perspektive auf die Geschichte der deutsch-jüdisch-israelischen Verhandlungen von 1952
Otto Küsters „Tagebuchnotizen“, die den Verlauf und Abschluss der deutsch-jüdisch-israelischen Verhandlungen von 1952 dokumentieren, sind aus folgenden Gründen ein wichtiger Untersuchungsgegenstand: Sie ermöglichen eine intensive Auseinandersetzung mit der persönlichen Sicht eines zeitgenössischen Akteurs aus einem Personenkreis, dem die historische Forschung zu den Anfängen der deutsch-jüdisch-israelischen Beziehungen nach dem Holocaust bislang relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat – nämlich Vertretern der Ministerialbürokratie, die an zentraler Stelle an der Gestaltung dieser Beziehungen mitwirkten.
Die Forschungsliteratur zu den 1952 geführten Verhandlungen nimmt das Geschehen bislang im Wesentlichen aus diplomatiegeschichtlicher oder politikwissenschaftlicher Perspektive in den Blick.[12] Beide Perspektiven beruhen zwar auf unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Voraussetzungen, haben aber gemeinsam, dass sie die obersten politischen Führungsebenen in den Mittelpunkt stellen und nicht – jedenfalls nicht primär – die Sichtweisen derer, die diese Verhandlungen praktisch gestaltet haben. Dass die Bemühungen und Entscheidungen der Staatsmänner und führenden Politiker – allen voran Nahum Goldmann, Präsident der Claims Conference, Israels Premierminister David Ben Gurion und Bundeskanzler Konrad Adenauer – für den Verhandlungsprozess eine entscheidende Rolle spielten, ist evident. Nicht zufällig machen alle drei in ihren Memoiren deutlich, dass ihre Mitwirkung für den Erfolg der Verhandlungen ausschlaggebende Bedeutung hatte.[13]
Dennoch waren es Juristen und politische Beamte nachgeordneter Institutionen, die verhandelten und sich dabei monatelang gegenübersaßen – darunter Rechtsexperten, Wirtschaftswissenschaftler, Diplomaten oder Fachleute für Restitutions-, Entschädigungs- und andere Wiedergutmachungsfragen.[14] Sie waren es, die Tag für Tag Zeit im gleichen Raum verbrachten, in zentralen Fragen zu unterschiedlichen Auffassungen gelangten oder bei scheinbar noch so unüberbrückbaren Interessenunterschieden eine gemeinsame Basis zu finden versuchten. Sie waren es, die sich mit den auftretenden Spannungen, Emotionen und Schwierigkeiten bei den Zusammenkünften auseinanderzusetzen hatten und mit ihnen zurechtkommen mussten. Entsprechend wichtig ist es, sich mit ihren Sichtweisen zu befassen und die aus der Ich-Perspektive verfassten Dokumente zu befragen, die sie hinterlassen haben.
Sowohl der israelische Delegationsleiter Giora Josepthal als auch sein Stellvertreter Felix Shinnar hielten ihre Eindrücke vom Fortgang der Verhandlungen jeweils in Tagebüchern und Briefen fest, die sie später auszugsweise veröffentlichten.[15] Die Delegationsmitglieder der Claims Conference wurden ausführlich zu ihren Erfahrungen und Erlebnissen befragt; die inzwischen digitalisierten Transkripte dieser Interviews finden sich in der Oral History Division der Hebräischen Universität in Jerusalem.[16] Von den Mitgliedern der westdeutschen Delegation liegen dagegen in der Regel keine publizierten persönlichen Aufzeichnungen aus diesen Tagen vor.[17] Es ist gut vorstellbar, dass die deutschen Unterhändler nicht die Neigung verspürten, ihre Erinnerungen an jene für sie sicherlich sehr fordernden und spannungsvollen Monate öffentlich zu machen. Lediglich von Otto Küster ist bekannt, dass er Tagebuch geführt und seine Notizen später so bearbeitet hat, dass sie für Historiker leicht aufzufinden und zu lesen sind. Seine Aufzeichnungen vermitteln ein lebendiges Bild von den Verhandlungen, geschildert aus einer persönlichen und zugleich professionellen Perspektive, in die detaillierte Kenntnisse der zentralen Fragen einflossen, die im Rahmen dieser Verhandlungen eine Rolle spielten.
Küsters „Tagebuchnotizen“ vermitteln der Leserschaft die Emotionen, wie sie zumindest einer der führenden westdeutschen Delegierten empfand und wahrnahm.[18] Mit anderen Worten: Küsters „Tagebuchnotizen“ enthalten keine überraschenden Enthüllungen darüber, was geschah, aber sie geben Auskunft, wie ein Delegationsmitglied den Verlauf der Verhandlungen erlebte – die am Ende zum Erfolg führten, wovon zum damaligen Zeitpunkt nicht unbedingt auszugehen war. Zudem sind Küsters Aufzeichnungen deswegen relevant, weil sie Aufschluss darüber geben, wie Anfang 1952 in Westdeutschland über Juden und Israelis gedacht und öffentlich gesprochen wurde. Dass Bundeskanzler Adenauer die Verhandlungen voranbringen wollte, weil er darin auch eine Möglichkeit zur Besänftigung des „Weltjudentums“ sah, ist allgemein bekannt und in der Literatur hinlänglich thematisiert worden.[19] Wie Otto Küster dachte, welche Voreingenommenheiten er mitbrachte und welchen Ressentiments er begegnete, lassen seine „Tagebuchnotizen“ erkennen. Seine Überzeugungen und Wahrnehmungen dürften eine wesentliche Rolle für die Verhandlungen gespielt haben; sie blieben bislang jedoch unbeachtet.
Küster nahm weder an den abschließenden Verhandlungen noch an der Zeremonie zur Unterzeichnung des Abkommens teil. Im Mai 1952 entschied er, aus dem Verhandlungsteam auszuscheiden. Der Grund waren zunehmende Meinungsverschiedenheiten mit Vertretern des politischen Establishments in Bonn und vor allem mit Bundesfinanzminister Fritz Schäffer von der Christlich-Sozialen Union (CSU). Die Entfremdungsprozesse während der Verhandlungen sind ein wichtiger Faktor für die Beurteilung der „Tagebuchnotizen“ als Quelle. Die in den frühen 1950er Jahren zunehmenden Animositäten zwischen verschiedenen Politikern in Bonn und im Bonner Umfeld treten in Küsters „Tagebuchnotizen“ – und das ist leicht nachzuvollziehen – deutlicher zutage als in (partei-)amtlichen Dokumenten.
III. Otto Küster: Engagierter Akteur und „Außenseiter“[20]
Als Otto Küster zu den Verhandlungen mit den Vertretern Israels und der Claims Conference in Wassenaar anreiste, hatte er bereits einschlägige Berufserfahrung im Bereich der Wiedergutmachung gesammelt. Die Literatur hat die Widersprüche benannt, die ihn als historische Gestalt kennzeichneten. Für Regula Ludi gehörte er zu den „outspoken champions of victimsʼ rights“; Constantin Goschler nannte ihn einen „schwäbisch-protestantische[n] Pedant[en]“.[21] Zeitgenossen lobten seinen „mächtigen Willen“, „das umfassende juristische Wissen, die praktisch organisierte Fähigkeit, den hohen Geist, die gesetzgeberischen und verwaltungsmäßigen Qualitäten“ und seinen „unermüdlichen Fleiß“.[22] Andere sprachen abfällig von „falschem moralischem Pathos, das von Arroganz nicht weit entfernt ist“.[23] Küster war eine komplexe, herausfordernde Persönlichkeit, die mit starkem Gegenwind zu kämpfen hatte.
1907 in Stuttgart geboren, besuchte Küster das Dillmann-Realgymnasium und studierte Rechtswissenschaften an den drei renommierten Fakultäten der Universitäten in Tübingen, München und Berlin.[24] Im Juni 1932 legte er die Große Staatsprüfung ab und wurde Amtsrichter in seiner Vaterstadt.[25] Adolf Hitlers Aufstieg zur Macht hatte für Küster schon bald konkrete Konsequenzen. 1933, nicht einmal ein Jahr nach seiner Ernennung zum Amtsrichter, wurde er von den NS-Behörden als „politisch unzuverlässig“ eingestuft und entlassen, nachdem er sich kritisch über das neue Regime geäußert hatte.[26]
Küster machte sich mit Hilfe seines Netzwerks auf die Suche nach einer anderen Tätigkeit und vermied fortan offene Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Er heiratete 1934, lebte unauffällig und fand eine neue Anstellung bei der Wehrkreisverwaltung. In einem Interview teilte er später mit, er habe damals „vor sich ‚die Möglichkeit Auschwitz verborgen‘“.[27] Gänzlich blind gegenüber dem, was um ihn herum geschah, war Küster jedoch nicht.[28] Wie er später berichtete, stellte er 1935 die promovierte jüdische Juristin Ella Kessler-Reis als seine Sekretärin an, der er freundschaftlich verbunden war und der die Behörden 1933 die Zulassung als Rechtsanwältin entzogen hatten.[29] Kessler-Reis kannte Küster als Mitglied des 1933 verbotenen Volkacher Bunds, dem auch ihr Vater Richard Reis angehörte – als ehemaliges Mitglied des Stadtrats und Präsident der Stuttgarter Anwaltskammer einer der prominentesten Rechtsanwälte Stuttgarts. Von Dauer war dieses Arrangement allerdings nicht,[30] und die Wege der beiden trennten sich. Ella Kessler-Reis wurde im Sommer 1942 nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurde.[31]
Nur wenige Monate nach ihrer Deportation wurde Otto Küster im Oktober 1942 eingezogen.[32] Er war in Frankreich eingesetzt und erlitt im Kampf schwere Verletzungen an beiden Beinen.[33] Im April 1945 geriet er schließlich in US-amerikanische Gefangenschaft und wurde in einem Kriegsgefangenenlager interniert. Küster zählte, wie er später formulierte, zu „den ersten Objekten der reeducation“.[34] Ende September 1945 traf Küster wieder in Stuttgart ein. Zurück im Kreis seiner Familie, nahm Küster rasch Kontakt zu Josef Beyerle auf, der bis 1933 für die Zentrumspartei Justizminister von Württemberg gewesen war und den die amerikanische Militärregierung im September 1945 als Justizminister des neuen Lands Württemberg-Baden unter Ministerpräsident Reinhold Maier eingesetzt hatte.[35]
Beyerle stellte Küster als Referent in der Abteilung für Gesetzgebung und Ausbildung ein. Zwölf Jahre nach seiner Entlassung durch die NS-Behörden bezog Küster – eine sonderbare Ironie der Geschichte – genau das Amtszimmer, das er 1933 hatte räumen müssen.[36] Küster ging mit großem Eifer daran, seine gesellschaftlichen und beruflichen Netzwerke aus der Vorkriegszeit wieder zu aktivieren und beteiligte sich tatkräftig an wichtigen Debatten über Politik und Rechtswesen. Unter anderem organisierte er eine Diskussionsveranstaltung über das Völkerrecht und die Nürnberger Prozesse, die in der Stuttgarter Privatstudiengesellschaft stattfand; dazu eingeladen war mit Wilhelm Grewe ein bekannter Jurist, der einige Jahre später zum Beraterstab von Konrad Adenauer gehören sollte.[37]
Schon bald nach seiner Anstellung im Justizministerium von Württemberg-Baden, wo er in kurzer Zeit zum Abteilungsleiter für Öffentliches Recht aufstieg, erhielt Küster im Februar 1947 das Angebot, die Leitung des Amts des Staatsbeauftragten für die Wiedergutmachung zu übernehmen.[38] Seinerzeit gab es in der amerikanischen Besatzungszone kaum rechtliche Regelungen zu Fragen der Wiedergutmachung und Entschädigung.[39] Schon die Definition, wer aus welchen Gründen als Verfolgter zu gelten und was daraus zu folgen habe, war höchst umstritten. Zwei Monate nach der Gründung der Wiedergutmachungsabteilung im Justizministerium wurden nach einem entsprechenden Erlass auf kommunaler Ebene offizielle Beauftragte für Wiedergutmachungsangelegenheiten benannt; in Stuttgart und Karlsruhe richtete man zwei gesonderte Dienststellen ein, die Küsters Abteilung unmittelbar unterstanden. Dadurch saß er nun an einer Schaltstelle, die ihm einen prägenden Einfluss auf die Regelungen und Verfahren auf dem Gebiet der Wiedergutmachung ermöglichte.
Durch seine Arbeit wurde Küster noch intensiver in die maßgeblichen juristischen Debatten der Nachkriegszeit eingebunden. 1948 gehörte er zu der von Minister Beyerle angeführten Delegation, die Württemberg-Baden beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee vertrat.[40] Dort wirkte er an der Institutionalisierung des konstruktiven Misstrauensvotums mit, das später in Artikel 67 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurde.[41] Mit Wiedergutmachungsfragen blieb Küster aber weiter befasst, der Württemberg-Baden beim Koordinierungsbüro der Interministeriellen Arbeitsgemeinschaft für Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfragen in der Bundesrepublik Deutschland vertrat.
Das Koordinierungsbüro war als länderübergreifendes Gesprächsforum für Wiedergutmachungsfragen eingerichtet worden, um Verzögerungen bei Wiedergutmachungsfällen zu verhindern, in denen nicht klar war, welchem Land die Zuständigkeit für konkrete Fälle und Probleme oblag.[42] Um in einer solchen Frage Klarheit zu schaffen, unterzeichnete Küster im Februar 1950 einen Runderlass, der unter führenden, für Entschädigung zuständigen Beamten intensive Diskussionen auslöste. Dabei warnte Küster vor der wachsenden Anzahl von Sinti und Roma – im Wortlaut: „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ –, die als Opfer und Überlebende des NS-Regimes zeitgleich Anträge in verschiedenen Ländern stellen würden.[43] Der bayerische Staatskommissar für Wiedergutmachung, Philipp Auerbach, legte vehement Widerspruch ein und protestierte insbesondere gegen Küsters rassistische Wortwahl. Anfang 1944 nach Auschwitz deportiert, wusste Auerbach aus eigener Anschauung, welchen Misshandlungen Roma und Sinti ausgesetzt gewesen waren, was er nicht unerwähnt ließ.[44] Bevor diese Auseinandersetzung weitergeführt werden konnte, wurde Auerbach im März 1951 verhaftet und musste sich unter anderem wegen Unterschlagung und Erpressung vor Gericht verantworten. Als 1952 der Schuldspruch gegen ihn erging, nahm er sich das Leben.[45]
Nach Auerbachs Entlassung wurde Küster 1951 zeitweilig Vorsitzender des Koordinierungsbüros, das inzwischen umbenannt worden war und nun Konferenz der Obersten Wiedergutmachungsbehörden der Länder hieß. Als der Ministerpräsident von Württemberg-Baden, der Liberale Reinhold Meier, diese Position übernahm, setzte Küster seine Tätigkeit als geschäftsführender Vorsitzender fort.[46] Die Konferenz veranstaltete Tagungen mit Vertretern jüdischer Organisationen, Fachleuten sowie Vertretern von Opfern und Überlebenden. Küster traf in dieser Funktion mit deutschen und internationalen Juristen zusammen, die mit Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfällen befasst waren, und konnte sein berufliches Netzwerk erweitern. Insbesondere aufgrund seiner Beschäftigung mit Fragen der Wiedergutmachung empfahl er sich als einer der möglichen Unterhändler, die von der Bundesregierung entsandt wurden, um Anfang 1952 über ein Wiedergutmachungsabkommen zu verhandeln.[47]
Im Anschluss daran arbeitete Küster an der Entschädigungsgesetzgebung auf Bundesebene mit, kritisierte aber das noch 1953 verabschiedete Bundesergänzungsgesetz (BEG) später als unzulänglich, weil die getroffenen Regelungen nicht seinen weitergehenden Vorstellungen entsprachen.[48] Seine Kritik am BEG führte zu einer weiteren Entfremdung von vielen Politikern und vom politischen Betrieb in Bonn insgesamt.[49] Im Sommer 1954 erhielt er vom Justizministerium die Kündigung, und die Krise um seine Position spitzte sich zu, als ein privates Schreiben, das er dem früheren Leiter der westdeutschen Delegation in Wassenaar, Franz Böhm, geschickt hatte, an die Presse durchgestochen wurde.[50] Hier übte Küster heftige Kritik an etlichen wichtigen Persönlichkeiten, die in westdeutschen Institutionen tätig waren – unter anderem an Karl Frank, der – offenbar ohne Anstoß zu erregen – für die Liberalen Finanzminister erst von Württemberg-Baden und dann von Baden-Württemberg werden konnte, obwohl er in der NS-Zeit Oberbürgermeister von Ludwigsburg und NSDAP-Mitglied gewesen war.[51] Zwar gab es Proteste gegen Küsters Entlassung, unter anderem seitens des SPD-Bundestagsabgeordneten Adolf Arndt, der den Nationalsozialisten als „Halbjude“ gegolten hatte, und des Generalsekretärs des Zentralrats der Juden in Deutschland, Hendrik van Dam, aber sie wurde nicht zurückgenommen.[52]
Auch nach seiner Entlassung blieb Küster als Rechtsanwalt mit Wiedergutmachungsfragen befasst, insbesondere als einer der Anwälte, die im Prozess Norbert Wollheims gegen die IG Farben gerichtlich eine Entschädigung für Zwangsarbeit erstritten – zum ersten Mal in der Bundesrepublik mit Erfolg.[53] Norbert Wollheim, ein Überlebender des Konzentrationslagers Buna/Monowitz (Auschwitz III), hatte bis 1945 Zwangsarbeit für das weltweit führende Chemie- und Rüstungsunternehmen IG Farben leisten müssen und das Unternehmen auf Schadenersatz verklagt. Die Anwälte der IG Farben machten geltend, die Unternehmensführung könne nicht für das Schicksal der zur Zwangsarbeit genötigten Häftlinge haftbar gemacht werden. Zudem habe Wollheim keine gravierenden gesundheitlichen Schäden davongetragen und daher auch keinen Entschädigungsanspruch. Dieser Argumentation trat Otto Küster im März 1955 in seinem Plädoyer vor dem Frankfurter Oberlandesgericht energisch entgegen und führte an, die Wiedergutmachungspflicht werde nicht allein durch Körperbeschädigungen, sondern grundsätzlicher „bestimmt durch die Hölle von Auschwitz als solche, [. . .] durch die unüberhörbare Pflicht zum menschlichen Handeln, die den trifft, der in der Hölle, ohne zu den Verdammten zu gehören, vielmehr auf der anderen Seite, mitschuftet“.[54]
Am problematischen Verhältnis zwischen Küster und dem politischen Betrieb in Bonn änderte sich nach seiner Entlassung offenbar nichts. Auffallend ist, dass Küster für ein vom Bundesfinanzministerium in Auftrag gegebenes mehrbändiges Kompendium zur Geschichte der Wiedergutmachung unter der Herausgeberschaft des renommierten Juristen Walter Schwarz zunächst um einen Beitrag gebeten wurde, der dann aber nie zur Veröffentlichung gelangte.[55] Dennoch wurde Küster mit den Jahren Anerkennung zuteil. 1967 verlieh ihm die juristische Fakultät der Universität Tübingen die Ehrendoktorwürde. 1985 erhielt er als erster Preisträger die Otto-Hirsch-Medaille, benannt nach dem in Stuttgart geborenen deutsch-jüdischen Juristen, der 1941 im Konzentrationslager (KZ) Mauthausen ermordet worden war.[56] Die Auszeichnung wurde – und wird bis heute – „an Persönlichkeiten verliehen, die sich um die christlich-jüdische Zusammenarbeit verdient gemacht haben“.[57] Otto Küster verstarb vier Jahre später.
