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Waren Österreicher unter nationalsozialistischen Tätern überrepräsentiert?

Versuch einer Synthese
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Published/Copyright: October 1, 2024

Abstract

1966 richtete Simon Wiesenthal ein Memorandum an die österreichische Bundesregierung. In diesem Papier behauptete er – freilich ohne dies empirisch zu untermauern – eine starke Über¬re¬präsentation von Österreichern unter NS-Tätern. Es ging Wiesenthal darum, verstärkte Be-mü¬hungen zur Strafverfolgung belasteter Personen in Österreich zu bewirken. Das gelang ihm nicht. Allerdings setzte sich Wiesenthals These von der österreichischen Überrepräsentation in der Wissenschaft und Publizistik durch und zog sich wie ein roter Faden durch die Fachliteratur und populärhistorische Darstellungen. In dem vorliegenden Beitrag überprüft und bewertet Kurt Bauer anhand der Analyse verschiedener Tätergruppen und Tatkomplexe die Validität dieser Aussage. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil an Österreichern unter NS-Tätern ungefähr dem Bevölkerungsanteil der sogenannten Ostmark am Deutschen Reich entsprach.

Abstract

In 1966, Simon Wiesenthal addressed a memorandum to the Austrian federal government. In this paper, he claimed – admittedly without empirical evidence – that Austrians had been strongly overrepresented among Nazi perpetrators. Wiesenthal’s aim was to intensify efforts to prosecute incriminated persons in Austria. While he did not succeed in this endeavor, his thesis of Austrian overrepresentation prevailed in academia and journalism and became a recurring theme in both specialist literature and popular historical depictions. In this article, Kurt Bauer examines and evaluates the validity of this statement by analyzing various groups of perpetrators and criminal complexes. He concludes that the proportion of Austrians among Nazi perpetrators roughly corresponded to the share of population of the so-called Ostmark within the German Reich.

I. Von der Opfer- zur Täterthese

Die großen Kontroversen über eine „Vergangenheit, die nicht vergehen will“,[1] waren in der Bun­­desrepublik Deutschland in der Regel Dispute zwischen Gelehrten und geschichts­in­ter­es­sier­­ten Publizisten.[2] Man denke nur an die sogenannte Fischer-Kontroverse über die Ver­ant­wor­tung des Deutschen Reichs am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die deutschen Kriegsziele,[3] den „Historikerstreit“ über den historischen Ort des Holocaust in der deutschen Geschichte,[4] die Goldhagen-Debatte um „Hitlers willige Vollstrecker“[5] oder die Auseinandersetzung um die Stu­die „Das Amt und die Vergangenheit“.[6] Anders in Österreich: Hier spielten sich die ge­schichts­politischen Deutungs­kämpfe zumeist auf der Ebene der großen Politik ab – freilich unter reger Mitwirkung von Historikern, Journalisten und sonstigen Intellektuellen – und trugen ei­ne ausgesprochen (partei-)politisch-ideologische Punzierung. Während beispielsweise in der Bundesrepublik 1986/87 Professoren medienwirksam über die Singularität des Holocaust stritten, wuchs sich in Österreich zur selben Zeit die Affäre um die Kriegsvergangenheit des früheren Ge­neralsekretärs der United Nations (UN) und nunmehrigen Bundespräsidenten Kurt Wald­heim zu einer regelrechten Staatskrise aus, die – retrospektiv betrachtet – einen wichtigen Wen­­de­punkt in der Geschichte der Zweiten Republik markierte.

Der unterschiedliche Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden Nachfolgestaaten des Dritten Reichs hat tiefe historische Wurzeln. Erinnert sei nur an die „Moskauer Deklaration“ der drei alliierten Mächte vom 30. Oktober 1943: Österreich sei als „erste[s] freie[s] Land“ der Ag­gression Hitlers zum Opfer gefallen und solle als unabhängiger Staat wiederhergestellt wer­den.[7] Trotz einiger Einschränkungen im Text der Erklärung bot sich damit eine einmalige Chan­ce, die Mitverant­wortung an den Verbrechen des NS-Staats abzustreifen und sich auf die ei­ge­ne Opferrolle zurückzuziehen. In späteren Jahren sollte Österreichs Status als erstes Opfer Hitlers un­ter anderem dazu gut sein, Forderungen nach Entschädigung und Wiedergut­machung ab­zu­schmet­tern oder auf die lange Bank zu schieben.[8]

