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Rudolf Morsey (1927–2024)

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Published/Copyright: October 1, 2024

Mit dem Tod von Rudolf Morsey am 14. Mai 2024 verliert die deutsche Zeitgeschichtsforschung den letzten herausragenden Vertreter der Generation, die in den 1950er Jahren ihre wissenschaftliche Laufbahn begonnen hat. Doch ist der Begriff Zeitgeschichte für seine Forschungsschwerpunkte zu eng. Außer späteren Studien zur Säkularisation 1803, zur Geschichte des politischen Katholizismus, zum Kulturkampf, zu Ludwig Windthorst galt auch seine erste Buchveröffentlichung 1957 dem 19. Jahrhundert: „Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867–1890“. Noch nach fast 70 Jahren ist diese grundlegende Dissertation im Wesentlichen nicht überholt. Bereits dieses Urteil führt zum Kern seiner gesamten wissenschaftlichen Arbeit: Sie profitierte gleichermaßen von einer intimen Kenntnis der einschlägigen Forschungsliteratur, vom reflektierten methodischen Zugang zu seinen Themen, der Klarheit von Disposition und Darstellung. Vor allem aber war schon sein erstes Buch wie die meisten späteren Studien in seltenem Ausmaß quellen- und archivgestützt. Durch akribische, ebenso kritische wie intensive Quellenorientierung bleiben Rudolf Morseys Forschungsarbeiten haltbar und überdauern die Moden des Fachs. Nicht zufällig trug ein früher Zeitungsartikel von ihm den Titel: „Was bleibt, steht in den Akten“.[1]

Rudolf Morsey war als Forscher buchstäblich unglücklich, wenn er nicht in Archiven unbekannte Quellen aufspüren konnte. Selbst bei seinen zahlreichen Reisen zu Sitzungen, die er stets gut vorbereitet mit großem Pflichtgefühl absolvierte, nahm er jede Gelegenheit wahr, in Archiven einige Stunden zu arbeiten. Zur Ruhe kam er nur, wenn alle Archive geschlossen waren – doch dann hatte er durchaus Sinn für guten Pfälzer Wein und Gespräch, konnte sich seiner Frau und seinen vier Kindern widmen sowie, nicht zu vergessen, seinem parkähnlichen Garten im pfälzischen Geinsheim. Nach Sitzungen sprach er auch über Fußball, beispielsweise „seinen“ damaligen Verein, den 1. FC Kaiserslautern, oder über (schnelle) Autos, deren rasante technische Fortschritte den begeisterten Autofahrer interessierten.

Nach langen Sitzungen und zügig absolviertem Essen wollte der große, schlanke, sportlich-elegante Herr meist noch mit schnellen Schritten einen längeren Spaziergang machen, auch wenn es inzwischen dunkel war – so erinnere ich mich an etliche Spaziergänge im abendlich-nächtlichen Bonner Hofgarten. Stets zeichnete ihn Selbstdisziplin aus, was seinem Auftreten eine gewisse Strenge verlieh. Die menschliche Seite – seine unbedingte Zuverlässigkeit, Loyalität, Hilfsbereitschaft und sein Gerechtigkeitssinn – trat dadurch etwas in den Hintergrund.

Seit ich Rudolf Morsey 1973 in der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien während der Arbeit an meinem Buch „Parlamentarismus in Preußen 1919–1932“ in Bonn kennenlernte, danach immer häufiger mit ihm kooperierte und fünf Jahrzehnte freundschaftlich-kollegial mit ihm verbunden blieb, habe ich nicht allein seine großen wissenschaftlichen, sondern ebenso seine menschlichen Qualitäten schätzen gelernt. Von seiner enormen, selbstlos beigesteuerten Sachkenntnis hat auch das genannte Buch profitiert.