IV. Otto Küsters „Tagebuchnotizen“ als Quelle
Zeitlich erstrecken sich die „Tagebuchnotizen“, die Küster dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik übergab, nur über etwas mehr als ein Jahr. Sie beginnen mit einem Eintrag am 23. Februar 1952 – wenig später erhielt Küster das Angebot, Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation zu werden – und enden am 27. März 1953 nach der Ratifizierung des Luxemburger Abkommens. Die handschriftlichen Aufzeichnungen für diesen Zeitraum umfassen drei sorgfältig beschriebene Notizbücher, davon zwei mit mahagonifarbenem und eines mit blauem Umschlag. Insgesamt handelt es sich um 352 Seiten im Format A5, die mit der Zeit vergilbt sind. Dem Archiv übergab Küster seine redigierten Tagebuchaufzeichnungen in Form eines 29 DIN-A4-Seiten umfassenden Typoskripts, gehalten in doppeltem Zeilenabstand und wahrscheinlich von seiner Sekretärin erstellt.[58]
Einen großen Teil des Originaltexts hielt Küster also zurück, als er seine „Tagebuchnotizen“ 1978 dem ACDP übergab. Davor überarbeitete er die „Tagebuchnotizen“ intensiv. Sie waren die letzten Unterlagen, die ins Archiv kamen.[59] Umso wichtiger ist der Hinweis, dass Küster seinen Aufzeichnungen nachträglich keine vollständigen Sätze hinzufügte und auch keine neuen Informationen – mit zwei Ausnahmen: Die maschinenschriftliche Fassung der Tagebucheinträge enthält zusätzliche Erläuterungen zu Position oder Funktion bestimmter Persönlichkeiten, mit denen er zusammengetroffen war und die er ursprünglich nicht näher charakterisiert hatte. Überdies sind die zahlreichen Abkürzungen der handschriftlichen Seiten in der maschinenschriftlichen Version ausgeschrieben. Was keinen Eingang in die „Tagebuchnotizen“ fand, hat zumeist mit seinem Privatleben zu tun, handelt von abendlichen oder sonntäglichen Unternehmungen mit der Familie sowie von nicht unmittelbar mit den Wiedergutmachungsverhandlungen zusammenhängenden dienstlichen Verpflichtungen. Insofern kommt das dem Archiv übergebene Typoskript einer Quintessenz dessen sehr nahe, was er während der Verhandlungen in seinem Tagebuch festgehalten hatte.
Die „Tagebuchnotizen“ gehören zu den sogenannten Ego-Dokumenten, also zu den Quellen, in denen „ein Ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt“, wie der niederländische Historiker Jacques Presser schrieb, der den Begriff im Kontext der Holocaust-Forschung prägte.[60] Presser, selbst Holocaust-Überlebender, hatte für seine Geschichte des Holocaust in den Niederlanden vor allem auf solche Quellen zurückgegriffen.[61] Seither werden Ego-Dokumente in der Geschichtswissenschaft für viele unterschiedliche Zeitabschnitte herangezogen – und auch für andere Disziplinen genutzt.[62] Die Historiografie arbeitet mit Ego-Dokumenten, weil sie das subjektive Erleben sichtbar machen und so das Verständnis vergangener Zeiten bereichern können – „in the way that histories focusing on, for example, high politics [. . .] do not“.[63] Bei Küsters „Tagebuchnotizen“ verhält es sich etwas anders, denn das Fesselnde an seinen Aufzeichnungen besteht gerade darin, dass sie Einblicke sowohl in die (Wiedergutmachungs-)Politik bieten als auch in die eher privaten, subjektiven Gedanken, Impressionen und Erfahrungen des Autors. Kurzum: Sie werfen ein außergewöhnliches Schlaglicht auf das Geschehen von 1952 und unterscheiden sich stark von der Perspektive vieler anderer Quellen, die bisher herangezogen worden sind, um die Geschichte der Verhandlungen nachzuzeichnen.
In der historischen Forschung werden Tagebücher und andere Ego-Dokumente inzwischen nicht mehr als Quellen gelesen, die vollständigen Aufschluss über die Gefühle und Gedanken ihrer Verfasserinnen und Verfasser geben.[64] Autobiografische Narrative sind von selektiven Erinnerungen und Auslassungen geprägt. Bedenkt man, dass Küster nach 1945 eine Person des öffentlichen Lebens war, die von einigen heftig kritisiert, von anderen vehement in Schutz genommen wurde, mag er ganz eigene Motive gehabt haben, seine Eindrücke und Erlebnisse an wichtigen Wendepunkten beinahe täglich und in besonders dramatischer oder emphatischer Form festzuhalten. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich Küsters Tagebücher als wertvolle Quellen erweisen, denn zum einen schildern sie die Wiedergutmachungsdiskussionen in Westdeutschland aus einer ungewöhnlichen Perspektive, und zum anderen geben sie – wie Tagebücher überhaupt – wichtige Einblicke in „Selbstreflexionen und Weltdeutungen“, um eine Formulierung von Janosch Steuwer und Rüdiger Graf aufzugreifen.[65]
Ego-Dokumente haben in der Geschichtsschreibung über die Wiedergutmachung in letzter Zeit verstärkt Aufmerksamkeit gefunden.[66] Dabei gewann vor allem die lange vernachlässigte Perspektive von Antragstellern, Opfern und Überlebenden an Gewicht.[67] Zu dieser Kategorie von Ego-Dokumenten gehören etwa Akten, welche die oft ebenso langwierigen wie bürokratisch zähen Entschädigungsverhandlungen dokumentieren, die Überlebende oder Erben der Opfer führen mussten. Von der Holocaust-Forschung lange im Großen und Ganzen übersehen, werden diese Dokumente zunehmend zum Gegenstand der Forschung. Diese Entwicklung dürfte sich durch die Einrichtung des „Themenportals Wiedergutmachung“ weiter verstärken.[68] Küsters „Tagebuchnotizen“ haben einen anderen Schwerpunkt und geben Auskunft über die politischen Spannungen während der Verhandlungen zwischen Deutschland, Israel und der Claims Conference.[69]
Der Titel, mit dem Küster diese Aufzeichnungen bei der Übergabe an das ACDP versah, sagt viel darüber aus, auf welche Art von Abkommen er seinerzeit hingearbeitet hatte oder wie er seine Mitwirkung an der Herbeiführung dieses Abkommens im Rückblick gesehen wissen wollte: „Tagebuchnotizen zu den Verhandlungen über den Sühnevertrag mit Israel“. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Küster schon vor der Übergabe dieser Notizen Auszüge aus seinen Tagebüchern aus anderen Zeiträumen veröffentlicht hatte und mithin nicht zum ersten Mal vor der Aufgabe stand, seine privaten Aufzeichnungen einer breiteren Leserschaft nahezubringen.[70] Die „Tagebuchnotizen“ hatten ihren Ursprung in einer privaten Form des Schreibens, waren aber auch dazu gedacht, später weitergegeben zu werden.
Die Bezeichnung des Luxemburger Abkommens als „Sühnevertrag“ war damals wie heute unüblich. Gleichwohl blieb Küster auch in seinen späteren Schriften und Reflexionen dabei, das Luxemburger Abkommen „Sühnevertrag“ zu nennen,[71] weil er aus religiösen und staatsbürgerlichen Überzeugungen heraus der Auffassung war, die Bundesrepublik Deutschland müsse nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust Sühne leisten.[72] In der deutschen Rechtshistorie leitet sich der Begriff Sühnevertrag aus dem Kompositionensystem ab, das in das antike und mittelalterliche Recht zurückreicht.[73] Im frühen Mittelalter wurde zwischen der geschädigten Person (oder ihrer Verwandtschaft) und dem Täter (oder seiner Verwandtschaft) ein Sühnevertrag geschlossen. Solche Verträge waren mit rechtlichen Sanktionen verknüpft und sollten einen Konflikt beenden und seine Fortführung unterbinden, gaben aber zugleich der Täterseite die Möglichkeit, wieder ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen.[74]
Dass Küster die Verhandlungen als ein Geschehen schilderte, bei dem es um einen „Sühnevertrag“ ging, lässt Rückschlüsse zu auf die rechtlichen, theologischen und begrifflichen Kategorien, mit denen er gedanklich an die Verhandlungen heranging – und überhaupt auf seine Ansichten, Vorstellungen und Prinzipien in Bezug auf die Frage, worum es bei diesen Verhandlungen im Kern ging. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Küster im ersten Eintrag seiner „Tagebuchnotizen“ die Meinung äußerte, die Verhandlungen sollten nicht als gewöhnliche Reparationsverhandlungen betrachtet und geführt werden, denn nach seinem Dafürhalten ging es nicht um einen Reparationsfall unter vielen in der Geschichte.[75] Küster verstand die Verhandlungen, an denen er 1952 mitwirken sollte, im Gegenteil in vieler Hinsicht als einzigartig und historisch beispiellos.
V. Die Verhandlungen von 1952
Die deutsch-jüdisch-israelischen Verhandlungen waren außerordentlich komplex, und der Handlungsspielraum der Delegationen war schon aufgrund der Materie beschränkt, um die es ging. Forderungen nach Wiedergutmachung für das von jüdischen Opfern und Überlebenden erlittene Unrecht waren schon lange vor dem offiziellen Start der Verhandlungen im März 1952 laut geworden.[76] Vier Jahre nach Gründung des Staats Israel und drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik kam es dann zu direkten Gesprächen darüber. Als sich die Aussicht darauf konkretisierte, schlossen sich 23 jüdische Organisationen, die sich bis dahin bei diesem Thema nur lose koordiniert hatten, zu einer großen Dachorganisation zusammen – der Conference on Jewish Material Claims Against Germany, deren Vorsitzender Nahum Goldmann wurde.[77] Die Bundesrepublik sollte mit den Delegationen Israels und der Claims Conference parallel verhandeln. Möglich wurden die Verhandlungen unter anderem dadurch, dass sich Bundeskanzler Konrad Adenauer im Dezember 1951 bei einem Treffen mit Nahum Goldmann in London schriftlich dazu verpflichtet hatte, „bei diesen Verhandlungen die Ansprüche, die die Regierung des Staates Israel [. . .] gestellt hat, zur Grundlage der Besprechungen zu machen“.[78] Damit stand die „ungeheure Summe“ von 1,5 Milliarden US-Dollar im Raum.[79]
Ursprünglich hieß es, die Gespräche sollten in Brüssel geführt werden,[80] aber letztlich fanden die Verhandlungen in Wassenaar statt, in einer zum Hotel umgebauten ehemaligen Villa. Dieser Ort in den Niederlanden wurde – wie einige Verhandlungsbeteiligte später formulierten – deshalb ausgewählt, weil er neutrales Terrain war, aber auch, weil man dort die Unterhändler zuverlässig vor Bedrohungen schützen konnte.[81] Die Perspektive offizieller Gespräche hatte nämlich lautstarke Gegenreaktionen ausgelöst. Als im israelischen Parlament darüber debattiert wurde, ob Israel direkte Verhandlungen mit der Bundesrepublik aufnehmen sollte, kam es in Jerusalem zu gewaltsamen Protesten.[82] In New York unterbrachen Bewaffnete ein Treffen von Unterhändlern der Claims Conference und drohten für den Fall von Verhandlungen mit den Deutschen über Wiedergutmachung mit ernsten Konsequenzen.[83] Widerstand kam auch aus anderen Lagern, etwa aus den arabischen Staaten des Nahen Ostens. So suchte der Gesandte der Arabischen Liga, Mohamed Ali Sadek Bey, den westdeutschen Botschafter in Den Haag, Karl Du Mont, auf und teilte ihm mit, dass die Arabische Liga einen Teil möglicher deutscher Zahlungen beanspruche und sie in eine Art Entschädigung für die palästinensischen Flüchtlinge des ersten arabisch-israelischen Kriegs umwandeln wolle.[84] Auch in der Bundesrepublik galt die Aussicht, Wiedergutmachung an Israel und die Claims Conference zahlen zu müssen, nicht unbedingt als verlockend, um nur das Mindeste zu sagen.[85]
Die Nachrichten über die direkten Gespräche zwischen Israel, der Claims Conference und westdeutschen Delegierten waren so sensibel und umstritten, dass die drei Verhandlungsparteien die Mitglieder ihrer Delegationen besonders sorgfältig auswählten.[86] Die Delegierten Israels waren in Deutschland geboren oder hatten lange dort gelebt. Geleitet wurde die Delegation von Giora Josephthal und Felix Eliezer Shinnar. Der 1912 in Nürnberg geborene Josephthal trug ursprünglich den Vornamen Georg; er änderte ihn 1938, als er vor dem NS-Regime nach Palästina floh.[87] Shinnar, der die Shilumim-Taskforce des israelischen Außenministeriums leitete,[88] war 1905 als Felix Schneebalg in Stuttgart zur Welt gekommen und hatte dort, wie sich später herausstellte, dasselbe Realgymnasium besucht wie Otto Küster, wo die beiden sich allerdings zu Schulzeiten nicht kennengelernt hatten. 1934 war er nach Palästina ausgewandert – voller „Abscheu“ angesichts der Veränderungen, die er in Deutschland miterlebt hatte.[89] Unterstützt wurden die beiden Delegationsleiter von weiteren Experten. Gershon Avner, 1919 als Günther Hirsch in Berlin geboren, war politischer Berater und Sprecher der Delegation. In Wirtschaftsfragen konnte sie auf den Sachverstand von Noah Barou zählen, der aus der Ukraine stammte, aber in Heidelberg und Leipzig studiert hatte. Der 1895 in Köln geborene Georg Landauer war 1934 nach Palästina ausgewandert, fungierte als Sonderberater und war als Beobachter im Auftrag Israels der Delegation der Claims Conference zugeordnet. Sein Pendant war Shalom Adler-Rudel, den die Claims Conference als Beobachter zur israelischen Delegation entsandt und der sich seit Jahren in vielen verschiedenen Funktionen mit Flüchtlings-, Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfragen befasst hatte. Die Delegation gab auch bekannt, dass „eine Gruppe von Wirtschaftsleuten auf Abruf bereit“ stehe, um sie zu unterstützen.[90] Vor dem Hintergrund, dass viele Unterhändler deutsche Wurzeln hatten, war die Wahl von Englisch als Verhandlungssprache eine bewusste Entscheidung, um zwischen den Delegierten eine Barriere zu schaffen und jeden Eindruck von Vertraulichkeit zu vermeiden.[91]
Die Delegation der Claims Conference bestand aus Fachleuten für Wiedergutmachungs- und Entschädigungsrecht mit langjähriger Expertise. Geleitet wurde die Delegation von Moses A. Leavitt, Vizepräsident des American Jewish Joint Distribution Committee. Weitere Delegationsmitglieder waren Maurice Boukstein, Justiziar der Jewish Agency in den USA; Alex Easterman, politischer Berater des Jüdischen Weltkongresses in Großbritannien; Seymour Rubin, politischer Berater des American Jewish Committee; als Sprecher der Delegation fungierte Jerome Jacobson, ein hochrangiger Vertreter des American Jewish Joint Distribution Committee. Hinzu kamen etliche Berater wie Benjamin Ferencz, Frederick Goldschmidt, Saul Kagan, Reinhold Lachs und Nehemiah Robinson, die ihre umfassenden Erfahrungen im Umgang mit Wiedergutmachungs- und Entschädigungsfragen in die Verhandlungen einbrachten.[92] Begleitet wurde die Delegation von Sekretärinnen zur Unterstützung bei den administrativen Aufgaben, über die allerdings nur wenig bekannt ist.