Die unmittelbare Nachkriegszeit war von einer parteiübergreifenden antifaschistischen Grund­hal­­tung geprägt gewesen. Aber nachdem mit dem „Nationalsozialistengesetz“ von 1947[9] fast ei­ne halbe Million minderbelasteter Nationalsozialisten wieder das Wahlrecht erlangt hatten und damit für die Großparteien als Wählerinnen und Wähler interessant geworden waren, voll­zog sich ein Rich­tungs­wechsel. Nun galt es, die „Ehemaligen“ zu integrieren, sich an den Wie­der­aufbau zu machen und einen Schlussstrich unter die unerfreuliche Vergangenheit zu zie­hen.[10] Mit dem Heranreifen einer vom Nationalsozialismus persönlich nicht mehr belasteten Ge­­ne­ration – den sogenannten Achtundsechzigern – setzte ein langsames Umdenken ein. Die Ent­­rüs­tung über den Umgang der österreichischen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit speiste sich nicht zuletzt aus einer Reihe von Gerichtsverfahren, bei denen es zu empörenden Frei­­sprü­chen gekommen war. Österreichische Gerichte verurteilten von Mitte der 1950er bis Mit­te der 1960er Jahre nur 13 Personen rechtskräftig wegen NS-Verbrechen. Das waren nicht ein­mal vier Prozent der insgesamt in Westdeutsch­land und Österreich Verurteilten.[11]

Das lasche Vorgehen der österreichischen Justiz veranlasste Simon Wiesenthal, Leiter des Do­ku­mentationszentrums des Bunds Jüdischer Verfolgter des Naziregimes, im Oktober 1966 zu einem Memorandum an die österreichische Bundesregierung mit dem Betreff: „Schuld und Sühne der NS-Täter aus Österreich“. Der als „Eichmanns Jäger“[12] international bekannt gewordene Ho­lo­caust-Überlebende Wiesenthal konfrontierte Bundeskanzler Josef Klaus (Österreichische Volks­partei, ÖVP) schon im Begleitschreiben mit schockierenden Behauptungen: Der Pro­zent­satz der öster­reichischen NS-Täter liege weit über dem Bevölkerungsanteil der Ostmark am Groß­­deutschen Reich. Österreicher seien während der NS-Zeit am Tod von etwa drei Millionen Ju­­den schuldig geworden.[13] Die Wirkung des Memorandums war vorerst gering. Allerdings setz­ten sich Wiesenthals Thesen, die er bei jeder Gelegenheit wiederholte,[14] unter jüngeren Zeit­historikern, Publizisten und in einer geschichtsinteressierten Öffentlichkeit langsam, aber um­so nachhaltiger durch.[15]

Geschichtspolitisch gesehen waren die 1970er Jahre geprägt von Kontroversen zwischen dem po­litisch eher konservativ eingestellten Simon Wiesenthal und dem sozialistischen Bun­des­kanz­ler Bruno Kreisky. Dass beide jüdischer Herkunft und vom NS-Regime verfolgt worden waren, verlieh den Auseinandersetzungen besondere Brisanz. 1970 ging es darum, dass nicht we­niger als vier Mitglieder des Minderheits­kabinetts Kreisky der NSDAP angehört hatten, da­run­ter sogar ein ehemaliger SS-Mann.[16] 1975 brach ein international vielbeachteter Konflikt um die SS-Vergangenheit von Friedrich Peter aus, dem Obmann der Freiheitlichen Partei Öster­reichs (FPÖ), die als Sammelbecken der „Ehemaligen“ galt.[17] In Kreiskys Regierungszeit wurden in Österreich hunderte Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher eingestellt, fünf von acht Prozessen endeten mit einem Frei­spruch.[18] Weitere Verfahren wurden nicht mehr aufgenommen; dafür dürfte eine informelle Weisung des sozialistischen Justizministers vor­ge­le­gen haben.[19] 1985 wurde der aus jahrzehntelanger italienischer Haft entlassene Kriegs­ver­bre­cher Walter Reder[20] am Flughafen in Graz von Verteidigungsminister Fried­helm Frischen­schla­ger (FPÖ) per Handschlag begrüßt, was zu einem enormen Medien­skandal führte und beinahe den Sturz der regierenden Koalition aus Sozialistischer Partei Österreichs und FPÖ nach sich gezogen hätte.[21]