Mit dem Institut für Zeitgeschichte hat Rudolf Morsey viele Jahrzehnte zusammengearbeitet und sich in unterschiedlichen Bereichen große Verdienste erworben. Seine ersten Aufsätze in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte erschienen 1960 und 1961.[2] Sie reichten von „Hitler als braunschweigischer Regierungsrat“, dessen Verhandlungen mit der Zentrumsführung am 31. Januar 1933, bis zu späteren Studien zur Geschichte der Bundesrepublik, insbesondere zu Konrad Adenauer: Zu seinen Klassikern zählte etwa der Beitrag über die Rhöndorfer Weichenstellung am 21. August 1949, wo er mit neuen Quellen autobiografische Sichtweisen korrigierte – auch die Selbsteinschätzung von Franz Josef Strauß, der Morseys persönliche Mitteilungen etwas unwillig zur Kenntnis nahm.

Dem Wissenschaftlichen Beirat des IfZ gehörte Rudolf Morsey zunächst von 1978 bis 1998 als ordentliches Mitglied und danach als Ehrenmitglied an, insgesamt also 46 Jahre. In dieser Zeit beteiligte er sich intensiv an den Beratungen und trug außerdem durch zahllose Gutachten zur Qualität vieler Projekte und Veröffentlichungen bei.

Rudolf Morsey war Mitherausgeber des großen Institutsprojekts der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ und wirkte bis 2004 an der Vorbereitung der ersten 36 Bände (1993–2004) dieser monumentalen Aktenedition mit. Bei der Beratung der Vorlagen der wissenschaftlichen Mitarbeiter über Quellenauswahl und Kommentierung im Herausgebergremium erwies sich Morseys Sorgfalt als ebenso unübertrefflich wie im Korrekturlesen – gegen ihn hatte der Druckfehlerteufel keine Chance. Oft waren wir anderen Herausgeber überrascht, wenn er Texte entlegener Quellen in den Kommentaren korrigierte und auf die Frage: „Woher wissen Sie denn das?“ knapp antwortete: „Ich habe es nachgeprüft.“

Kaum bekannt ist, dass Rudolf Morsey vor Beginn seiner großen wissenschaftlichen Laufbahn viele Dutzend Artikel und Rezensionen für Zeitungen geschrieben hat, seit 1949 unter anderem in den in Münster erscheinenden Westfälischen Nachrichten. Diese Beiträge lassen zwar einige seiner späteren Schwerpunkte erkennen, doch gehen sie thematisch weit darüber hinaus. Sein prägnanter, schnörkelloser und sehr gut lesbarer Stil, schließlich die Informationsdichte seiner Darstellungen, in denen nie ein Wort zu viel steht, bildete sich schon damals. Die Thematik seiner frühen journalistischen Tätigkeit reicht von Wallfahrten in der Antike, dem Konzil von Trient bis zu zahlreichen anderen kirchengeschichtlichen Themen. Deutlich wird sein schon damals bestehendes Interesse an der Geschichte der Görres-Gesellschaft, doch fehlen auch biografische Porträts über Historiker und Politiker nicht, beispielsweise über Friedrich Ebert oder Walther Rathenau; auch Beiträge zur westfälischen Wissenschaftsgeschichte und zu anderen Themen finden sich.

Mit seiner Heimat blieb der 1927 in Recklinghausen geborene katholische Westfale zeitlebens auch in seiner wissenschaftlichen Thematik verbunden, das galt insbesondere für Münster, wo er – wie lange vorher Heinrich Brüning – am berühmten Paulinum 1947 das Abitur bestand. Zuvor war Rudolf Morsey brutal mit der zeitgeschichtlichen Entwicklung konfrontiert worden, wurde er doch bereits als Jugendlicher zum Kriegsdienst eingezogen und musste anschließend die amerikanische Kriegsgefangenschaft in den berüchtigten Rheinwiesen-Lagern erleiden, wo mehrere Tausend deutsche Soldaten vor allem an Krankheit und Hunger starben.