Bei der westdeutschen Delegation erwies sich die Auswahl der Mitglieder als besonders heikel. Aus naheliegenden Gründen musste unbedingt sichergestellt werden, dass die Delegierten keine korrumpierte politische Vergangenheit hatten – was 1952 keine leichte Aufgabe war. Franz Böhm war als Leiter der Delegation in vieler Hinsicht eine Idealbesetzung. Er hatte sich gegen die Diskriminierung und Verfolgung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürgern gestellt, war denunziert und wegen „Heimtücke“ angeklagt worden, hatte 1940 seine Lehrbefugnis an der Universität verloren und Kontakte zu liberalen Widerstandszirkeln in Freiburg gepflegt. Nach Kriegsende hatte sich Böhm der Christlich-Demokratischen Union (CDU) angeschlossen und 1945/46 für einige Monate das Amt des Kultusministers in Hessen bekleidet. Seit 1946 war er Professor an der Universität Frankfurt, als deren Rektor er auch 1948/49 fungiert hatte. Als Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Frankfurt und Mitinitiator des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit gehörte er zudem zu den prominenten deutschen Fürsprechern für eine Wiedergutmachung für jüdische Opfer des Nationalsozialismus.[93]
Küster, der als Böhms Stellvertreter vorgesehen war, hatte 1933 sein Richteramt verloren und wirkte seit 1947 als Staatsbeauftragter für die Wiedergutmachung in Württemberg-Baden.[94] Walter Hallstein, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, hatte mit ihm Kontakt aufgenommen und ihm die Aufgabe angetragen. Neben Böhm und Küster gehörten der Delegation Vertreter von vier Ministerien an, die für den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen große Bedeutung hatten. Das Auswärtige Amt wurde durch den Juristen Abraham Frowein vertreten, der dort seit Februar 1952 das Referat für Jüdische Wiedergutmachungsfragen leitete und dem in den 1930er Jahren wegen der jüdischen Wurzeln seiner Verwandtschaft mütterlicherseits die Lizenz als Notar verweigert worden war. Dass die Wahl auf jemanden fiel, der erst kurz zuvor ins Auswärtige Amt eingetreten war, zeigt schon, dass es schwierig war, Diplomaten mit akzeptablen politischen Referenzen zu finden.[95] Bernhard Wolff, Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium, fungierte als „Verbindungsmann zur Schuldenkonferenz in London“ und wurde zum „Mitglied der deutschen Delegationen beider Konferenzen“ bestimmt;[96] als weitere Vertreter aus Schäffers Haus gehörten Regierungsrat Ludwig und Dr. Hermann Eckelmann der Delegation an. Das Bundeswirtschaftsministerium wurde von Regierungsdirektor Dr. Aschner und Regierungsrat Fellsch, das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte von Werner Middelmann vertreten. Unterstützung erhielt die westdeutsche Delegation von drei „technischen Assistenten“: Heinrich Klebes, einem ausgebildeten Juristen, der als Übersetzer fungierte, sowie „Fräulein“ Unckel und Gerty Jonas als Sekretärinnen der Delegation.[97]
VI. Perzeptionen und Beschreibungen
Das erste Aufeinandertreffen der Unterhändler fand am 21. März 1952 in einem schmalen, langgezogenen Saal im ersten Obergeschoss des Kasteel Oud-Wassenaar statt, als die Verhandlungen offiziell eröffnet wurden. Protokollexperten hatten die Gespräche bis in die kleinsten Details geplant. Sie waren sich einig, dass es wichtig war, zwischen den Mitgliedern der Delegationen Distanz zu schaffen, sowohl symbolisch als auch real. Physischer Kontakt sollte vermieden werden, daher war kein Händeschütteln vorgesehen. Die Deutschen sollten als Erste den Raum betreten und als Letzte das Wort ergreifen. Sie sollten bereits anwesend sein – und zwar stehend –, wenn die Mitglieder der israelischen Delegation den Raum betraten. Dementsprechend wartete Otto Küster am Morgen des 21. März zusammen mit anderen Mitgliedern der deutschen Delegation schweigend und stehend, bis die israelischen Delegierten den Raum betraten. Küster registrierte bei den israelischen Delegationsmitgliedern „wuchtige Köpfe und Gestalten, entschlossene Mienen“. Auch ihre maskuline, virile und kraftvolle Erscheinung erregte seine Aufmerksamkeit.[98] Seine Worte vermitteln die Bedeutung der „representations and the reflection of those representations in the world of those who stereotype as well as those who are stereotyped“.[99]
Die Delegierten Israels und der Claims Conference verhandelten im Namen der Opfer und Überlebenden des NS-Regimes. Auffallend ist die Tonalität, in der Otto Küster die Situation schilderte, als sie den Saal betraten. Warum hatte ihr körperliches Erscheinungsbild eine so große Strahlkraft? Küsters Beschreibung griff auf Bildstereotypen von Juden zurück, wie sie auch in antisemitischen Karikaturen verwendet wurden, wobei er auf die biblische Rebellen- und Kämpfergestalt des Judas Makkabäus anspielte und Bewunderung für die wie Krieger wirkenden Männer durchblicken ließ, die nicht nur bei der Staatsgründung den Feind besiegt hatten, sondern auch den Drohungen seitens der vehementen Verhandlungsgegner widerstanden, die Terroranschläge auf die Unterhändler angekündigt hatten.[100] Otto Küster schienen die kriegerischen Ursprünge und die Wehrhaftigkeit Israels zu faszinieren; 1952 war die Erinnerung an den ersten arabisch-israelischen Krieg 1948/49 noch sehr frisch, aus dem Israel als Sieger hervorgegangen war, wenn auch um einen hohen Preis und auf fragiler Basis, endete der Krieg doch nur mit einem Waffenstillstand, nicht aber mit einem Friedensabkommen. Es waren nicht zuletzt die Folgen dieses Kriegs, die Israel dazu bewegten, mit den Deutschen zu verhandeln. Denn als die Unterhändler zusammenkamen, drohte Israel eine Zahlungskrise, die den Fortbestand des Staats ernsthaft gefährdete.[101]
Die Delegierten der Claims Conference, mit denen die Deutschen am Nachmittag des 21. März erstmals zusammentrafen, hatten dagegen auf Küster keine so intensive Wirkung. Dennoch registrierte er auch bei ihnen die körperliche Erscheinung – die nach seinen Schilderungen aber wohl weniger auffallend war als die der Israelis bei der Vormittagssitzung: „Köpfe und Körper sind kleiner, weniger monumental.“[102] Küster nahm eine insgesamt entspanntere Stimmung wahr und bemerkte sogar ein Lächeln auf dem Gesicht des Delegierten, der die Eröffnungserklärung der Claims Conference verlas.
Küsters Aufzeichnungen handeln im Wesentlichen vom Gegenstand der Verhandlungen und insbesondere von der schwierigen und kontrovers diskutierten Frage, welche Summe die Bundesrepublik den Israelis zusagen sollte, aber sein Tagebuch gibt auch Aufschluss darüber, wie er die Delegierten wahrnahm. In seiner Suche nach Kategorien, um sich über die Identität seiner jüdischen und israelischen Gesprächspartner klarzuwerden, bemühte er unter anderem die Dimension „Orient“ und „Westen“. Dr. Frederick Goldschmidt von der Delegation der Claims Conference, schrieb Küster, sei ein „preußischer Beamter der lautersten Art“, und Goldschmidts Sekretärin „ein orientalisches Rassengeschöpf von großer Intelligenz“.[103] Eine Woche nach Beginn der Gespräche scheint er sich erkundigt zu haben, ob die Mitglieder der israelischen Delegation, die er „diese Kulturjuden des Westens“ nannte, die Sabbatgebote wirklich streng nach Vorschrift einhielten oder nur den Schein wahren wollten.[104] Es dauerte seine Zeit, bis man die Mitglieder der anderen Delegationen im Zuge der gemeinsamen Arbeit näher kennenlernte.
Im weiteren Verlauf der Verhandlungen bescheinigte Küster den Delegierten der Claims Conference, dass sie während der Gespräche mit „unerschöpflicher Sachlichkeit und gewinnendem Anstand“ agierten. Personen, die ihn besonders für sich einnahmen, waren „[Nehemia] Robinson, der Litauer mit den schwarzen Glutaugen“, „der kleine [Saul] Kagan, die Verkörperung eines praktischen und klugen guten Willens im Stil der besten Jugendführer“, und der „rührende alte [Frederick] Goldschmidt“.[105] Die Sympathie ging so weit, dass sie einen vielsagenden Kontrast zu den Mitgliedern seiner eigenen Delegation bildete, denn nach Küsters Aussagen waren es in einer hitzigen Phase der Gespräche, die Anfang April 1952 begann, Männer wie Robinson, Kagan und Goldschmidt, die es „möglich gemacht“ hätten, „daß trotz Böhms Unkenntnis, Froweins Ängstlichkeit und Ludwigs fiskalischen Anwandlungen das gute Werk zustande kam“.
Otto Küsters „Tagebuchnotizen“ vermitteln ein Bild vom Wechsel zwischen Nähe und Distanz, der, wie Dan Diner hervorhebt, für weite Teile der Verhandlungen charakteristisch war.[106] Bei Küster zeigte er sich besonders deutlich in der Interaktion mit seinem Pendant in der israelischen Delegation, dem stellvertretenden Delegationsleiter Felix Shinnar. Sie begegneten sich zwar in Wassenaar zum ersten Mal, aber sie waren beide in Stuttgart aufgewachsen und hatten – wenn auch in verschiedenen Jahrgangsstufen – dasselbe Realgymnasium besucht. Während der Verhandlungen traten immer wieder Parallelen und Unterschiede zwischen den Unterhändlern zutage. Die Frage von Nähe und Distanz war jedoch nicht nur im Verhältnis von Küster und Shinnar relevant. Wenige Tage nach Verhandlungsbeginn entschlossen sich die Leiter der deutschen und der israelischen Delegation und ihre Stellvertreter – also Franz Böhm, Otto Küster, Giora Josephthal und Felix Shinnar – zu einem gemeinsamen Mittagessen in der beschaulichen Kleinstadt Oegstgeest. Küster schilderte die Atmosphäre dieser Zusammenkunft als vertrauensvoll.[107] Die gemeinsame Sprache und die gemeinsamen Erinnerungen an Heimatstadt und Schule – diese Aspekte werden in Küsters Tagebuch in ihrer Bedeutung deutlich. Diese Erinnerungen an Augenblicke des friedlichen Miteinanders und sogar des gemeinsamen Lachens haben – auch wenn das Klischee der „Makkabäer“ nicht fehlen darf – einen umso höheren Stellenwert, wenn man bedenkt, wie schwierig und angespannt die Gespräche sich damals gestalteten. Der gemeinsame Hintergrund erwies sich auch dann noch als tragfähig, als die Verhandlungen auf eine Sackgasse zusteuerten.
VII. Emotionale Begegnungen
Böhm und Küster sowie den Männern, die ihnen am Verhandlungstisch gegenübersaßen, war schon sehr bald klar, dass ihr Handlungsspielraum begrenzt war. Noch komplexer wurden die Gespräche in Wassenaar dadurch, dass die Bundesrepublik, vertreten durch Hermann J. Abs, zeitgleich in London dabei war, über die Gesamthöhe der (west-)deutschen Auslandsschulden zu verhandeln.[108] Laut der israelischen Delegation war Böhms und Küsters Einfluss in Bonn „fairly weak especially against financial people“.[109] Den Finanzfachleuten, so heißt es in Berichten der israelischen Delegation, galten Böhm und Küster als „starry-eyed idealists [who are deemed to be] ignorant [of the] economic implications [of the negotiations]“. Das war eine schonungslose, aber zutreffende Einschätzung. Ein großer Teil der ersten Verhandlungsphase wurde darauf verwendet, die Höhe der Wiedergutmachungszahlungen zu ermitteln und eine Summe festzulegen – zur Enttäuschung der Delegationen Israels und der Claims Conference, die mit der Erwartung nach Wassenaar gereist waren, Verhandlungsgrundlage sei die Summe, über die sich Adenauer und Goldmann Ende 1951 auf der Basis israelischer Forderungen verständigt hatten.[110]
Die Gesprächsthemen der Unterhändler bei den Verhandlungen von 1952 waren einerseits sehr spezifischer und nüchtern-pragmatischer Natur, andererseits spielten Emotionen eine entscheidende Rolle. Diese von der bisherigen Geschichtsschreibung weitgehend vernachlässigte Dimension lässt sich bei der Lektüre von Küsters „Tagebuchnotizen“ nicht übersehen. So schilderte Küster am 7. April, wie sein Blick auf der anderen Seite des Tischs auf „den festen und nüchternen Schwaben“ Shinnar fiel, als die Gespräche wegen der grundsätzlichen Differenzen über die von der Bundesepublik zu zahlende Summe hitziger wurden. „[I]ch fühle es wie ein unsichtbares Eisenband, das da, wo wir einander gegenübersitzen, die Konferenz verklammert“.[111]
Dass es zwischen den Unterhändlern zu Meinungsverschiedenheiten kam, ist nicht weiter verwunderlich. Am deutlichsten zeigte sich dies bei der Frage der Bemessungsgrundlage für die Wiedergutmachungsleistungen, die die Bundesrepublik an Israel und die Claims Conference zahlen sollte. Die israelische Delegation wollte die Höhe ihrer Wiedergutmachungsforderung gegenüber der Bundesrepublik auf Grundlage der Kosten berechnen, die Israel für die Neuansiedlung jener Menschen zu tragen hatte, die vor dem NS-Regime aus Deutschland und Europa geflüchtet waren. Dies entsprach weitgehend der damaligen Praxis, die Wiedergutmachungsfrage mit den Kosten der Flüchtlingsversorgung zu verknüpfen.[112] Dies ermöglichte es, den Fokus der Verhandlungen von der – nicht wiedergutzumachenden – Vergangenheit auf die Gegenwart und die Zukunft zu richten.
In vieler Hinsicht blieb der Genozid während der Verhandlungen etwas Unsagbares. Das führte dazu, dass die Delegationen auf unterschiedlichen Ebenen argumentierten. Die Vertreter der Bundesrepublik konzentrierten sich darauf, die israelischen Vorschläge zurückzuweisen und die Wiedergutmachungsforderung so weit wie möglich zu drücken. Küster tat dies, indem er die Stichhaltigkeit der israelischen Ansprüche hinterfragte und stattdessen die Frage aufwarf, „ob die osteuropäische Einwanderung nach Israel wirklich auf den Nationalsozialismus zurückgehe“.[113] Darauf erhielt er – wie er selbst es formulierte – „eine imponierende Antwort“ vom Leiter der israelischen Delegation. Im weiteren Verlauf wurden die Gespräche kontroverser und hitziger. Zwei Tage später, am 27. März, schrieb Küster, Josephthal sei „erstaunt, daß wir noch einmal die Ursächlichkeit der nationalsozialistischen Verfolgung für die Übervölkerung Israels anzweifeln“, und erwähnte insbesondere, Josephthal habe die fortwährende Infragestellung der israelischen Verhandlungslinie mit „Unmut und Pathos“ zurückgewiesen.[114] Wenig später wurden die Gespräche zunehmend von einer „großen Gemütsbelastung“ beherrscht,[115] die auch in israelischen Dokumenten zum Ausdruck kommt.[116] Dabei hielt Küster nicht zuletzt die zunehmenden Spannungen fest, die sein Verhältnis zu Böhm, aber auch die Arbeit der westdeutschen Delegation belasteten, ganz abgesehen von den Konflikten zwischen den Delegierten in Wassenaar und Vertretern des politischen Establishments in Bonn.
Küster vermerkte auch diverse antisemitische Äußerungen, die ihm zu Ohren kamen. So notierte er, eine Frau U. habe auf einer Geburtstagsfeier gesagt: „6 Millionen Juden haben wir angeblich ermordet, und doch sind alle lustig wieder da.“[117] Richard Ringelmann, Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium, ließ sich gegenüber Küster sogar zu einer Philippika gegen die „Saujuden“ hinreißen.[118] Küster hielt solche Verfehlungen und Entgleisungen fest, ohne sie groß zu kommentieren. Doch der Kontext ist eindeutig: Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts stieß in weiten Kreisen Westdeutschlands auf Ablehnung. Entsprechend feindselig war die Stimmung, der sich Küster und Böhm immer wieder ausgesetzt sahen. Küster widmete auch den Spannungen insbesondere unter Bonner Politikern einigen Raum. Dass es solche Spannungen gab, ist unbestritten und in Quellen aus dem Bundeskanzleramt, dem Auswärtigen Amt, dem Finanzministerium und anderen Behörden umfassend dokumentiert.[119] In den „Tagebuchnotizen“ erscheinen diese hitzigen Diskussionen durch Küsters spezifischen emotionalen Filter und aus der Perspektive der Verhandlungsführer in Wassenaar.