Als die oppositionelle ÖVP ein Jahr später den früheren Außenminister und UN-General­se­kretär Waldheim für das Amt des Bundespräsidenten nominierte, geriet dessen Kriegs­vergangenheit in den Fokus des politischen und medialen Interesses. Bald stellte sich heraus, dass Waldheim – was er bisher immer verschwiegen hatte – ab 1942 Ordonnanzoffizier im Stab der von General­oberst Alexander Löhr geführten Heeres­gruppe E auf dem Balkan ge­we­sen war. Insbesondere seine Behauptung, von den Deportationen der Juden aus Saloniki nichts gewusst zu haben, stieß auf Unglauben, war er doch genau zu dieser Zeit in Saloniki sta­tioniert gewesen. Auf die bohrenden Fragen, was er denn im Krieg gemacht habe, reagierte Waldheim emotional. In einer Fernsehdiskussion fiel ein denk­würdiger Satz: „Im Jahr 40 war ich bei der deut­schen Wehrmacht eingerückt als Soldat, wie hunderttausende Österreicher auch, die ihre Pflicht erfüllt haben.“[22] Damit, kommentierte Simon Wiesenthal, habe sich Waldheim die Zu­­stimmung der Kriegsgeneration gesichert, die seit Jahrzehnten in ähnlicher Weise vor jeder Ver­antwortung geflohen sei. Jüngere hätten allerdings erkannt, wie unpassend ein solches Ge­schichtsbild sei. Wenn es eine Pflicht gegeben habe, „dann die zum Wider­stand“.[23] Waldheim ge­wann die Wahl 1986 mit deutlicher Mehrheit und wurde Staatsoberhaupt eines ver­gan­gen­heits­politisch zutiefst gespaltenen Lands.[24]

Das Dogma, Österreich sei Hitlers erstes Opfer gewesen, das durch Jahrzehnte Österreichs Haltung zu seiner NS-Vergangenheit bestimmt hatte, verlor im Zuge der Auseinandersetzungen seine hegemoniale Deutungskraft. Die Opferthese gilt mittlerweile als Lebenslüge der Zweiten Republik. Sukzessive wandelte sie sich in eine nie klar ausformulierte Täterthese, die im Laufe der 1990er Jahre in Wissenschaft und Publizistik die Oberhand gewann. Sie beruhte auf den von Simon Wiesenthal zur argumentativen Unterstützung seiner Forderungen nach Ge­rech­tig­keit für die Opfer und der Verurteilung der Täter ausgestreuten und regelmäßig wiederholten Be­­hauptungen, Österreicher seien unter den NS-Tätern überproportional vertreten gewesen.

II. Umstrittene Zahlen

Allerdings hatte Wiesenthal schon in seinem Memorandum von 1966 darauf hingewiesen, dass seine Aussage „keinesfalls arithmetisch genau“ sein könne.[25] Tatsächlich liegen ernst­zu­neh­mende, auf quantitativen Verfahren basierende Studien bis heute nicht vor. Trotzdem kursieren in der Literatur Zahlen, deren empirische Fundierung ungewiss ist, die aber direkt oder indirekt allesamt auf Wiesenthal zurückzuführen sind.[26] Der Zeithistoriker der Universität Innsbruck Thomas Albrich etwa berief sich explizit auf Wiesenthal, als er 1997 schrieb: „Vierzig Prozent des Personals und drei Viertel der Kommandanten der Vernichtungslager stammten aus Öster­reich“, zudem seien 80 Prozent der „Eichmann-Männer“ Österreicher gewesen.[27]