Im Wintersemester 1948/49 konnte Rudolf Morsey das Studium in seiner Heimatstadt Münster aufnehmen und wurde 1955 bei Kurt von Raumer mit der erwähnten Untersuchung zur obersten Reichsverwaltung promoviert. Georg Schreiber, der bedeutende katholische Kirchenhistoriker an der Universität Münster, Reichstagsabgeordneter und Kulturpolitiker der Zentrumspartei in der Weimarer Republik, war sein wichtigster Förderer. Anschließend wurde Morsey Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien in Bonn, wo er sich 1965 unter der Ägide von Max Braubach habilitierte und bald darauf einen Ruf auf einen Lehrstuhl an der Universität Würzburg erhielt, wo er von 1966 bis 1970 blieb. Von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1996 war er Ordinarius an der damaligen Verwaltungshochschule in Speyer, an der zahlreiche bedeutende Juristen lehrten, darunter der spätere Bundespräsident Roman Herzog. Diese Berufung war insofern konsequent, als Rudolf Morsey unter den führenden deutschen Historikern der einzige mit einem ausgeprägten Schwerpunkt in der Verwaltungsgeschichte war, zu der er auch nach seiner Dissertation immer wieder wichtige Studien beisteuerte.

Es war angesichts dieses Forschungsinteresses kein Zufall, dass er zu den nicht zahlreichen Gelehrten gehörte, die – jeder Egozentrik abhold – ausgesprochen institutionell dachten und handelten. Schon deshalb nahm er eine Fülle von Nebentätigkeiten in wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen wahr, nicht allein als Mitglied, sondern in zeitaufwendigen Leitungsfunktionen. Speyer und der Pfalz blieb Rudolf Morsey selbst dann treu, als er später den Ruf auf einen der renommiertesten Lehrstühle für Neuere Geschichte, denjenigen Theodor Schieders in Köln, erhielt.

Die wohl wichtigste wissenschaftsorganisatorische Leitungsaufgabe erfüllte er dreißig Jahre lang als Präsident der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der Politischen Parteien von 1968 bis 1998, wo er stets einstimmig wiedergewählt wurde. Die Kommission hat er wie kein Zweiter geprägt, insbesondere durch zahlreiche maßstabsetzende Editionen zur Geschichte der politischen Parteien, die für Forschungen zu den Parteien und zum Parlamentarismus seit dem Ersten Weltkrieg unentbehrlich sind und seit Langem einen Schwerpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik haben. Er selbst hat vorbildliche Editionen beigesteuert, zum Teil in enger Zusammenarbeit mit dem 1983 tödlich verunglückten, in Charakter und politischer Haltung so ganz verschiedenen Mannheimer Historiker Erich Matthias – einer der vielen Belege für Morseys Sachbezogenheit in der wissenschaftlichen Arbeit. Sie äußerte sich auch in der hohen Anerkennung für Matthias in seinem Nekrolog in der Historischen Zeitschrift.[3]

Auch in anderen Organisationen nahm Rudolf Morsey Leitungsfunktionen ein, so als langjähriger Vizepräsident der Görres-Gesellschaft (wo er Mitherausgeber der siebten, völlig neu bearbeiteten Auflage des „Staatslexikons“ war), in der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf, in der von ihm 1962 mitgegründeten Kommission für Zeitgeschichte (ursprünglich an der Katholischen Akademie in Bayern, München, später in Bonn) oder als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen von 1982 bis 1985. Kein Zufall war es, dass zur Feier seines 90. Geburtstags nicht weniger als sechs Institutionen nach Bonn ins Haus der Geschichte der Bundesrepublik einluden, dessen Beirat er ebenfalls lange angehört hatte. Überdies war Morsey Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wo er zeitweise eine Abteilung leitete, sowie der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften.