In den „Tagebuchnotizen“ wird auch die Ambivalenz des Bundeskanzlers zur Wiedergutmachungsfrage sichtbar. Er habe „die Flügel der Weltgeschichte [. . .] gespürt“, soll Adenauer gesagt haben, als er im Dezember 1951 erstmals mit Nahum Goldmann sprach.[120] Küster zeigt jedoch einen ganz anderen Adenauer – einen Kanzler, der sorgenvoll darüber nachdachte, wie sich die Wiedergutmachungsverhandlungen auf die nächste Bundestagswahl im September 1953 auswirken würden. Als Adenauer sich im Mai 1952 bei einem Treffen hinter verschlossenen Türen in diesem Sinne äußerte, notierte Küster: „Niemand widerspricht.“[121] Auch den Vorschlag, die Bundesrepublik könne anstelle von Wiedergutmachungszahlungen ein „Krankenhaus stiften“, vermerkte Küster.[122]
Zwei Personen, die in Otto Küsters Aufzeichnungen über das Geschehen im Vorfeld der Verhandlungen und über die erste Phase der Gespräche in Wassenaar häufig auftauchen, sind der Finanzexperte Hermann J. Abs, der zwischen 1938 und 1945 die Auslandsabteilung der Deutschen Bank geleitet hatte und nun die westdeutsche Delegation bei der Londoner Konferenz anführte, sowie Bundesfinanzminister Fritz Schäffer. Diese beiden Männer waren auf unterschiedliche Weise besorgt über die möglichen Auswirkungen des Abkommens, das mit den Vertretern Israels und der Claims Conference ausgehandelt werden sollte. Besonders hoch schlugen die Emotionen, wenn Küster über Gespräche mit Abs, Schäffer, Adenauer und manchen Beratern des Kanzlers berichtete. In den entsprechenden Passagen wird deutlich, wie die Ernüchterung über die Bundesregierung allmählich wuchs und sich Küster immer mehr von seinen Auftraggebern entfremdete. „Ich komme mir fürs erste Mal recht abgewimmelt vor“, schrieb er am 18. April, als der Beginn der Verhandlungen noch keinen Monat zurücklag.[123] Er sei „[m]üde und unbefriedigt“[124] und „voll zornig-schwermütiger Gedanken“.[125]
Ebenfalls in den „Tagebuchnotizen“ dokumentiert ist eine hitzige Besprechung zwischen Böhm, Küster, Finanzminister Schäffer und Ministerialdirektor Heinz Oeftering aus dem Finanzministerium am 7. Mai 1952. Dass es zwischen der Delegation in Wassenaar und dem Bundesfinanzministerium Meinungsverschiedenheiten gab, war nichts Neues, aber bei dieser Besprechung spitzten sie sich zu, als Küster sich dagegen verwahrte, zum wiederholten Male als Vermittler tätig werden zu sollen, und darauf hinwies, Böhm und er sollten nicht zu Boten zwischen verschiedenen Bundesressorts umfunktioniert werden. In den „Tagebuchnotizen“ heißt es: „Schäffer setzt dazu an, mich mit Hilfe seines Ministerialdirektors hinauszuwerfen, wofür freilich auch dieser Grobian keine Form findet.“[126] In Böhms Bericht über diese Besprechung ist nachzulesen, Schäffer habe Küster „mit einiger Schärfe“ in seine Schranken gewiesen.[127] Noch am selben Tag reichte Küster bei Bundeskanzler Adenauer seinen Rücktritt ein. Böhm machte sogleich deutlich, dass Küsters Ausscheiden aus der Delegation einen herben Verlust bedeuten würde. Versuche, den Bruch zu heilen, scheiterten jedoch. Küster nahm zwar am 14. Mai 1952 noch an einer Zusammenkunft teil, ergriff aber bei dieser Zusammenkunft nur selten das Wort. Stattdessen vermerkte er in seinem Tagebuch: „Nur im Abgehen bekenne ich das Gefühl brennender Scham, einem Volk anzugehören, dessen Regierung ihm bei einem Etat von 20 Milliarden nicht zuzumuten wagt, 100 Millionen für die Wiedergutmachung dieses Unrechts aufzubringen.“[128] Tags darauf – es war der 15. Mai – bekräftigte Küster seinen Rücktritt. In einem Gespräch mit dem Süddeutschen Rundfunk machte er seine Entscheidung öffentlich und erläuterte sie: „[Ich] sage, daß ich mit Zorn spreche, und gelange im Sprechen auch wirklich zu diesem Zorn.“[129] Wenige Tage später veröffentlichte die Stuttgarter Zeitung sein Rücktrittsschreiben in voller Länge.[130]
VIII. Ausblick
Auch wenn Küster mit seinem Rücktritt aus dem Kreis der gestaltenden Akteure ausschied, reichen seine „Tagebuchnotizen“ noch bis März 1953. Sie enthalten auch Kommentare zum weiteren Verhandlungsgeschehen, in denen mitunter Genugtuung zu spüren ist: „Das Bundeskabinett hat beschlossen, Israel 3 Milliarden und Jahresraten von 200 Millionen zu bieten; also genau das, was ich vorgeschlagen hatte“, vermerkte er im Juni 1952.[131] Küster hielt auch fest, dass das Abkommen im Bundestag mit den Stimmen der Opposition ratifiziert wurde –„mit einer imponierend überparteilichen Mehrheit gegen eine überparteiliche Minderheit“, wie er es während der Verhandlungen prognostiziert hatte.[132]
Auf eigenen Erinnerungen basierende Schilderungen sind grundsätzlich mit Vorsicht zu behandeln – nicht nur, aber vor allem wenn sie aus der Feder von Politikerinnen und Politikern stammen, die dazu neigen, ihre Sicht der Dinge und ihren Anteil an den Zeitläuften ins rechte Licht zu setzen.[133] Auch für Küster mag das eine große Rolle gespielt haben – bedenkt man seine Biografie, die ja beileibe nicht ohne Brüche war. Daher überrascht es nicht, dass Küster in späteren Tagebucheinträgen auch Kritik an seinem Handeln thematisierte, die ihm zu Ohren gekommen war. „Ich vergeude die Steuergroschen durch unmäßige Leistungen an die Juden“, so eine angebliche Anschuldigung des späteren Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Gebhard Müller, im Oktober 1952.[134]
Als er seine „Tagebuchnotizen“ dem Archiv übergab, hatte er sich als Rechtsanwalt lange mit Wiedergutmachungs-, Entschädigungs- und Reparationsfragen befasst. Die Anerkennung dafür kam erst sehr viel später. Ende der 1980er Jahre schrieb Christian Pross: „Die Bundesrepublik hatte keinen kompetenteren und engagierteren Anwalt des wiederherzustellenden Rechts gehabt als Otto Küster.“[135] In den „Tagebuchnotizen“ wird auch deutlich, welche Gedanken, Voreingenommenheiten und Befangenheiten ein Mann Mitte vierzig in der Bundesrepublik der frühen 1950er Jahre haben konnte – selbst jemand, der ebenso leidenschaftlich wie tatkräftig für Versöhnung zwischen Deutschen und Juden und für Wiedergutmachung eintrat. Die Verhandlungen von 1952, die in der internationalen Presse als „freundlich und geduldig“ dargestellt wurden, waren in Wahrheit außerordentlich schwierig.[136] Küsters „Tagebuchnotizen“ helfen, besser zu verstehen, wie sich die Verhandlungen über das erste Wiedergutmachungsabkommen nach einem Völkermord vollzogen und in welcher Atmosphäre die Gespräche abliefen.[137]
Aus dem Englischen übersetzt von Andreas Bredenfeld.
Dokument[138]
Tagebuchnotizen zu den Verhandlungen über den Sühnevertrag mit Israel
Samstag, 23.2.1952. Brief an Prof. Böhm,[139] der die „Reparationsverhandlungen“ mit Israel führen soll: er möge sie nicht als Reparationsverhandlungen führen. {. . .}[140]
Dienstag, 4.3.1952. {. . .}[141] Hallstein[142] ruft an: ob ich Prof. Böhm assistieren wolle bei den Israel-Verhandlungen (die keine „Reparations“verhandlungen sein werden).
Freitag, 7.3.1952. {. . .}[143] ½ 10 nach Bonn {. . .}.[144] Fräulein Becker[145] (Landgerichtsrätin Dr. Becker, Wiedergutmachungsreferentin im Bundesjustizministerium): Schäffer[146] so zugeknüpft, daß er den Alliierten die Befriedigung der Wert-Ansprüche der Verfolgung nicht einmal 10:1 zusagen will.[147] Dennoch suche ich Staatssekretär Bleek[148] im Innenministerium auf, um ihm darzulegen, es möge die nach einer Idee Adenauers[149] in seinem Haus aufzubauende Leitstelle für die Wiedergutmachung nicht aufgebaut und das dafür veranschlagte Personal lieber dem Finanzministerium zugewendet werden.[150]
Samstag, 8.3.1952. 9.00 im Palais Schaumburg[151] zwei Dutzend Leute zur Beratung über das Israel-Vorhaben. Hallstein sitzt vor, Hauptperson Abs,[152] Leiter der Schulden-Delegation in London,[153] für den wir allenfalls Zubringer-Dienste leisten können. Klarer Mann. Böhm und ich sind auch bei bescheidenem Auftrag bereit, wollen aber nicht verpulvert werden, legen also Wert darauf, daß die Öffentlichkeit vorher erfährt, zu was wir, zu wie wenig wir bevollmächtigt sind. Man will Adenauer erst noch einmal die geringen Prognosen berichten. {...}[154]
{. . .}[155]
Montag, 10.3.1952. {. . .}[156] Stuttgart. (Ministerialrat Dr. Leibfried,[157] einer meiner Mitarbeiter im Justizministerium): Ist der Zug aus Tübingen schon da? Er sieht sie von den Schwarzen Bergen anrollen: denn die CDU ist (etwas wider Erwarten) als die stärkste Partei aus der Wahl hervorgegangen.[158] {. . .}[159]
{. . .}[160]
Freitag, 14.3.1952. Nach Bonn. Bei Frowein[161] im Auswärtigen Amt Prof. Böhm getroffen. Depeschen hin und her, aber obwohl weder sachlich noch technisch das Geringste klar und vorbereitet ist, nächsten Donnerstag soll auf jeden Fall mit den Verhandlungen begonnen werden. Die Grund-Enttäuschung der Israel-Leute hat uns wohl Abs in London abgenommen. Anschließend Blankenhorn[162] (Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt), jung und frisch, {. . .}[163] aber wohl allzu leichtmütig Herrn Abs „nicht verstehend“: Ich mache sogleich geltend, worin Abs sehr wohl Anspruch auf Verständnis habe – namentlich in seiner Aufwallung darüber, daß man ihn die deutsche Leistungsfähigkeit auf der Schuldenkonferenz in London bis zur letzten Million darlegen und 20 Gläubigerländer schließlich davon überzeugen ließ, ohne ihm zu sagen, daß man daneben selbstverständlich noch an Israel eine Leistung vorhabe, für die man 1 Milliarde Dollar als Verhandlungsgrundlage akzeptieren werde. Er scheint es einzusehen.
Wir beginnen dann im Kabinetts-Sitzungssaal die Instruktion zu entwerfen, die uns Adenauer mitgegeben und Abs in Abschrift übermitteln soll. Dann Unterredung mit Adenauer selbst. Glanzloses Greisengesicht, ganz alte Haut; aber eine leicht anspringende, sachliche und wohlwollende Stimme, mit der er auf eindringliche Weise einfache Dinge sagt. Es geht von dem Mann und seinem (unanfechtbar schönen) Arbeitsraum eine klösterliche Ruhe aus, weltüberlegene Weltkundigkeit keineswegs der Eindruck eigensinniger Geschäftigkeit, den sein Wirken von Weitem macht. Auf dem Schreibtisch stehen ein paar rührende erste Gartenfrühlingsblumen. – Er sagt uns, was ihn bewog, das Angebot in Israel zu machen. Das ist gut und ehrlich, wenn auch diese einfache Seele, als Böhm das Wort „Kollektivforderung Israels“ zitiert, mißverstehend sich sogleich gegen alle Kollektivschulden verwahrt, er habe keinen Teil an einer solchen. Ich versuche, die Anleihebereitschaft der Regierung festzulegen, er bleibt demgegenüber bei dem Gedanken der Sachleistungen über viele Jahre hinweg, die, wie man dem wenig wirtschaftskundigen Mann gesagt hat, zusätzliche Transfermöglichkeiten bieten und uns den Anleihenmarkt nicht blockieren. (Ich meine, eine gute erste Anleihe blockiert nicht, sondern ermöglicht weitere.) Er kommt dann noch auf seine Besprechung mit den Hohen Kommissaren über den Wiedergutmachungs-Vertrag, bei der McCloy[164] sich immer wieder auf mich bezogen habe. Es zeigt sich, daß die Zahlen beim Hinaufreichen auf die höchste Ebene alle durcheinandergerutscht sind, und Adenauer stellt schließlich leise belustigt fest, im Grunde hätten die Herren ja gar nichts gewußt. (Die Sache ist wieder auf die unterste Ebene gesenkt worden.) Wir sind insgesamt über eine halbe Stunde bei ihm; er verabschiedet uns mit den Worten, beglückwünschen könne er uns zu der Aufgabe nicht, sei aber dankbar.
Dann (nach Besprechung mit dem Stuttgarter Innenminister Ulrich[165] über die allgemeine Wehrpflicht und mit dem Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium Ringelmann, „der mir unter erbosten Injurien gegen die Saujuden erzählt“, wozu diese seinen Minister beschwatzt hätten) fertigen wir die Instruktion zu Ende; Adenauer kommt durch unseren Saal, will jemand seinen Garten zeigen, man sucht lang den Schlüssel, derweil steht die hagre Gestalt wartend da, plaudert mit uns, die wir über unserer Arbeit sitzen, behaglich-rührendes Intermezzo. Später versucht Böhm noch, dem Staatssekretär (des Justizministeriums) Strauß[166] im fernen Siegen Fräulein Becker oder Frau Picht-Hemken (Dr. Picht-Hemken, Referentin im Bundesjustizministerium) für uns abzuringen, dann liest Blankenhorn noch die Instruktion. Das Telegramm von Abs über seine Eröffnung an seine, unsere Israelis, das deutsche Unvermögen betreffend, bleibt aus. Gegen 8 fahre ich zurück {. . .}.[167]
{. . .}[168]
Sonntag, 16.3.1952. Briefe an McCloy (wegen anderer Wiedergutmachungsangelegenheiten). Prof. Böhm ruft an, liest das opening statement vor, es gefällt ihm, ich schlage ein paar Änderungen im Interesse der Dezidiertheit vor. {. . .}[169]
{. . .}[170]
Dienstag, 18.3.1952. {. . .}[171] 2.15 Abfahrt im Wagen nach Bonn. Studium der Akten, insbesondere des Schuldenmemorandums des Dreimächteausschusses. Herr von Trützschler[172] (Vortragender Legationsrat im Auswärtigen Amt): die Instruktion ist nicht mehr gesehen worden, Böhms Eröffnung mit einer von Abs geschickten kompiliert. {. . .}[173] Bei Roemer[174] (Ministerialdirektor im Bundesjustizministerium) vergeblich um Ruth Hemken[175] angehalten.
Mittwoch, 19.3.1952. 7.07 nach Den Haag. Zu zehnt: (Frowein), je 2 Herren vom Finanz- und Wirtschaftsministerium, 1 Dolmetscher, 2 Sekretärinnen. Unterkunft im großzügigen Hotel Witteburg. Empfang bei der Deutschen Botschaft, der Botschafter Du Mont[176] sehr davon erfüllt, daß übermorgen ein letzter deutscher Kriegsverbrecher (zusammen mit seinem holländischen Komplizen) hingerichtet werden soll,[177] die Botschafterin eine Türkin. . .,[178] im Übrigen besteht die Botschaft noch aus einem Legationssekretär, von Török,[179] er sei ein Ungar, mit netter Frau,[180] die viel von den glänzenden Verkäufen der Juden weiß. Drei würdige Journalisten (1 Balte, 2 Juden).