In einem 1997 in deutscher Sprache erschienenen Buch des US-amerikanischen Historikers John Weiss hieß es: „Der Anteil der Österreicher, die sich den Nazis anschlossen, war doppelt so hoch wie der der Deutschen. Obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung des Dritten Reiches nur acht Prozent betrug, stellten die Österreicher vierzehn Prozent der SS-Mitglieder, vierzig Proz­ent des Personals in den Todeslagern und siebzig Prozent von Eichmanns Mitarbeitern.“[28] Diese so präzise anmutenden Angaben sind durch keinerlei Literatur- oder Quellenhinweise belegt. Trotz­dem übernahm Evan Burr Bukey, Professor der University of Arkansas, die genannten Angaben mit der folgenden Formulierung: „Von 1938 bis 1943 gewannen die Parteiführer im Ver­hältnis mehr neue Mitglieder in der Ostmark als im Altreich [. . .]. Es waren zwar lediglich acht Prozent der Bevölkerung des Großdeutschen Reiches Österreicher, dafür stellten diese aber 14 Prozent der SS-Mitglieder und 40 Prozent der an dem Massenmord beteiligten Schergen, vom Euthanasieprogramm bis hin zu Auschwitz.“[29] Aus dem Personal in den „Todeslagern“ (wo­mit Weiss die Vernichtungslager gemeint haben dürfte) waren nunmehr noch unbestimmter alle Beteiligten am nationalsozialistischen „Massenmord“ geworden.

Der Salzburger Universitätsprofessor Ernst Hanisch zitierte in einem Beitrag wiederum Bukeys An­gaben. Einschränkend meinte er, dass diese Zahlen „mit großer Vorsicht zu benützen“ seien, aber doch belegen würden, dass Österreicher bei den Tätern über­repräsentiert gewesen seien.[30] Die Historikerin Helene Maimann übernahm die erwähnten Zahlen von Hanisch. Die 40 Pro­zent an Österreichern in den Vernichtungslagern mutierten bei ihr zu „40 Prozent der Täter ins­gesamt“.[31] In der 2007 erschienenen „Geschichte Österreichs“ des englischen Historikers Ste­ven Beller fanden sich sowohl Spuren der Angaben von Weiss als auch die bekannte Schät­zung Wiesenthals: „Ausgehend von dem phänomenal großen Anteil an Österreichern in der SS und dem Personal in den Konzentrationslagern (etwa die Hälfte), schätzte Simon Wiesenthal, dass Österreicher im Dienst des Dritten Reiches für den Tod von etwa drei Millionen Juden mit­verantwortlich waren.“[32] Der deutsche Historiker Matthias Gafke berief sich 2015 in seiner Mo­nografie „Heydrichs Ostmärker“ auf die von Albrich 1997 verbreiteten Zahlen.[33] Über die en­ge fachwissenschaftliche Literatur hinausgehend, fanden derartige Zahlen auch Niederschlag in diversen Medien oder Filmdokumentationen und Theaterstücken.[34] Dagegen er­hoben sich Stimmen von Wissenschaftlern – wie etwa dem Wirtschaftshistoriker Roman Sand­gruber[35] oder dem oberösterreichischen Landeshistoriker Harry Slapnicka[36] –, die eine ös­ter­reichische Über­repräsentation unter NS-Tätern entschieden in Abrede stellten.

Einen beträchtlichen qualitativen Sprung erlebte die Diskussion 2006 mit einem Aufsatz des Holocaust-Forschers Bertrand Perz. Er wies zahlreiche Ungenauigkeiten und methodische Unzulänglichkeiten in bisherigen Debattenbeiträgen nach – und er erkannte, worum es im Kern der ganzen Auseinandersetzung ging: „Es ist [. . .] eine vor allem politisch geführte Debatte, die an­hand der Frage eines bestimmbaren österreichischen Anteils an den NS-Tätern das Verhältnis Ös­terreichs bzw. der österreichischen Gesellschaft zum Nationalsozialismus verhandelt.“[37] Zuvor schon war Oliver Rathkolb, Ordinarius für Zeitgeschichte der Universität Wien, zu einem ähnlichen Ergebnis wie Perz gelangt, erlaubte sich allerdings ein klareres Urteil und sprach dezidiert von einem österreichischen „Tätermythos“.[38] Der Zeithistoriker Gerhard Botz bezog hin­gegen in einem 2012 erschienenen Beitrag eine klar akzentuierte Position pro Täterthese. Am Ende seiner umfangreichen Überlegungen kam er zu dem Schluss: „Auf jeden Fall hat die weitere empirische zeitgeschichtliche Forschung davon auszugehen, dass die ‚österreichische Tä­­ter-These‘, die in der österreichischen Nachkriegsöffentlichkeit und -geschichte – im Ge­gen­satz zum Opfer-Mythos – niemals ein Täter-‚Mythos‘ gewesen ist, bislang nicht wi­derlegt wur­de, also weiterhin generalisierend Geltung beanspruchen kann.“[39]