In all diesen Gremien war Rudolf Morsey als Organisator, Gutachter und Berater sehr gefragt. Vielen Historikern – insbesondere jüngeren – gab er nach eingehender Prüfung ungezählte Hinweise zu ihren Manuskripten und trug so dazu bei, sie publikationsreif zu machen. Hinzu kam seine sorgfältige Herausgeber- oder Mit-Herausgeberschaft in mehreren Schriftenreihen, darunter der von ihm gegründeten „Zeitgeschichte in Lebensbildern“, zu der er selbst zahlreiche Porträts beitrug. Schließlich war er maßgeblich an der Erarbeitung bedeutender Quelleneditionen beteiligt, darunter den gemeinsam mit Hans-Peter Schwarz herausgegebenen 19 Bänden der Rhöndorfer Adenauer-Ausgabe. Für die Konrad-Adenauer-Stiftung wirkte er als Mitherausgeber von insgesamt 57 Bänden der „Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte“.

Hätte er nichts anderes gemacht, wären seine vielfältigen Leistungen für die Geschichtswissenschaft schon unschätzbar genug gewesen, zu Recht hat er dafür hohe Auszeichnungen erhalten, darunter einen Ehrendoktor der Universität Eichstätt, das Große Bundesverdienstkreuz, den Staatspreis des Lands Nordrhein-Westfalen, das Komturkreuz mit Stern des päpstlichen Gregoriusordens, den Ehrenring der Görres-Gesellschaft. Die Basis all der editorischen, herausgeberischen und organisatorischen Leistungen bildete indes sein persönliches wissenschaftliches Œuvre von enormem Umfang und substantiellem Rang. Bis in seine letzten Lebensjahre hinein betrieb er selbst intensive Quellenforschung, publizierte unentwegt, wie es nur wenige Kollegen vermochten. Wie konnte er das schaffen? Mit ungeheurer Selbstdisziplin, unersättlicher wissenschaftlicher Neugier, Leistungsbereitschaft und Pflichtbewusstsein. Urlaub war für ihn ein Fremdwort, Pension mit 65 Jahren hätte er als Pflichtverletzung verstanden: Emeritierung und Abgabe von Ämtern bedeuteten für ihn nur, Zeit für eigene Forschung zu gewinnen.

Sein Schriftenverzeichnis umfasst für die Jahre 1949 bis 2017 unter Einschluss seiner zahlreichen Rezensionen insgesamt 1339 Titel.[4] Rudolf Morsey als Rezensent – was zeigt dieser Teil seiner Veröffentlichungen? Zuallererst belegen die Rezensionen, wie sehr er in seinen Forschungsschwerpunkten am Ball blieb, außerdem seine Prägnanz: Ohne Umschweife legte er dar, worin es in dem rezensierten Buch ging, nannte knapp die Vorzüge und Erkenntnisse, aber ebenso die Schwächen. Rudolf Morsey war als Rezensent gefürchtet: Nicht selten endete die Besprechung mit einem Register von Fehlern, gelegentlich auch mit dem Hinweis, eine verbesserte Neuauflage sei überflüssig, man solle das Buch aufgrund seiner vielen Fehler einstampfen. Das war weder Polemik noch Beckmesserei, vielmehr war sein Urteil immer sachlich begründet.

Doch sind die Rezensionen selbstverständlich nicht der entscheidende Teil seines Werks. Vielmehr stehen neben den erwähnten eigenen zeitgeschichtlichen Editionen zahlreiche Monografien und viele hundert Aufsätze, die wie seine Bücher immer mit neuen, weiterführenden Quellenerschließungen aufwarteten – insgesamt also ein unglaublich umfangreiches und gehaltvolles Œuvre.