Abends Ministerialdirektor Wolff[181] (Bundesfinanzministerium) von London, es sei schrecklich, immerhin exponiert er dann in Böhms Konferenzzimmer das Londoner Schuldenregelungsprogramm, und es zeigt sich, daß man dort mit unserer Sache rechnet. {. . .}[182]
Donnerstag, 20.3.1952. Kurier von Paris, wo Adenauer ist, mit einer neuen Fassung unserer Eröffnungserklärung. Wir meinen, daß man von den beiden Phasen der Konferenz und dem notwendigen Zwischenspiel zur Koordination mit London etwas deutlicher reden und daß die Erklärung merklich weniger kordial in die Hoffnung auf gutes Einvernehmen ausklingen sollte. Wir beschließen, dies nach Paris lediglich zu melden. Abs in London erklärt sich telefonisch zufrieden. Nachdem ich mit Frowein zu Abend gegessen, wird die Erklärung übersetzt, das dauert zäh bis ½ 1. Morgen offizieller Beginn.
Freitag, 21.3.1952. 10 Uhr nach Kasteel Oud Wassenaar. Die erste Begegnung zwischen Israel und Deutschland nach all dem, was an Dingen ohne Gleichen geschehen. Der israelische Konsul führt uns in das schmale Konferenzzimmer, unsere Plätze sind an der Seite, die weiter als die andere von der Tür entfernt ist, wir bleiben stehen, bis die Gegenseite kommt, die bei dieser Anordnung nicht an uns vorbei braucht. Wir finden es angemessen für eine Begegnung zwischen den Verwandten von Ermordeten mit dem Mördervolk, sei dieses auch durch persönlich schuldlose Leute vertreten. Nur Wolff schüttelt den Kopf: „doch keine Kapitulation“. Die Vertreter Israels, die nun erscheinen, haben alle wuchtige Köpfe und Gestalten, entschlossene Mienen: man versteht bei diesem makkabäischen Anblick, daß sie sich diesen Staat erzwungen, kriegerisch behauptet, und jetzt auch gegen die eigenen Terroristen diese Sühneverhandlung mit Gewalt durchgesetzt haben. Der Verkehr geht über die Sekretäre, es wird mir anschaulich, wie zu den Zeiten des Odysseus Versammlungen ohne Vorsitzende bloß von Herolden geleitet wurden. Die Erklärung Israels klingt in ihrem Englisch, diesem herrlichen Instrument für sparsam ausgedrückte Leidenschaft besser als [das,] was wir zu sagen haben; doch bringt es Böhm mit wackrem Ernst heraus, und auch der junge Dolmetscher Klebes[183] steht seinen Mann. Ein bißchen mehr Menschliches wäre mir immerhin jetzt doch recht gewesen. Zur juristischen Abdeckung, aber auch um Ausdruck der Einmaligkeit des uns Obliegenden, habe ich veranlaßt, daß dieses auch in der englischen Übersetzung als „Wiedergutmachung“ bezeichnet wird. Die Gegenseite bleibt sitzend zurück, während wir weggehen, das Zurückbleiben wird von ihr bezeichnet als Gegengeste dafür, daß wir sie aufgesucht. Zu Hause Aufregung, als wir entdecken, daß Israel sich die „historische Abrechnung“ vorbehält. Aber auf telefonische Reklamation wird zugestanden, daß account mit „Klärung“ übersetzt werden soll. {. . .}[184] ½ 4 Parallelzeremonie mit den jüdischen Verbänden. Diesmal nimmt ein Teil von uns Platz, bis die anderen kommen, und die anderen erheben sich, während wir gehen; Köpfe und Körper sind kleiner, weniger monumental; auch sagt ihr Sprecher das die Reihenfolge Motivierende zwar gleichlautend wie der Israele am Morgen, aber lächelnd. {. . .}[185]
Sonntag, 22.3.1952. [186] In mehrstündiger Besprechung die Delegation über die Problemlage unterrichtet; das Gesagte zusammenfassend Fräulein Jonas[187] diktiert.
(Nach einem Familienbesuch)[188] hier in Haag Erläuterung des gestern Gesagten, dann mit dem Dolmetscher Klebes die Hauptbegriffe englisch fixiert.
Montag, 24.3.1952. Die Israelis äußern Besorgnis, mit unseren Hinweisen auf Londoner Konferenz und Grenzen der Leistungsfähigkeit könnten wir die Grundlage der Verhandlungen, wie sie Adenauer im September und Dezember anerkannte,[189] verlassen haben. Wir bestreiten dies nach Zwischenberatung. Mir ist es lieb, daß sofort geantwortet wurde. Danach Erläuterung der israelischen Forderung, aber fast nur ihrer (der Israelis) Ansichten über Zeit und Form der Erfüllung.
Die Juden (Vertreter der jüdischen Verbände) nachmittags ersuchen gleichfalls um Erläuterung jener Hinweise. Sie bekommen nicht sogleich eine Antwort. Dagegen antwortete ich auf die Darlegung ihrer Vorschläge zur Wiedergutmachungs-Gesetzgebung und ihrer Kollektivansprüche alsbald. Das scheint als Bekundung eines ernsten Willens, bald zur Sache zu kommen, zu wirken. Abends ist die Antwort an die Israelis vom Vormittag schriftlich verfeinert. {. . .}[190]
Dienstag, 25.3.1952. Israel wird, wie es scheint, durch abermalige Erklärungen hinsichtlich des Zusammenhangs dieser mit der Londoner Konferenz zufriedengestellt. Ich trage die in Betracht kommenden Einwendungen gegen Grund und Höhe vor, und Dr. Josefsthal,[191] der Vorsitzende der Gegenseite, gibt aus dem Stegreif eine imponierende Antwort, namentlich zur Frage, ob die osteuropäische Einwanderung nach Israel wirklich auf den Nationalsozialismus zurückgehe und nicht etwa auf den polnischen Nachkriegsantisemitismus, die Furcht vor dem Bolschewismus, und eigenes Bekenntnis der Einwanderer zum Zionismus. Die Kollegen erhalten beim Abschied die Hand; es ist zuletzt auch nur noch deutsch gesprochen worden; man ist zufrieden.
Zäher die Nachmittagskonferenz, im Wesentlichen ein Wechselgespräch zum gestrigen Thema. Dazu das Problem, daß mit den Verbänden kein Staatsvertrag in Betracht kommt. Abends mit dem Delegierten Landauer,[192] der in beiden Delegationen sitzt, eine erste Aussprache unter vier Augen. – Wolff nach London zurück. {. . .}[193]
Mittwoch, 26.3.1952. Die Israel-Delegation, die jetzt nur noch deutsch spricht, überreicht ihr Zahlenmaterial. {. . .}[194] Die jüdische Delegation diskutiert mit mir zahlreiche Punkte ihres verzweigten und verwickelten Programms. Böhm führt einen Hieb gegen Österreich, das, statt seine Mithaftung anzuerkennen, sich als überfallenes Kind hätscheln läßt. Kräftiges Kopfnicken bei unseren Partnern.
Ich diktiere dann noch eine Erklärung an Israel, über die 5 Positionen, die zur Feststellungs-, und die 3, die zur Erfüllungsfrage in der ersten Phase noch zu diskutieren sind. Böhm unterzeichnet. Der Begriff „Feststellung zur Konkurstabelle“ wurde heute früh von mir abgeschlossen. Er wurde mit verständnisbetretenem Lächeln quittiert. Intern ringen wir noch darum, mit welchen Worten wir am Schluß der ersten Phase dieses „Feststellen“ ohne allzu schweres Präjudiz für Bonn vornehmen können. {. . .}[195]
Donnerstag, 27.3.1952. Dr. Josefsthal ist erstaunt, daß wir noch einmal die Ursächlichkeit der nationalsozialistischen Verfolgung für die Übervölkerung Israels anzweifeln. Mit der Replik, die er gibt, bin ich nicht so zufrieden wie vorgestern; aber Böhm und Frowein sind vom Unmut und Pathos Josefsthals so beeindruckt, daß ich nur gerade noch die Kapitulation verhüten kann. Dann wieder: Ob die Milliarde Dollar zugleich Israels Anteil an erblosen Vermögen deckt. Dann, besonders heikel: Ob wir am Schluß der ersten Phase die Summe nennen werden, in deren Höhe der Anspruch nach unserer Ansicht besteht. Ich sei dazu nach meinem Temperament geneigt, aber ob es klug sei, daß wir uns binden und dann vielleicht so desavouiert werden, daß wir das Mandat niederlegen müssen, wisse ich noch nicht.
Nachmittags zusammen mit Ludwig[196] (Regierungsrat im Bundesfinanzministerium) Kommission, *Gegenstand[197] die Wünsche an die Gesetzgebung. 23 Punkte. Ich muß, da Ludwig der Linie des Finanzministeriums viel schuldig zu sein glaubt, klarstellen, daß nur einer der Sprecher sein kann, der abweichende Ansichten eines Sachverständigen in sich selbst verarbeiten muß. Böhm billigt das mit schöner Entschiedenheit. Abends kommt Ministerialdirigent Middelmann**[198] und zerpflückt die israelischen Eingliederungskosten.
Freitag, 28.3.1952. Middelmann hält der israelischen Delegation maßvoll und verbindlich einiges entgegen, was einem international bewanderten deutschen Flüchtlings- und Eingliederungsspezialisten an den Zahlen auffällt, und erhält gleich maßvoll von Josefsthal Antwort. Danach ringt man wieder mit uns, daß wir „die Zahl nennen“, und unter meiner Einwirkung sagt Böhm zu, daß wir am Montag in unverbindlicher und am Mittwoch (nach einer Sitzungspause, die jeder auf einen Besuch in Bonn deuten mag) in etwas verbindlicherer Form unseren Vorschlag an die Bundesregierung bekanntgeben werden. Frowein findet es schrecklich, daß ich schon für Montag, also für einen Zeitpunkt vor dem Besuch in Bonn, mich festgelegt hätte. Eben das aber ist mir wichtig; wenn ich erst nach dem Besuch etwas sage, binde ich die Regierung, tue ich es vorher, so kann ich am Mittwoch sagen, die „Berichterstattung“ habe nichts ergeben, was mich zu einer Änderung veranlaßt habe, und die Regierung ist so frei wie vorher. Ach, wie muß ich gegen die Ewig-Ängstlichen um meinen derberen Stil immer erst kämpfen. Diesmal kann ich es immerhin mit Erfolg, der in diesen Dingen vorzügliche Böhm rafft sich immer wieder nach kurzen Anfechtungen dazu auf, daß wir nicht dazu da sind, Briefträger zu sein, und daß am herrschenden Briefträgertum im Grunde alles Gute scheitert.
Nachmittags wieder Ludwig und ich in der Unterkommission für die Gesetzesverbesserung. Friedlich die ganze Punktliste in 3 ½ Stunden zu Ende gebracht. Gegenüber unter anderen der alte Kammergerichtsrat Goldschmidt, preußischer Beamter der lautersten Art, derselbe, der mich einmal in Stuttgart besucht, kurz nachdem er aufgehört, in London Teller zu waschen. Es wird uns Tee angeboten, und als energetisches Element wirkt von drüben die Sekretärin[199] mit, ein orientalisches Rassengeschöpf von großer Intelligenz, der Sprache nach offenbar Französin: wenn der Kammergerichtsrat durch sein heftiges Nicken voll wackeren, innersten Einverständnisses anspornt, so sie durch einen federnden Unmut und, selten genug, durch ein Lächeln, das man gern hervorruft. Es kommt voll zum Durchbruch, als wir zum Schluß abtasten, ob diese Kulturjuden des Westens wirklich morgen den Sabbat so streng halten wie die Dehors[200] es verlangen.
Samstag, 29.3.1952. Schneesturm, der am Abend diese Hauptstadt sogar lichtlos macht. Bei uns ein flauer Tag. Böhm klammert sich aus Angst vor dem Nennen der „Zahl“ erst an den Botschafter, dann an Blankenhorn, und da beide von der Sache nichts verstehen, entscheiden sie eben aufgrund der Haltung des Anfragenden, und die aber ist stotternd: Also soll er lieber nichts tun, erst einmal nach Bonn kommen. Ich habe mich mit diesem plötzlichen Schieflaufen noch nicht abgefunden. {. . .}[201]
Sonntag, 30.3.1952. {. . .}[202] Von ¼ 2 bis 5 das Frühstück mit den israelischen Chefs Josefsthal und Shinnar[203] in Oonsgeest[204] vor Leiden. Zuvor mit Böhm die schöne Universitätsstadt, wenn auch im Matsch, vergnügt durchwandert. Beim Essen entschließt sich Böhm zur größten Offenherzigkeit, und das stellt die Lage wieder her – wobei freilich die Partner jetzt eben doch erwarten, daß wir von Bonn zur „Festsetzung“ autorisiert zurückkehren, und ich meinen ganzen Mut zum Sagen von Unangenehmem zusammennehmen muß, um diese Hoffnung um 50 % zu reduzieren. Der Eindruck, es mit prächtigen Leuten zu tun zu haben, festigt sich immer mehr. Mr. Elieser Shinnar entpuppt sich als der Stuttgarter Realgymnasiast Schneebalg, [Abitur-]Jahrgang 1923, wir lachen sehr. Aber wie ein Makkabäer einem gleich anders vorkommt, wenn man weiß, es ist ein Konpennäler.
Montag, 31.3.1952. ¾ 7 weckt mich Böhm über das Zimmertelefon, ob ich ungeöffnete Briefe hätte, die Kriminalpolizei sei seit 2 Uhr damit beschäftigt, die Delegationen vor Attentaten mittels explosiver Briefe zu warnen. Er habe den Beamten erst nicht empfangen wollen, aber der habe gesagt, es sei „ein bißchen ernst“. In München hat ein entsprechender Versuch an Adenauers Adresse den Sprengstoffspezialisten das Leben gekostet;[205] sonst würde man bloß schmunzeln. Die Früh-Kommission fliegt auf, weil der Regierungsrat Ludwig vom Finanzministerium seinen Meistern in London noch telefonieren muß. Böhm entschließt sich, etwas unangenehm zu werden; wir haben keine Referenten, dafür diese Questenbergs.[206]
Die Sitzung mit der Staatsdelegation droht sich in Erörterungen über den Weltschaden des Judentums zu verlieren; ich gebe solche Zeichen von Unmut, daß die Herren von gegenüber sie aufgreifen, und wir verlassen das Thema.
Frühstück beim Botschafter, das Temperament seiner alten Türkin prasselt so prächtig über die Tafel nieder, daß sie einem fast doch gefällt.
Der Verbände-Delegation gegenüber wird aufgrund der Ergebnisse der Kommission nun auf Delegationshöhe Punkt für Punkt Bescheid gegeben, in vielem eine Empfehlung an die Bundesregierung zugesagt.
Dann kommt gerade noch vor der Abreise nach Bonn die Bombe, lachend von den Fräulein als solche bezeichnet, es ist ein Brief, den die Botschaft geöffnet und durch Boten geschickt hat, und in dem Frowein gerade noch Schnur und Pulversack merkt.
¾ 2 in Bonn im Sternhotel.
Dienstag, 1.4.1952. Bonn. Der Funk teilt mit, daß es wirklich hochexplosiver Sprengstoff war. Schlimm wäre es gewesen, wenn der Brief oben statt unten geöffnet worden wäre.
In Gesprächen mit Böker[207] (nicht mehr bekannt, wer dies war), Blankenhorn, Hallstein wird erreicht, daß Adenauer am Freitag Abs und die Vertreter Schäffers und dazu abermals uns hier versammeln will, damit die israelische Forderung festgesetzt werden kann. Von Abs wie von Schäffer liegen Telegramme an den Bundeskanzler vor: Es dürfe nichts geschehen. Böhm gerät im Laufe des Tags in große dramatische Fahrt und erschreckt noch um 22 Uhr Hallstein durch die Ankündigung, wenn der Bundeskanzler ihn nicht empfange, werde er in Den Haag [sic!] nur noch zurückkehren, um der Presse zu sagen, er habe, nachdem ihn das Bundeskanzleramt nicht empfangen habe, den Auftrag niedergelegt. Dabei hatte Hallstein selbst uns zur „Härte“ aufgefordert, trotzdem täuscht ihn einen Augenblick Böhms Generalprobe.
Zwischendrin beim Bundesrat und bei Fräulein Becker, die ein trostloses Bild von der Sitzung des Bundesratsausschusses unter dem Gift gegen mich spritzenden Heukelum[208] (Vorsitzender des Ausschusses, Senator für Arbeit und Soziales in Bremen und in dieser Eigenschaft Leiter der dortigen Wiedergutmachung) entwirft. Aber irgendwo haben sie jetzt den neutralen Vorsitzenden für den obersten Rückerstattungshof durchgesetzt – „beinahe“, wie Grewe[209] (Professor für Völkerrecht, später Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt, damals maßgebend tätig in den Verhandlungen über die Auflösung des Besatzungsregimes) [berichtete], den wir auch noch treffen. {. . .}[210]
Mittwoch, 2.4.1952. Haag. Beim Bundespräsidenten,[211] dann bei den Bundespresseleuten, dann bei Herrn von Trützschler. Nach dem Mittagessen im Auswärtigen Amt den zweiten Teil des Berichts über die Claims Conference[212] (die jüdischen Weltverbände) diktiert. Nicht verhindern können, daß Staatssekretär Hartmann,[213] Bundesfinanzministerium, unseren Herrn Ludwig von Haag abberuft, um in Bonn den Kampf gegen uns für Samstag vorbereiten zu können. Auch Wolff fährt von London, statt zu uns, gleich nach Bonn. Gegen Mitternacht hier. {...}[214]
Donnerstag, 3.4.1952. Telegramm an Bundesfinanzminister, Befremden wegen Ludwig. Bericht desgleichen wegen Lastenausgleich, soll Sachverständigen herschicken.