Hinter dieser Diskussion verbirgt sich letztlich die Frage, ob in Österreich eine über dem oh­ne­hin traurigen (mittel-)europäischen Normalmaß liegende, auffällig starke Anfälligkeit für Anti­se­mitismus, Rassismus und sonstige NS-Ideologeme verbreitet war und die Bewohner dieses Lands damit für nationalsozialistisches Gedankengut in einem besonderen Ausmaß prä­des­ti­niert gewesen seien. Denn wie wäre es sonst erklärlich, dass Österreicher über­durch­schnitt­lich oft in Positionen gedrängt haben sollen – etwa in Konzentrations- und Vernich­tungs­la­gern –, in de­nen sie zu Mördern im Sinne der NS-Ideologie werden mussten? Anders for­mu­liert: Gab es in Österreich einen besonders mörderischen Anti­se­mitismus und Rassismus? Waren die Ös­ter­rei­cher vielleicht in einem markant höheren Ausmaß als die Deutschen „Hitlers willige Voll­strecker“?[40]

III. Methodische Fragen

Bertrand Perz monierte zu Recht, dass in der bisherigen De­bat­te „generalisierende Aussagen auf Basis der Analyse einzelner Tätergruppen“ gemacht wurden.[41] Es lässt sich allerdings nicht er­kennen, wie sich ein repräsentatives Sample bilden ließe, das alle NS-Täter einschließen würde. Trotzdem sollte es möglich sein, den Anteil von Ös­terreichern an NS-Tätern zumindest nä­herungsweise auf Basis empirischer Erhebungen und der Analyse von lebensgeschichtlichen Da­ten zu bestimmen. Daher wurden im Rahmen der Studie, die diesem Aufsatz zugrunde liegt, möglichst viele unterschiedliche Tätergruppen erfasst, die in einem institutionellen oder Handlungs­zusammenhang standen – wie beispielsweise die Offiziere und Wachmannschaften von Konzentrationslagern (KZ), KZ-Ärzte, Offiziere der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdiensts (SD). Auf diese Weise konnte zumindest ungefähr ein Überblick über eine fiktive Gesamt­population von NS-Tätern gewonnen werden. Wie ge­zeigt wurde, basieren die Behauptungen eines überdurchschnittlich hohen Anteils von Ös­terreichern an den NS-Tätern in der Regel auf Zahlen und Prozentsätzen, deren Herkunft unklar und empirisch nicht untermauert ist. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Frage, ob Ös­ter­reicher unter den NS-Tätern überrepräsentiert waren oder nicht, kann daher nur quantifizierend vor­gehen. Nur so sind generalisierende Aussagen möglich, die im Sinne des Falsifikations­prin­zips widerlegbar sind.

Wären alternative Forschungsansätze denkbar? Dichte soziale Beziehungen zwischen histo­ri­schen Akteuren und Organisationen werden seit einiger Zeit verstärkt mittels Netz­werk­analysen untersucht.[42] In bescheidenen Ansätzen wurde diese Methode in der diesem Beitrag zu­­grundeliegenden Studie durch die Analyse einiger österreichischer Täterkreise umgesetzt. Hier ist zweifellos noch viel Forschungspotenzial vorhanden, aber allein schon wegen des Auf­wands kann es sich immer nur um Mikroanalysen handeln. Zur Klärung der hier behandelten For­schungsfrage, bei der es um eine generalisierende Gesamtbetrachtung geht, ist diese Me­thode nicht geeignet.