Rudolf Morsey hat das 20. Jahrhundert mit seinen Forschungsschwerpunkten von den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Jahrhunderts durchmessen. Er war der führende Historiker der Geschichte des politischen Katholizismus in Deutschland, dessen große Werke zur Geschichte der Zentrumspartei in der Weimarer Republik unentbehrlich bleiben: „Die Deutsche Zentrumspartei 1917–1923“ (1966), „Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen christlichem Selbstverständnis und ‚Nationaler Erhebung‘ 1932/33“ (1977), die zwei stattlichen Bände der „Protokolle der Reichstagsfraktion und des Fraktionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei“ von 1920 bis 1925 (mit Karsten Ruppert) beziehungsweise von 1926 bis 1933, erschienen 1969 und 1981. Dabei bettete Rudolf Morsey seine spezielleren Untersuchungen, beispielsweise die zur Zentrumspartei, stets in größere zeitgeschichtliche Zusammenhänge ein. So tragen diese Bände unter anderem zur Erkenntnis über Koalitionsbildungen und Koalitionsbrüche in der Weimarer Republik, also zentrale Probleme ihrer Instabilität, erheblich bei.

Rudolf Morsey entdeckte und veröffentlichte 1975 das frühe, bis dahin vergessene wahlsoziologische Pionierwerk des jüngsten Reichstagsabgeordneten der Zentrumspartei, Johannes Schauff (eines der wichtigsten Organisatoren der Emigration Verfolgter aus NS-Deutschland): „Das Wahlverhalten der deutschen Katholiken im Kaiserreich und in der Weimarer Republik“ (1928). Über Johannes Schauff, mit dem er bis zu dessen Tod in enger Verbindung stand, veröffentlichte er mehrere Aufsätze. Mit Erich Matthias publizierte er den ebenfalls grundlegenden Band „Das Ende der Parteien 1933“ (1969, 2. Aufl. 1979) und erwies sich in diesen Werken sowie zahlreichen weiteren Studien als einer der besten Kenner des Weimarer Parteiensystems, zu dessen Erforschung er in wichtigen Bereichen die Grundlagen schuf.

Über die nationalsozialistische Diktatur veröffentlichte er nicht allein eine vorzügliche, mehrfach aktualisierte Dokumentation zum „‚Ermächtigungsgesetz‘ vom 24. März 1933“, sondern unter anderem auch zwei Bände über einen bis dahin nahezu vergessenen katholischen Publizisten: „Fritz Gerlich – ein Publizist gegen Hitler. Briefe und Akten 1930–1934“ (2010) sowie eine umfangreiche, um 1900 einsetzende Biografie „Fritz Gerlich 1883–1934. Ein früher Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus“ (2016). Dabei untersuchte er die Tätigkeit Gerlichs als Hauptschriftleiter der Münchner Neuesten Nachrichten, der zeitweilig den Nationalsozialismus unterstützte, bis er bald zu dessen entschiedenem Gegner wurde und eine eigene, diesen bekämpfende Zeitschrift – Der gerade Weg – herausgab. Morsey stellte eindringlich die religiöse Wandlung des vom Calvinismus zum Katholizismus Konvertierten sowie sein späteres Schicksal bis zur Inhaftierung und Ermordung im KZ Dachau dar. Diese Bücher bilden Beispiele für Morseys Neigung, vergessenen oder verfemten Persönlichkeiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen – und Biografien nicht auf die Großen der Geschichte zu beschränken.

Der Görres-Gesellschaft widmete Rudolf Morsey zwei Monografien: „Görres-Gesellschaft und NS-Diktatur. Die Geschichte der Görres-Gesellschaft 1932/33 bis zum Verbot 1941“ (2002). 2009 stellte er ihre Geschichte an Schlüsselstationen und Persönlichkeiten dar: „Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Streiflichter ihrer Geschichte“. Wie viele biografische Porträts und kleinere Studien bilden diese Arbeiten einen eigenen Zweig seiner Arbeit, nämlich Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Zu ihnen zählt auch ein Band über seinen frühen Förderer „Georg Schreiber (1882–1963). Ein Leben für Wissenschaft, Politik und Kirche vom Kaiserreich bis zur Ära Adenauer“ (2016).