Zu viert mit den Israeli-Chefs, Lage erklärt. Diese recht niedergeschlagen. Rundfunk-Interview. Dann Claims Conference, viel Herbes gesagt, dennoch zum Schluß freundliche Atmosphäre. Pressekonferenz, Böhm legt sich fest, er wolle am Montag die Summe nennen, die er Israel als Schuldbetrag vorzuschlagen der Bundesregierung empfehlen werde. Wenn nicht, „werde trotzdem eine Sitzung abgehalten“. Es dauert fast 2 Stunden, und die Presseleute lernen Grundzüge des Konkursrechts.
Freitag, 4.4.1952. Mir ist schlecht, wohl vor allem vom Rauch. Kommission mit der Claims Conference, Eckelmann[215] (nicht mehr bekannt) begleitet mich, kann nicht viel helfen. Geht über in die Plenarsitzung. 2 Punkte: Umstellung im Rückerstattungs-Ergänzungsgesetz, namentlich für Wertpapiere, und die Ansprüche der Emigranten aus den Territorien außerhalb des Bundesgebiets. Ich bringe noch eine Skizze zustande, dann ist mir so schlecht, daß abgebrochen werden muß.
{. . .}[216] Nachmittags-Sitzung. Wieder intern mit den Israeli-Chefs, erst recht deprimiert wegen des vielen Konkursrechts in den Zeitungen. Möchten keinesfalls Kapitalschnitt in der zweiten Phase im Sinn der Konkursquote. Ich sage, wir möchten so etwas vermeiden, aber eine prinzipielle Gewähr dagegen gebe es nicht.
Dann Claims Conference. Man sucht weiter Einigungsformeln für die Emigranten und sonstigen Nichtreparationsberechtigten aus den Gebieten außerhalb Westdeutschlands und kommt auch vorwärts. {...}[217]
Nach Bonn, Böhm festgemacht, daß er morgen keinesfalls sagt, man lege sich mit der Nennung der Zahl natürlich auch schon darauf fest, daß die 3 Milliarden bezahlt werden. In den Zeitungen sein hübsches Diktum: Antisemitische Briefe erkennt man daran, daß sie alle anfangen: Ich bin kein Antisemit.
Samstag, 5.4.1952. Bonn. Bei Blankenhorn, dann bei Hallstein, sie mobilisieren mich, ich solle ungeniert das Wort an mich reißen; Böhm sei eines nicht gegeben: knapp zu reden. Abs, Wolff, Hartmann, ich, Blücher,[218] Hallstein, Adenauer, Böhm, Erhard,[219] Frowein, Blankenhorn.
Im kleinen Kabinettssaal dreistündige Sitzung. Die Neuigkeit: McCloy hat gestern den Kanzler angestachelt, im Haag sei Krise, die Regierung Israels wackle, er möge den Dingen eine stabilisierende Wendung geben. Es beginnt flau und bös; Adenauer fällt Böhm ins Wort, die Zahlen könnten wir uns sparen, die Juden betrögen uns ja doch; Abs läßt mich nicht ausreden, ich muß, von Hallstein ermuntert, förmlich darauf bestehen, vollständig gehört zu werden. Man rät uns lange, doch lieber einmal irgend etwas zu leisten, etwa das vielerörterte Krankenhaus, und die Festsetzung irgendeiner Summe bis zur Klärung der Leistungsfähigkeit zu vertagen. Wir sagen, das gehe nicht: Einmal wegen des Kanzlerbriefs vom 6. Dezember 1951 an Nahum Goldmann,[220] denn danach sind die Eingliederungskosten als Maßstab akzeptiert, nur die Leistungsfähigkeit vorbehalten, und nachdem diese Kosten jetzt geprüft sind, müssen wir sagen, ob wir uns, vorbehaltlich der Leistungsfähigkeit, zu der festgestellten Summe und damit zu dem Kanzlerbrief bekennen („sonst“, sage ich, „haben Sie, Herr Bundeskanzler, in dieser Sache Ihr Gesicht verloren“); zweitens aber der Israelis wegen, die ihrem leidenschaftlich gespannten Volk noch vor Ostern sagen müssen, welches die Summe ist, die diese Deutschen als ein angemessenes Blutgeld bieten; demgegenüber sei die Erfüllung, sei sie ihnen auch noch so wichtig, doch eben sekundär. Der Kanzler spricht auf die beiden Gesichtspunkte an. „Blutgeld“. Aber wir haben es nicht leicht; Abs ist ein Meister der Verführungstöne, er ist für Adenauer sozusagen die Realität; er kleidet sich dazu in lautere Loyalität, die nur verspricht, was sie halten kann; und er droht, viel zu früh, mit dem Rücktritt. Daß es zu früh war, hat der Kanzler sicherlich bemerkt, und andererseits, daß auch wir entschlossen sind, aber offenbar so sehr, daß wir uns nicht zu Drohungen des Mundes hinreißen lassen. Ob so ein Kanzler überhaupt viel andere Entscheidungsunterlagen hat? Hallstein und Blankenhorn sind fest an unserer Seite, Erhard hilft, so gut er kann. Der Rest ist gegen uns, für uns vielleicht noch ein Stück der Abs’schen Intelligenz. Genug, die Stimmung ist schließlich ernst und ruhig, und der Kanzler sagt nicht mehr ungeduldig und geringschätzig: verehrter Herr Professor. Er schlägt vor, daß wir schriftlich niederlegen, was wir sagen wollen. Ich skizziere es in Blankenhorns Zimmer. In der Schlußphase ist der Kanzler von entwaffnendem Charme. Er erzählt, wie die beiden Buben, die das ihm zugedachte Attentatspaket der Polizei ablieferten, von ihm zum Kaffee eingeladen wurden und je eine goldene Uhr erhielten, diese nur zögernd zum Gravieren zurückgaben: „So denken deutsche Regierungsgläubiger“. Er widerruft (in aller Form) die 2 Stunden zuvor gefaßte Entschließung, daß wir Abs nicht zu McCloy begleiten sollen; und dann ist es aus. Ich tumber Tor will fragen, wann man nun, nach dem Besuch bei McCloy, wieder zusammenkomme; aber die anderen haben begriffen, daß unser Plan genehmigt ist, und Blüchers Antrag, die Besprechung bei McCloy abzuwarten, stillschweigend verworfen. „Die dramatischste Stimmung, die er jemals mitgemacht“, sagt Blankenhorn.
Mittagessen mit Hallstein: Will mich zum Ministerialdirektor in seinem Amt machen, Personalchef. Ich schlage Grewe (plus Marianne)[221] vor.
4 Uhr McCloy in Mehlem: Abs, Wolff, wir. 2 Stunden. Böhm berichtet dann: „Heute früh haben wir den Kanzler mit Hilfe von McCloy, heute Nachmittag McCloy mit Hilfe des Kanzlers erpreßt“. Denn Abs verführt ihn mühelos, unsere Vorhaben als täuschend zu empfinden – lieber einmal das Krankenhaus stiften und dann einstweilen ehrliche Vertagung. Auch er gibt schließlich nur unserer Entschlossenheit nach. Ein Genuß, Abs zuzuhören, wie er in fließendem Englisch McCloy darlegt, was Amerika für unser Israel-Projekt tun könne. Ein Mann wie Abs weiß, wann er auf den Boden der unerwünschten Tatsachen treten muß und daß sie agreabler werden, wenn man alsbald seine Kunst daran wendet, to advocate them. Nochmals Blankenhorn, nochmals Hallstein, und der große Tag ist aus. {. . .}[222]
Sonntag, 6.4.1952. Beim Frühstück Cron[223] (Chefredakteur der Deutschen und Wirtschaftszeitung). {. . .}[224] Adenauer: Wie er lüge.
(Im Zug): Deutsche Denkschrift zur Transferfrage.
Montag, 7.4.1952. Wieder im Haag. Tag der großen Gemütsbelastung. Josefsthal macht es uns schwer. Wir hätten nie gesagt, daß wir Feststellung der Schuld und effektive Leistung treffen. Er geht in seiner Leidenschaft so weit, daß er Böhms Lauterkeit anzweifelt. Der bleibt ruhig; er habe erst gar nicht geglaubt, daß die deutsche Regierung über wirtschaftliche Tatsachen mit Moral glaube hinwegzukommen; nun sehe er, daß auch die israelische Regierung demselben Wahn unterliege; und er müsse nun wohl oder übel glauben, daß es dann eben Sache eines an sich weltfremden Professors sei, die eine wie die andere hohe Autorität, nehme man es auf, wie man wolle, auf jene Tatsachen hinzuweisen. Es ist gut, daß es auch Shinnar gibt, den festen und nüchternen Schwaben; ich fühle es wie ein unsichtbares Eisenband, das da, wo wir einander gegenübersitzen, die Konferenz verklammert. Sie reisen jedenfalls nicht von sich aus ab, überlassen es auch uns, die erste Pressekonferenz zu halten. Aber am 19. Mai wollen sie wissen, was wir effektiv zahlen, und da Böhm eine Erklärung über diesen Termin nicht von sich aus abgeben will, müssen wir die Autorisation dazu jetzt wieder bis Mittwoch abwarten.
Nachmittags energisch mit der Claims Conference weiterverhandelt, damit wir morgen zu einer förmlichen Einigung wenigstens über ¾ der 24 Punkte kommen, und auch, damit der Krisenstimmung entgegengearbeitet wird. Bei der nachmittäglichen Pressekonferenz habe ich, wie ich Böhm vorgeschlagen, jeweils zuerst geredet, damit er mich korrigieren könne, statt umgekehrt; das klappt auch gleich gut, als ich etwas Kühnes über das „Schamgefühl der Welt“ gesagt, das es hoffentlich verhindern werde, daß wir gerade diese Forderung kürzen müssen. Die Pressekonferenz am Abend, über C[laims]C[onference], halte ich allein; das macht nun doch ungleich mehr Spaß. {. . .}[225]
Dienstag, 8.4.1952. In 2 Verhandlungen mit der CC wird das Gesetzgebungsprogramm soweit gefördert, daß gegen Abend „Joint Recommendations“ von Leavitt[226] einerseits, Böhm und mir andererseits auf Deutsch und Englisch unterzeichnet werden können. Die Gehilfen Leavitts, Robinson,[227] der Litauer mit den schwarzen Glutaugen, der kleine Kagan,[228] die Verkörperung eines praktischen und klugen guten Willens im Stil der besten Jugendführer, und der rührende alte Goldschmidt[229] haben es mit unerschöpflicher Sachlichkeit und gewinnendem Anstand möglich gemacht, daß trotz Böhms Unkenntnis, Froweins Ängstlichkeit und Ludwigs fiskalischen Anwandlungen das gute Werk zustande kam. 3 Punkte nur bleiben kontrovers. „Sollen wir der Presse nun die Impression der Einigung oder der Nichteinigung geben?“, fragt Leavitt. Ich plädiere aufrichtig für das erstere. Unsere Feststellung, daß über die Frage der Leistungsfähigkeit noch nicht gesprochen und von unserer Seite nicht geurteilt sei, wird aus dem Abkommen in einen bloßen Brief verwiesen.
Die Staatsdelegation gibt uns noch schriftlich, wie sehr sie enttäuscht, ja getäuscht worden sei. Es hinterlässt bei Böhm doch so etwas wie eine Nervenkrise (ich kenne das noch von Herrenchiemsee[230] und habe es daher leicht, mich wieder loszuhaken). Landauer, der in beiden Delegationen saß, nimmt meinen „Entwurf“ einer gemeinsamen Postkarte an unseren alten Lehrer Holl[231] für Shinnar an sich. Ich erfahre nicht mehr, ob er geglaubt hat, diesen gemeinsamen Akt prästieren zu können. Immerhin, abgereist sind sie nicht. Wie ich selbst, telefoniert gerade Bonn, daß ein effektiver Vorschlag an Israel nicht schon bei, sondern erst 1 Monat nach Wiederbeginn der Londoner Verhandlungen, also erst am 19.6., möglich sei.
In Köln Zeitungen: Sie berichten überraschend ruhig auf Israels Aufschrei, und New York Times,[232] ja sogar zwei Zeitungen in Israel reden gut zu.
Mittwoch, 9.4.1952. Über Bonn nach Hause (in Bonn Sitzung des Bundesrats-Unterausschusses für Wiedergutmachungsfragen unter dem Berliner Senator Klein).[233]
{. . .}[234]
Donnerstag, 17.4.1952. Zum Süddeutschen Rundfunk: Referat über die Haager Verhandlungen. {. . .}[235]
Auf Eilbestellung zum Bundeskanzler. In Darmstadt treffe ich beim Herausgeber des Echo[236] inmitten einer schon recht aufgeheiterten Gesellschaft Herrn Böhm und den Herausgeber der Frankfurter Rundschau, Gerold,[237] der mich als „alten Feind“ herzhaft begrüßt. Die versammelte Links-Elite redet sich begeistert tot; ich nehme Böhm nach Frankfurt mit, er ist überzeugt, daß Abs, mit dem er noch zweimal verhandelt hat, loyal das Seine tut.
Freitag, 18.4.1952. Früh nach Rhöndorf, wo uns Adenauer in seinem Haus hoch am blühenden Rheinuferhang empfängt: Schäffer, Abs, Blankenhorn, Böhm, ich. Ohne ersichtlichen Zweck gibt Adenauer „in diesem engsten Kreis“ ein außenpolitisches Exposé und findet nebenbei auch den heiligen Geist auf der Erde recht selten; der hierüber apostrophierte Schäffer konstatiert, die Zulassung Gottes sei von außerordentlicher Weite. Ein gemeinsamer Ausschuß beider Delegationen (Haag und London) wird beschlossen. Mangels sonstiger Erfrischung zieht Schäffer etwas weiß Eingewickeltes aus einer Mappe, verzehrt den herausgewickelten Zwieback zur Hälfte, nach einer halben Stunde zur anderen Hälfte. Adenauer: „Haben Sie Hunger? Dann schlage ich vor, wir sehen noch meine Blumen an.“ Das geschieht, und wir sind entlassen. Schäffer versuche ich, für die 28 Punkte und die 2 nicht verhandelten zu gewinnen: Lastenausgleich und Wertschulden. Letztere sieht er, fange er erst damit an, in Höhe von 36 Milliarden DM aufmarschieren. Ich komme mir fürs erste Mal recht abgewimmelt vor. Mit Blankenhorn nach Bonn: Er möge uns doch wenigstens einen Apparat zur Verfügung stellen. 10 Tage nach dem Abschluß unserer Haager Vereinbarung kennen diese weder Abs noch Schäffer. Ich werde Zeuge eines energetischen Anrufs beim zart reagierenden Frowein, derweil wir dort Herrn Stahl[238] von der deutsch-amerikanischen Gruppe Transatlantik in unsere Arbeit einweihen. (Darin ist Böhm unermüdlich.) Nach einem Besuch bei zwei freundlich erstaunten Amtsmännern des Reisekostenwesens, denen mein Vorschlag eines Abwesenheitsgeldes von 40,– DM täglich vorliegt, mit Böhm durch den holden Westerwaldfrühling heim.
Sonntag, 20.4.1952. (Eine Geburtstagseinladung) Frau U. weiß, 6 Millionen Juden haben wir angeblich ermordet, und doch sind alle lustig wieder da.
Mittwoch, 23.4.1952. Brief an Schäffer: Umstellung der Wertschulden; Elementarunterricht über den Unterschied zwischen Schäden, die man ohne Ansehen der Person, und solchen, die man aus Willkür gegen die Person erlitten hat.
Donnerstag, 24.4.1952. Bonn. Hier wieder alles als Flugsandarchitektur erfunden. Eine halbe Stunde mit Böhm und Erhard im Bundestagsrestaurant als das Habhafteste. Erhard hält Lieferungen an Israel über 100 bis 200 Millionen [DM] jährlich für devisenbilanzunschädlich. Ein Programm für den Lenkungsausschuß, der bisher nicht richtig Gestalt gewonnen hat, aufgestellt. Müde und unbefriedigt.