Einen guten Einblick in die thematische und methodische Spannweite von Rudolf Morseys wissenschaftlichem Œuvre bietet der fast 900-seitige Band mit einer (kleinen) Sammlung seiner wichtigen Beiträge: „Von Windthorst bis Adenauer. Ausgewählte Aufsätze zu Politik, Verwaltung und politischem Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert“ (1997). In diesen Band sind unter anderem mehrere Studien über Heinrich Brüning aufgenommen, den Morsey an dessen Wohnsitz im nordamerikanischen Vermont besucht hatte. Zu den Glanzstücken historisch-kritischer Quellenkritik gehört Rudolf Morseys Studie „Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brünings ‚Memoiren 1918–1934‘“ (1975). Schon damals wies er die Wege für die kritische Edition der Brüning-Memoiren, die vor dem Abschluss steht. Lange zählte die durch Brünings Mitarbeiterin Claire Nix verfälschte Veröffentlichung zu den für die Erforschung der Auflösung der Weimarer Republik wichtigen Erinnerungen aus der Feder eines Spitzenpolitikers.

Rudolf Morsey, zu dessen Schwerpunkten die parteigeschichtliche und parlamentarische Demokratieforschung zählte, war einer der ersten Historiker, die intensiv und quellenbasiert die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bearbeiteten. Hierzu steuerte er nicht allein zahlreiche Porträts bei, vor allem über Konrad Adenauer, sondern neben vielen Quellenveröffentlichungen eine umfangreiche Biografie über den zweiten Bundespräsidenten Heinrich Lübke (1996). Auch dieses Werk zeichnet sich durch alle Tugenden des Autors aus, zudem durch einen keineswegs unkritischen Gerechtigkeitssinn gegenüber dem in der ersten Amtszeit durchaus respektablen, in der zweiten indes durch Krankheit gezeichneten Heinrich Lübke. Fairness belegt übrigens auch Rudolf Morseys vorzüglicher Aufsatz „Der Bundespräsident in der Kanzlerdemokratie. Amtsverständnis, Amtsführung und Traditionsbildung von Theodor Heuss bis Walter Scheel (1949–1979)“, der beispielsweise sowohl Gustav Heinemann als auch Walter Scheel mit einfühlsamer Noblesse darstellt. Bisher existiert – von Theodor Heuss abgesehen – über keinen anderen Bundespräsidenten eine derart gründliche und umfassende quellenbasierte Biografie wie die Rudolf Morseys über Lübke, obwohl dieser nicht zu den bedeutendsten Bundespräsidenten gehört.

Verdiente das biografische Œuvre Rudolf Morseys eine umfassendere Würdigung,[5] so muss angesichts der Fülle der Quellenforschungen und thematisch konzentrierten Studien hervorgehoben werden: Rudolf Morsey besaß ebenso die Fähigkeit zur knappen, aber thematisch umfassenden Synthese. Sein Studienbuch „Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969“ (5., durchgesehene Aufl. 2007) in Oldenbourgs „Grundriss der Geschichte“ stellt detailsicher und forschungskompetent mit souveräner Meisterschaft die zentralen Entwicklungen und Probleme dar, klar in Sprache und Argumentation, objektiv im Urteil. Und auch in diesem Werk zeigt sich wieder: So fest Rudolf Morsey in seiner persönlichen Wertorientierung verankert war, im geschichtswissenschaftlichen Urteil blieben seine Maximen unbeirrt die Sachbezogenheit und Objektivität. Nie habe ich es erlebt, dass persönliche Vorlieben die Unbestechlichkeit seines Urteils getrübt hätten. So bleibt der große Historiker auch menschlich vorbildhaft. Seine noch unveröffentlichten Erinnerungen tragen den treffenden Titel „Erlittene, erlebte und erforschte Zeitgeschichte. Ein schlichter Lebensbericht“.

Online erschienen: 2024-10-01
Erschienen im Druck: 2024-09-30

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 21.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2024-0042/html
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