Freitag, 25.4.1952. Früh bei Blankenhorn, Lenkungsausschuß mit Ministerialdirektoren erwirkt, der das Gesamtproblem erörtert, alle die Einzelausschüsse und -verhandlungen autorisiert, die fälligen Kabinettsbeschlüsse vorbereitet. Eine Skizze dieser Beschlüsse diktiert. Dann der bisherige Allerwelts-Ausschuß unter Weiz[239] vom Auswärtigen Amt, einem Jünger von Abs; er wartet lange auf die kompetenten Herren aus dem Wirtschaftsministerium, die vielleicht eine Warenliste vorlegen und eine Lieferungssumme nennen können: aber als sie endlich kommen, hat ihr Ministerialdirektor, im Kreuzfeuer des bisherigen Nein und des Erhard’schen Ja, vorgezogen, eine neue Situation festzustellen und nichts sagen zu können. Erst recht nicht hat der Oberregierungsrat von der Haushaltsabteilung des Finanzministeriums „etwas Bestimmtes über die in seinem Haus sich bildenden Tendenzen erkennen können“. Glücklicherweise ist wenigstens Weiz ohne Ehrgeiz und zufrieden, daß dieser Ausschuß – ohne etwas vorzuweisen – seine Arbeit beendet. {. . .}[240]
Stuttgart: Regierungsbildung. Also nochmals Reinhold Maier[241] und Renner[242] als mein Minister. Als Maier sagen wollte, wie es üblich: Gott schütze dieses Land, unterbrachen ihn beim Wort Gott die Pfui-Rufe der CDU: Denn vergeblich, um nicht zu sagen verbrecherisch führt den Namen Gottes, wer die CDU in die Opposition gedrängt hat. Und Kaufmann,[243] der die CDU verlassen hat und nun von der DVP zum Staatssekretär gemacht wurde, muß hören: Judaslohn. Das Verfahren selbst aber, mit – absoluter – Mehrheit, ein Kabinett zu bilden, heißt kurz und gut: undemokratisch, und man wird nicht nur anrufen, was angerufen werden kann, sondern muß sich auch „überlegen, ob ein Verfassungssystem, bei dem so etwas möglich ist, nicht gründlicher Veränderung bedarf“. Leibfried sieht es schwarz, gerade weil wir nicht schwarz wurden,[244] und zieht Analogien mit dem Protektorat Böhmen-Mähren, ja mit dem Reichskommissariat Ostland; die Freunde dämpfen nach Kräften.
Samstag, 26.4.1952. Frowein telefoniert: der Fels Blankenhorn ist krank, der Lenkungsausschuß droht schon wieder zu versacken, etwas Qualliges statt dessen aufzutauchen.
{. . .}[245]
Montag, 28.4.1952: Öffentliches Unbehagen über die Regierungsbildung – K. erzählt von einer mitternächtlichen Fahrt durch Niedersachsen: in jedem Dorfwirtshaus hocken sie und singen die Lieder der Nation, und Hitler war in Ordnung, und wenn die Sabotage nicht gewesen wäre. . .
{. . .}[246]
Donnerstag, 1.5.1952: {. . .}[247] Bonn. Böhm und Frowein im Bergischen Hof: Zeichen der Lage, daß der Kanzler angeordnet habe, Böhm solle nicht dabei sein, wenn Blankenhorn und Abs einen Brief des Kanzlers an Goldmann, den Großagenten Israels und der Weltjuden, entwerfen. {. . .}[248]
Freitag, 2.5.1952. {. . .}[249] Ich bereite mein Referat für den Ministerialdirektoren-Ausschuß vor. Aber was unter Trützschler zusammenkommt, ist kein solcher; nur Roemer (Ministerialdirektor im Justizministerium) ist gekommen.[250] Programm nur die 28 Punkte; man will an die gesamtdeutschen Lasten nicht heran und für die Außengebiete die Reparationen-Fiktion aufrechterhalten. Eigentlich sollten wir möglichst nur zugestehen, was man in Mehlem (bei den Verhandlungen über die Ablösung des Besatzungsstatuts) schon zugestanden hat. Wenig Freude. {. . .}[251]
{. . .}[252]
Dienstag, 6.5.1952. Bonn. Finanzministerium, wo morgen der Minister sowohl von Böhm wie von seinen Herren soweit unterrichtet werden soll, daß er seine Entscheidungen zu den jetzt fälligen Kabinettsvorlagen treffen kann. (Wer macht die eigentlich? Niemand dirigiert das. Ich dränge darauf, daß am Freitag endlich der Lenkungsausschuß für den Israel-Komplex zusammentrete – aber wer ist mein Adressat? Der gute Frowein, der dann auch als einziger da wäre, das Erredete und Erschwätzte zu irgend etwas zusammenzubauen?) Kuschnitzky[253] (Ministerialrat im Bundesfinanzministerium, zuständig für Wiedergutmachungsfragen), vom Zusammenbruch genesen, wiedergesehen. Aber er kämpft schwer mit dem Bewusstsein, ein zunehmend mehr lügender Vertröstungsbeamter zu sein.
Mittwoch, 7.5.1952. Böhm ist da. Sogleich zu Schäffer, wo auch Oeftering[254] (Ministerialdirektor im Bundesfinanzministerium). Böhm läßt sich ausschimpfen. Hätte aus seiner Unterredung mit Schäffer vom 7.3. wissen müssen, daß für Israel weder Haushaltsmittel noch solche aus einer inländischen, sondern nur solche aus einer ausländischen Anleihe in Betracht kommen. Hätte das eben dem Kanzler pp[255]sagen sollen. Als er wieder anfängt: Sagen Sie dem Kanzler, unterbreche ich: Böhm möge es ablehnen, erneut den Boten zwischen Bundesressorts zu machen. Schäffer: Ich verbitte mir das. Ich: Ich sehe, daß daraus nur Unglück kommt. Schäffer: Wollen Sie es mir nicht überlassen, allein mit Prof. Böhm – Ich: Ich bin Mitbevollmächtigter der Bundesregierung. Schäffer setzt dazu an, mich mit Hilfe seines Ministerialdirektors hinauszuwerfen, wofür freilich auch dieser Grobian keine Form findet. Ich bleibe an der Tür stehen, die vertretene Sache wird ein Zusatzopfer an Würde erlauben; Böhm bemüht sich, aber freilich lang statt kurz, ums Einlenken, Schäffer scheint es insofern auch zu tun, als er auf den in Rhöndorf beschlossenen Ausschuß zurückgreift. Aber beim Abschied läßt er mich stehen, als sei ich nicht da. Nun ist klar, daß ich den Auftrag zurückgebe; Böhm ist zwar nicht glücklich, daß der Bruch gerade jetzt kommt, aber mit dem Kündigungsbrief an Adenauer einverstanden. Seyerle[256] (mein Fahrer) bringt ihn dem kranken Gebieter, der für seinen Finanzminister kein solcher ist, nach Rhöndorf, wo man ihn „noch kennt“. {. . .}[257]
Donnerstag, 8.5.1952. Um 8.00 zurück (nach Stuttgart), voll zornig-schwermütiger Gedanken, im Ergebnis übrigens ruhig. Gegen Abend Anruf Froweins: man habe mich anhalten wollen, aber ich sei ja schon vor 8.00 weg. Hallstein wolle einen Brief mit mir vereinbaren, den der Kanzler mir schreiben solle; oder ob ich darauf bestehe, daß Schäffer selbst...? Ich frage zurück, ob er meine, daß jemand anderes als der Beleidiger sich entschuldigen könne. Er sieht es ein, aber es werde sehr schwer sein; andererseits der endgültige Bruch unausdenkbar. Übrigens klingt es, als sei der Kavalier Frowein ganz froh, daß jetzt einmal die Ehre und nicht das Geld den Schauplatz regiert.
Freitag, 9.5.1952. Ergebnisloses Gespräch mit Leibfried, was bei den Unterredungen mit dem Minister (dem nunmehrigen Justizminister Renner) zu tun. Hat es überhaupt einen Sinn, Wiedergutmachung aktivistisch betreiben zu wollen, ohne eine gefürchtete Hausmacht hinter sich zu haben, wie es die Stuttgarter Gesetzgebungs-Abteilung war? (Diese hatte ich gleichzeitig mit der Wiedergutmachungs-Abteilung geleitet; bei der Umwandlung der württemberg-badischen in das baden-württembergische Justizministerium sollte die Gesetzgebungs-Abteilung einem der Herren aus Tübingen oder Freiburg übertragen werden; im Ergebnis behielt ich dann eine Abteilung für öffentliches Recht zusätzlich zur Wiedergutmachungs-Abteilung.)
Nichts Neues mehr von Bonn. Also der Genugtuungsversuch gescheitert?
Samstag, 10.5.1952. {. . .}[258] Früh Anruf Blankenhorn. Meinen einfachen Standpunkt erneut erklärt.
{. . .}[259]
Montag, 12.5.1952. Erstmals bei Renner: meine Abteilung soll außer der Wiedergutmachung auch das öffentliche Recht umfassen. Geht vielleicht. Die Wiedergutmachungs-Bediensteten findet er zu zahlreich; ich wundere mich ruhig. Ein Herr des Auswärtigen Amtes liest mir einen Brief Adenauers vor, wonach er zwischen Schäffer und mir vermitteln wolle. Ich solle aber auf alle Fälle am Mittwoch zu einer Ministerbesprechung kommen. Ich sage, das könne ich nur, wenn vorher vermittelt sei.
Dienstag, 13.5.1952. {. . .}[260] Nachmittags nach Bonn. Im Stern Prof. Böhm: „Morgen wird in der Sitzung des Kanzlers mit den beteiligten Ministern und den Finanzsachverständigen die Instruktion gegeben werden, daß wir den Israelis 150 Millionen jährlich bieten können; Schäffer wird nein sagen und überstimmt werden; und man wird dann dieses Ergebnis für einen Erfolg der Delegation erklären“. Er liest mir dann ein Exposé von 21 Seiten vor; recht gut im einzelnen, aber ob ich es hören wolle, hat er nicht gefragt; er ist ein bißchen zu verliebt in seine Aufgabe.
Mittwoch, 14.5.1952. Ich begleite Böhm früh nicht zur Bundeskanzlei, denn ich bin nicht etwa verständigt, daß die bereinigende Besprechung mit Adenauer und Schäffer, die ich zur Bedingung meiner Teilnahme an der 11 Uhr-Sitzung gemacht, wirklich angesetzt ist. In der Zwischenzeit stelle ich aus der Geschäftsordnung der Bundesregierung fest, wie es mit dem Überstimmen des Bundesfinanzministers tatsächlich steht. Böhm kommt zurück: „Wie immer, wenn Hallstein und Blankenhorn für mich schwer zu erreichen sind, steht es schlecht“. Ich soll nun eben mitkommen; man werde sehen, zu der Aussprache noch kurz Zeit zu finden. Ich lasse aber Böhm allein fahren; man möge mich förmlich über das Vorzimmer des Kanzlers bitten. Es erfolgt nichts, so wird 11, es wird ½ 12. Endlich ½ 12 ruft Blankenhorn inständig an, ich solle und müsse kommen, die Sitzung habe schon begonnen, der Kanzler, zugedeckt mit den Arbeiten am Generalvertrag und Lastenausgleich, habe keine freie Minute gefunden, er lasse mich dringend bitten, ohne Rücksicht auf den erklärten Rücktritt jedenfalls diesmal teilzunehmen. Die warme dringende Stimme betört meinen Gegeninstinkt. Vor der Bundeskanzlei ein Aufgebot von Luxuswagen, daß Seyerle die Augen übergehen. Drinnen große Versammlung: Adenauer, Blücher, Schäffer, Erhard, Dehler,[261] Abs inmitten der Bankwelt. Böhms Prophezeiung, mager wie sie war, übertraf doch die Wirklichkeit: Zwar „kann“ Abs 150 oder doch 100 Millionen in Waren transferieren, aber Schäffer „kann“ 100 Millionen nicht, auch nicht für den ganzen Haager Komplex insgesamt, im Inland aufbringen. Ausgeschlossen. Wenn die Juden Geld wollen, sollen es die Juden selbst aufbringen, indem sie eine amerikanische Anleihe zeichnen. Er habe das ja immer gesagt. Adenauer knickt vor Schäffer zusammen. Aus eigenem fügt er hinzu, eine Steuer zum Zweck der Wiedergutmachung wäre politischer Selbstmord: Welches Stichwort für die Opposition bei den Wahlen in 1 ½ Jahren. Niemand widerspricht. Den Israelis sollen wir also sagen, sie kämen am besten überhaupt erst im Herbst wieder, wenn durch einen erfolgreichen Abschluß der Londoner Verhandlungen unser Kredit wieder hergestellt sei. Abs ist im Grunde der einzige, der das nun auch von seinem Standpunkt zu mager findet: Er habe in London mit der Israel-Forderung operiert und müsse nun doch sagen, wie sie im Ernst zu veranschlagen. Führt aber zu nichts, wie auch die ganze Darlegung Böhms, zu deren Beginn Schäffer und die Seinen zu einer anderen Besprechung müssen. Von der CC will Adenauer vorerst überhaupt nichts hören. Er überläßt schließlich dem Lastenausgleich zuliebe Blücher das Feld, unter dessen bornierter Führung die 4-stündige Konferenz in süffisantem Achselzucken der (zurückgekehrten) Schäffer-Leute einer- und der Finanzmagnat [sic!] andererseits endet. Ich habe kein Wort gesagt. Nur im Abgehen bekenne ich das Gefühl brennender Scham, einem Volk anzugehören, dessen Regierung ihm bei einem Etat von 20 Milliarden nicht zuzumuten wagt, 100 Millionen für die Wiedergutmachung dieses Unrechts aufzubringen. (Dies dazu noch aus einer stupiden Angst vor der Opposition, für die in Wahrheit eine energetische Wiedergutmachung der einzige Punkt sein würde, den sie der Regierung nicht vorwerfe.) Blankenhorn erzählt mir dann noch zum Überfluß, die von uns entworfene Instruktion (für die Delegation), die dann angeblich den Kanzler nicht erreichte, habe dieser mit Bewußtsein nicht vollzogen, weil sie nicht der Kabinettslinie entsprach. Aber er ließ uns ruhig im Glauben, sie entspreche. Ich mache keinen Hehl aus der Vernichtung allen Vertrauens. Aber Böhm will wiederum warten, erst am Freitag werde ja die eigentliche Kabinettsentscheidung fallen. Ich reise ab und überrasche um 9.00 meine Frau mit meiner Ankunft und den desperaten Nachrichten. Die endgültige Absage noch einmal zu überschlafen, habe ich zugesagt.
– Adenauer dirigiert seinen Ministerialdirektor Blankenhorn wie eine aufwartende Ordonnanz zu den Vorhängen, die er zu- oder aufziehen muss. Dehler zu mir: „Wenn sie Ministerialdirektor geworden wären, müßten Sie das auch.“ Blankenhorn zu mir: „Die Beamten hier sind ja ganz unvorstellbar schwach.“
Donnerstag, 15.5.1952. Ich habe es mir in der Nacht nicht anders überlegt und entwerfe den Brief an Adenauer und die Pressenachricht. Aber dann ruft Hallstein an, dringt in mich, und müde und dem Instinkt entgegen kapituliere ich noch einmal – 48 Stunden Vertagung bis nach der Kabinettssitzung morgen, von der freilich Hallstein selbst keine Entscheidung erwartet. Nachmittags sagt mir Frau A. (Ministerialbeamtin), alles, was das Volk denkt, und daß Ehre im großen und ganzen eine müßige Angelegenheit sei – sie nicht gewahrt zu haben, rechne einem kaum einmal jemand nach.
{. . .}[262]
Sonntag, 18.5.1952. Gegen Abend ruft Böhm an: Nach einer desolaten Kabinettssitzung am Freitag,[263] die Adenauer ganz entglitt und sich so sehr auflöste, daß nicht einmal ein negativer Beschluß zustande kam, hat er sich nun auch, endlich, von der Unsolidarität des Spiels überzeugt. Er liest mir einen Brief vor, den er Adenauer geschrieben hat und nun zum Bahnhof bringen will. Er dankt darin für das Vertrauen; dankt man für das Vertrauen, man werde ein kluger Hampelmann sein? Im übrigen fürchtet er nicht ganz ohne Grund, daß eine zweite Garnitur Israels am Ende zu irgend einem Schacher bereit sein könnte. {. . .}[264]
Montag, 19.5.1952. {. . .}[265] Renner, 1 ½ Stunden, grundlegend. Ich berichte ihm auch über das Ende des Haager Mandats.
Bei B.; dazwischen die Anrufe der Nachrichtenagenturen. Meine Frau wollte mich, wäre ich nicht zu B. gegangen, ½ Stunde lang küssen. Die Buben sehr eifrig, gegen den Schäffer. Es ist wohl keine Täuschung – sie fühlen die Schande, das Fahrenlassen der großen und letzten Gelegenheit, wieder ehrlich zu werden.
Dienstag, 20.5.1952. Bonn. Mit Hirschfeld,[266] politischer Redakteur des Süddeutschen Rundfunks, beratschlagt, ob und wie der Öffentlichkeit noch weiterer Aufschluß zu geben. Wir kommen zum Ergebnis, daß man nicht schweigen darf und daß ein Geist und Ungeist an ihren Manieren erkannt werden. So spreche ich ein Referat, das einige der Geistesindizien enthält, sage, daß ich mit Zorn spreche, und gelange im Sprechen auch wirklich zu diesem Zorn. Bei der Abreise nach Bonn ist noch nicht entschieden, ob die Sendeleitung ihren eigenen Anteil am Risiko tragen will; einer der Berater des abwesenden Intendanten[267] ist dagegen. – Vormittags war bekannt geworden, daß auch Böhm zurückgetreten und daß Abs von London zurückberufen sei. Arndt[268]gratulierte telegraphisch, er ist von Schäffers Sabotageabsicht überzeugt. Böhms Presseäußerungen zu meinem Rücktritt sind recht geschickt. Freilich wird Abs nicht genügend positiv platziert. – Hier in der Landesvertretung. Ihr Wagen holt mich vom Bahnhof ab, wirkt eigentümlich als ein Freundschaftszeichen der Heimat.
Mittwoch, 21.5.1952. Die Herren im Korridor des Bundesrats bejahen mir fröhlich die Frage, ob ich gestern Abend nun eigentlich eine Rede gehalten. {. . .}[269]
Ich weiß, daß Böhm da ist, glaube aber, es ist besser, ich operiere kontaktlos. So versuche ich auch nicht, Arndt zu erreichen. Hirschfeld hatte übrigens vor allem die mögliche Nachrede bedacht, das hätten „der Maier und der Küster miteinander ausgeheckt“. Der Düsseldorfer Generalanzeiger[270] kommentiert unfreundlich: ob wir etwa Vertreter Israels seien? Künftig jedenfalls: ohne diese zwei. Frankfurter Allgemeine[271] und -Rundschau[272] sind (noch ohne Kenntnis meiner Rede) loyal.
Zu Hause: Meine Frau hat manche Anrufe erhalten, auch einen, die Jugend denke ganz anders, als ich meine. Böhm, meint sie, wirkte einen Grad vornehmer als ich. Nach den Abendnachrichten hat Adenauer Böhm noch einmal umgestimmt; er „bedauert“ meine Vorwürfe und will sie prüfen.
Donnerstag, 22.5.1952. Skizze einer wiedergutmachungspolitischen Erklärung der Landesregierung.
Die Buben wieder sehr munter für den väterlichen Zufallspolitiker interessiert; Gerold (17 Jahre) meint, jetzt tue es der Adenauer gerade mir zum Trotz; dann, sage ich, wäre ja erreicht, was ich wollte – mir zuliebe hätte er es ja bestimmt nicht getan.
Freitag, 23.5.1952. Freundlicher Salut der Studienrätin F., der alten Frau S., der Abgeordneten R.[273] (also Frauen),[274] Ostertag[275] (jüdischer Rechtsanwalt) bietet Unterschlupf, falls es mich meine hiesige Stelle kosten sollte. Nun, diese Gefahr ist noch nicht akut, solange man die CDU nicht doch noch in die Regierung hineingemaunzt haben wird. Renner – ich komme erstmals zu ihm in den Prinzenbau[276] – geht jedenfalls prächtig und kampffroh mit, als ich ihm das Landes-Wiedergutmachungsprogramm entwickele, diese Möglichkeit, gegenüber Bonn eine profilierte politische Position zu beziehen und zugleich unsere Geburtsschwierigkeiten hier etwas vergessen zu machen. Die Organisationsverordnung (4 Landesämter für die Wiedergutmachung) unterschreibt er.
Schäffer hat gestern Abend erwidert, unvornehm. Erwin (15 Jahre) am Telefon,[277] als Böhm anruft, ob Schäffer gesprochen habe. Wir haben das Manuskript, Erwin liest es Böhm vor, Böhm sagt, das sei doch ganz falsch dargestellt – er telefoniert es mir, meiner Frau tut es gut, daß ich einen Zeugen habe.
Samstag, 24.5.1952. Die Stuttgarter Zeitung bringt einen Leitartikel „Ehrenschuld“ und druckt unverkürzt mein Entlassungsschreiben ab.[278] Auch, daß es vom 7. Mai stammt; gestern war zu lesen gewesen, mein Entlassungsgesuch sei „sofort“ genehmigt worden.[279] {. . .}[280]
Frowein telefoniert, erkundigt sich, ob ich eigentlich Böhm grolle, ich verneine, sage aber, ich operiere lieber ohne psychischen Kontakt mit ihm. Ob ich ein Schreiben des Kanzlers über die „Annahme“ meines Rücktritts erhalten hätte. Über die beiden Rundfunk-Reden bedürfe es keines Kommentars.[281]
Montag, 26.5.1952. Bonn. Adenauers großer Tag: die Unterzeichnung des General- und des Überleitungsvertrags.[282] Viel Mißstimmung, ein großer Teil kommt auf Rechnung der Geheimbehandlung dieser Fundamentalangelegenheit. Der Bundesratspräsident (Kopf)[283] ist ausgeblieben. Reinhold Maier schließlich auf persönlichen Appell noch hergereist. Schulfeier gibt es aber auch bei uns nicht – die Lehrer, sagt unsere Regierung, seien wohl kaum in der Lage, den Vertrag zu würdigen, den selbst die Regierungen in seinem Inhalt nicht kennen.
Dienstag, 27.5.1952. Hauptausschuß Wiedergutmachung (des Bundesrats). {. . .}[284]
Fräulein Becker: Aber mit mir sprechen Sie nicht mit Zorn? Die Mehrheit stoße sich an meinem Vorgehen: ein bißchen viel Aplomb, ein bißchen indiskret. Nun, ich war sogar auf Geheimnisverrat gefaßt. Aber die Bonner Tonart ist: ein bißchen. – Über Mittag Arndt. Sieht wie ich, daß in Bonn jedes Rechtsproblem automatisch umgedacht wird in die Frage: Wieviel interessierte Wählerstimmen?
Mittwoch, 28.5.1952. Sonderausschuß Lastenausgleich {. . .}[285] (des Bundesrats). . . . Mit Ringelmann[286] (Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium) und Heukelum (Senator für Arbeit und damit auch für Wiedergutmachung in Bremen, Vorsitzender des Wiedergutmachungsausschusses des Bundesrats) spät zu Mittag gegessen, Ringelmann vergnügt über die 8 %ige bayerische Anleihe: Aber natürlich könne Schäffer das auch, wenn er wolle.
{. . .}[287]
Donnerstag, 5.6.1952. Der Minister unterschreibt den Entwurf einer Regierungserklärung zur Wiedergutmachung.
Freitag, 6.6.1952. Besuch von Dr. Reichmann {. . .},[288] London, vormals Zentralverein (der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens). Schäffer sei 1932 ihre Hoffnung gewesen. Freilich vielleicht auch nur ein Mann der Macht, der Gegner des überlegenen Machtkonkurrenten war.
{. . .}[289]
Mittwoch, 18.6.1952. Das Bundeskabinett hat beschlossen, Israel 3 Milliarden und Jahresraten von 200 Millionen zu bieten;[290] also genau das, was ich vorgeschlagen hatte. Vor 4 Wochen war das einerseits eine Unmöglichkeit, andererseits eine landesverräterische Zumutung. Meine Frau muß ich etwas trösten, daß nun, nach dem Sieg der rechten Sache, mein Name nicht genannt wird und man nur betont, im Unterschied zu Böhm werde ich „nicht auf meinen Posten zurückkehren“. Aber der Politiker ist im Punkt des Ruhms anders gestellt als etwa der Chirurg, dem es erstmals gelungen ist, jemand durch Entzweischneiden des Herzens das Leben zu retten. Ich bin zufrieden mit meinem Instinkt, der die auf jene andere Weise verlorene Situation als eine archimedische behandelte, cum passione, wie ich denke, nicht ex passione.
{. . .}[291]
Donnerstag, 26.6.1952. {. . .}[292] München. Referat im Finanzministerium, Lessing-Gesellschaft: Was sind wir Israel schuldig? Ich finde es ziemlich elend und bin froh, daß es nur die 250 Anwesenden hören, der Funk aber versagt; aber ich ernte viel freundliche Zustimmung, namentlich als ich sage, ich betrachte es (als Rechtsanwalt) zwar als Erfolg, wenn mein Klient für das Ausscheiden eines lästigen Teilhabers nur 60 000,– und nicht 100 000,– DM bezahlen muß; habe er aber einen Familienvater im Leichtsinn totgefahren, so sei ich nicht bereit, ihn über etwas anderes zu beraten, als was er der Witwe und den Waisen von Rechts wegen schuldig ist. {. . .}[293]
{. . .}[294]
Sonntag, 29.6.1952. Nach Kronberg, zu den Herren der (evangelischen) „Zusammenarbeit“. Ich berichte ¾ Stunden lang meine Erlebnisse bis zur Krise, und Weinkauff (Präsident des Bundesgerichtshofs),[295] Kost,[296] Friedrich[297] (Herren der Wirtschaft) und Thadden[298] (Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags) finden, daß Schäffers Schmähung meiner Person nicht beruhen könne: Thadden soll Ehlers[299] oder Heuss mobilisieren. Eine erfreulich feste Stimmung. Eberhard Müller[300] (Direktor der evangelischen Akademie Bad Boll) berichtet, er habe 3 Tage nach meinem Rücktritt Staatssekretär Lenz,[301] Adenauers innenpolitischen Rechercheur, aufgesucht und ihm unter Hinweis auf den Kirchentag gesagt, der evangelische Volksteil könne das Scheitern der Verhandlungen nicht hinnehmen. Ich lobe das sehr – das sei gerade das Richtige gewesen, ein Mann wie Lenz, bisher unbeteiligt, und der Wink mit dem Kirchentag, einem unabsehbaren Wählerpotential. Eberhard Müller stellt noch die „kritische Frage“: War Ihr Rücktritt nötig? Ich antworte, das werde ich am jüngsten Gericht erfahren, und verweise hilfsweise auf Archimedes.
{. . .}[302]
Samstag, 5.7.1952. Im Haag geht es viel langsamer als man glaubte. Es geht gewiß langsamer als mit mir; damit zu trösten, kann ich meiner erzürnten Frau nicht verwehren.
Montag, 7.7.1952. Den Minister wenigstens einmal ans Telefon bekommen. Die Wiedergutmachungserklärung der Landesregierung sei nicht zustande gekommen, aber er selbst will etwas erklären. Wackerer Mann, aber keine Hoffnung, daß etwas rechtzeitig, klar und in einem Stil herauskommt, der imponiert.
{. . .}[303]
Mittwoch, 9.7.1952. Bonn {. . .}[304] Abends der würdig-bescheidene, kluge Schönfeldt[305] (Deutschland-Direktor der CC), weiß, daß Adenauer „eine Wut auf mich habe“ („wer hat diesen schrecklichen Menschen denn überhaupt in die Delegation gebracht?“); und daß es im Haag mangels eines Sachverständigen nur zäh vorangehe.
Freitag, 11.7.1952. {. . .}[306] Stuttgart.[307] Sehr Halblebiges in den Zeitungen, um die ins Stocken geratene Wiedergutmachung wieder „etwas“ zu fördern, (so) soll Renners Erklärung gelautet haben.
Samstag, 12.7.1952. Man schickt mir eine argentinische Zeitung:[308] Ich hätte die antidemokratischen Kräfte nicht richtig eingeschätzt und sei auf der Strecke geblieben. Es fehlt nicht viel, und man wird für mich sammeln. {...}[309]
{. . .}[310]
Mittwoch, 10.9.1952. Unterzeichnung in Luxemburg, Telegramm von Josefsthal und Shinnar. Ich sagte gestern den Eheleuten S., in ein paar Jahren werde jedermann heilfroh darüber sein – wenn ihn seine Kinder fragen: nun ja, also bis 1945; aber was habt ihr dann eigentlich getan?
{. . .}[311]
Montag, 15.9.1952. Anruf Shinnars aus London, herzlich. – Möbus[312] (Ministerialdirektor des Justizministeriums Stuttgart), der am Samstag die Wiedergutmachung für mich etwas bestürzend einfach als „meine Lebensaufgabe“ bezeichnete, sagt heute am Ende mancher Erwägungen still und wacker: Es bleibt eine Schande.
{. . .}[313]
Samstag, 4.10.1952. {. . .}[314] Renner: was eigentlich Gebhard Müller[315] gegen mich habe? Darauf hat mich auch Hans Lenz[316] (der spätere Bundesbildungsminister) gestern angesprochen: Müller erzähle überall, erstens ich sei Sozialdemokrat, zweitens ich vergeude die Steuergroschen durch unmäßige Leistungen an die Juden. {. . .}[317]
{. . .}[318]
Donnerstag, 16.10.1952. {. . .}[319] Abends mit Schönfeldt wie schon einmal im Adler in Godesberg. Sinnt darauf, mich mit Schäffer zu versöhnen.
{. . .}[320]
Sonntag, 26.10.1952. {. . .} Gegen Abend Rudolf Rahn[321] (Botschafter a.D., außenpolitischer Berater der FDP). Von der Politik, die nach Rahn keine Moralübung sei (betrifft mein Eintreten für den Israel-Vertrag), ohne daß ich die Rückwirkungen auf unsere Orient-Situation bedacht hätte. {. . .}[322]
{. . .}[323]
Donnerstag, 13.11.1952. Bonn. {. . .}[324] Frowein besucht; in bester Stimmung wieder angeknüpft. „Sie haben ja damals die Fahne verlassen.“ „Aber ich denke, die Truppe gestärkt zurückgelassen.“ „Ja, das gewiß.“ Schäffer habe sich in der Kabinettssitzung, die bis 2 Tage vor der Unterzeichnung in Luxemburg hingeschoben wurde, überstimmen lassen, ohne von seinem aufschiebenden Veto Gebrauch zu machen. In Luxemburg habe dann Adenauer, während im Zeremoniellen weniger als das Minimum geschah, durch den Ernst seiner persönlichen Haltung einen gewaltigen Eindruck gemacht und seine israelischen Partner bewegt, ja erschüttert. Also offenbar dieselbe Art, durch die er Böhm und mich für die Sache gewann. Wir sind uns einig, daß er ein Rätsel ist. {. . .}[325]
Freitag, 14.11.1952. Bonn. Böhm hat mit Recht festgestellt, daß die deutsche Öffentlichkeit viel zu wenig erklärt bekommen habe, um auf den deutsch-israelisch-arabischen Dreieckskonflikt sachgemäß reagieren zu können. So schreibe ich in der Landesvertretung etwas über aut poena aut satisfactio, bringe es aber beim NWDR nicht an.[326]
{. . .}[327]
Montag, 17.11.1952. {. . .}[328] Süddeutscher Rundfunk: aut poena aut satisfactio. Aus den gestrigen Tacitusstudien mit Gerold (dem ältesten Sohn) beigesetzt: recipitque statisfactionem universa domus.[329] Israel/Arabien: Es sei das Gespräch in der Eisenbahn, sagt der Funkmann. {. . .}[330]
{. . .}[331]
Freitag, 21.11.1952. Frankfurt. Prof. Böhm in den Frankfurter Hof geholt, später bei ihm zu Mittag gegessen. Wohl die rechte Stunde für die Wiedervereinigung. Auch meine Frau[332] ist durch das stotternd bezeugte Gewissen des klugen, gerechten Mannes nun wohl ganz versöhnt. {. . .}[333]
{. . .}[334]
Freitag, 13.2.1952. {. . .}[335] Einladung von Ehlers an Koalitionspolitiker und Kirchenmänner nach Königswinter ins Adam-Stegerwald-Haus. Eberhard Müller hat mich belehrt, ich figuriere als Kirchenmann. Ludwig Raiser[336] ist da; er ist der Widerpart für den Redner des Abends, Tillmanns,[337] der geläufig, doch nicht unsympathisch spricht. Ludwig Raiser ist für mich ein Mann, der aus einer Art schwermütiger Unzufriedenheit unter beliebigen Bedingungen hadernd reagiert; andererseits hat er recht zu sagen, daß die Verdrossenheit, nach deren Gründen gefragt wird, mit dem Mangel an Menschenstimme von der Regierungsseite her zusammenhängt. Tillmanns räumt mit schöner Gradheit ein, das sei dem Kanzler in der Tat nicht gegeben. Strauß (Staatssekretär im Bundesjustizministerium) ist mit mir erfreut, welche Hilfe die Ägypter dem Israel-Abkommen leisten, indem sie geradezu eine Emser-Depeschen-Atmosphäre schaffen. {. . .}[338]
{. . .}[339]
Freitag, 20.2.1953. {. . .}[340] Der Bundesrat . . . Der Israel-Vertrag ist geräuschlos durchgegangen. Daß unsere Schiffe unsere Flagge nicht zeigen dürfen, war der einzige Anstoß. Die FAZ feierte gestern ein obskures Bonds-Projekt einer obskuren Gruppe in 50 Zeilen der ersten Seite; heute spricht sie vom „Reparationsabkommen“.[341] {. . .}[342]
{. . .}[343]
Freitag, 20.3.1953. {. . .}[344] Der Israel-Vertrag ist mit einer imponierend überparteilichen Mehrheit gegen eine überparteiliche Minderheit verabschiedet und heute wohl im Bundesrat endgültig gutgeheißen worden. {. . .}[345]
Samstag, 21.3.1953. {. . .}[346] Shinnar ruft zum Jahrestag des Verhandlungsbeginns an.
{. . .}[347]
Freitag, 27.3.1953. {. . .}[348] ... Im Bundestags-Restaurant lehnt Kuschnitzky (Bundesfinanzministerium) schroff ab, mit Fräulein Becker (Bundesjustizministerium) an einem Tisch zu sitzen. Auch Froweins vollendeten Manieren gelingt es nicht, die Vereisung zu schmelzen. „Man hat Kinderstube oder nicht.“ Ich bleibe bei der brüskierten Dame und studiere die Vorakten. Die hat sich nun also noch mehr als ich der Wiedergutmachung wegen Verunglimpfung zugezogen. {. . .}[349]
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