Es erwies sich als zweckmäßig, das Instrumentarium der Sekundäranalyse zur Anwendung zu bringen. Gemeint ist damit eine Methode, die auf bereits vorliegende Daten zurückgreift. Das hatte erstens handfeste pekuniäre Gründe, denn kein Förderungsfonds hätte die Mittel zur Ver­fügung gestellt, die für die Erforschung des österreichischen Täteranteils auf Basis von Pri­mär­quel­len aller Art nötig gewesen wären. Sekundäranalysen sind also zeit- und kosten­sparend. Zweitens gibt es Vorteile von Sekundär­analysen in den Sozialwissenschaften – wie etwa die kom­parative Betrachtung gewisser Fragestellungen, die Triangulation der Perspektive, die Über­prüfung und gegebenenfalls inhaltliche Erweiterung vorliegender Arbeiten und For­schungs­­gegenstände –, die zum Teil auch in der vorliegenden Unter­suchung zum Tragen kom­men.[43]

Welche historischen Studien boten sich an? Erstens Arbeiten, die verlässliche Auswertungen über die nationale Zusammen­setzung eines repräsentativen Samples von NS-Tätern bieten. Als Bei­spiel sei die Monografie von Andrea Riedle über die Lagermannschaft des KZ Sach­sen­hau­sen genannt.[44] Bei Werken dieses Zuschnitts konnten die ermittelten Ergebnisse nach kritischer Prü­fung übernommen werden. Zweitens Arbeiten, die ebenfalls valide Daten und Aus­wer­tun­gen enthalten, sich allerdings in der vorliegenden Form nicht zur Beantwortung der For­schungs­frage eignen und deshalb einer Neuauswertung unterzogen werden mussten. Ein Beispiel ist die Ar­beit des polnischen Historikers Aleksander Lasik über die Lagermannschaft des Kon­zen­tra­tions­lagers Auschwitz.[45] Drittens liegen in verschiedenen Werken umfangreiche Auf­stel­lungen von NS-Tätern vor, die als repräsentative Samples zu betrachten sind, aber von den Au­­toren nicht oder bestenfalls sehr oberflächlich und oft auch fehlerhaft ausgewertet wurden. Beispielhaft genannt seien die von French L. MacLean publizierten Auflistungen von SS-Of­fizieren, die in KZ und in Einsatzgruppen Dienst taten.[46]

Bei der Auswahl der zu untersuchenden Gruppen folgte die Studie derselben Beobachtung, die der Soziologe Stefan Kühl zum Ausgangspunkt seines Werks „Ganz normale Organisationen“ mach­te. Der Autor erkannte, dass „mehr als 99 Prozent aller Tötungen von Juden durch Mit­glie­der staatlicher Gewaltorganisationen durchgeführt wurden“. Darunter verstand er „Or­ga­ni­sa­tionen wie Armeen, Milizen und Polizeien [. . .], die Gewalt androhen und einsetzen, um staat­liche Entscheidungen durchzusetzen“.[47] Strafrechtlich gesehen gilt als Täter, wer eine Straftat selbst oder durch andere begeht. Wird die Straftat durch mehrere gemeinschaftlich begangen, so wird jeder als Täter bestraft.[48] Das österreichische Strafgesetz unterscheidet nicht zwischen Tä­tern, Anstiftern und Gehilfen, sondern geht vom Einheitstäterbegriff aus: „Nicht nur der un­mit­telbare Täter begeht die strafbare Handlung, sondern auch jeder, der einen anderen dazu be­stimmt, sie auszuführen, oder der sonst zu ihrer Ausführung beiträgt.“[49] Im Vergleich zum Richter befindet sich der Historiker allerdings in einer privilegierten Position, wie Stephan Lehn­staedt anmerkte: „Wenn ihn seine Fakten ganz selbstverständlich von Tätern und Mördern spre­chen lassen, liegt letztendlich eine rationale Einschätzung vor – die durchaus mit moralischen Kri­terien verbunden sein kann. Ein gerichtliches Verfahren verlangt demgegenüber einen in­di­vi­duellen Tatnachweis ohne Restzweifel.“[50]

Als nationalsozialistische Täter gelten im vorliegenden Beitrag Personen, die als Initiatoren, Aus­führende und Mithelfende an nationalsozialistischen Massenverbrechen beteiligt waren. Da im Einzelfall über die Täterschaft oder Tatbeteiligung von Personen in bestimmten Situationen und Handlungszusammenhängen nicht entschieden werden kann, zählt die Zugehörigkeit zu ei­ner bestimmten Organisation in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Zusammenhang (zum Beispiel als SS-Offizier im KZ Auschwitz zwischen 1940 und 1945), unabhängig von der in­­dividuell nachgewiesenen Schuld. Massenverbrechen sind nach herrschender Lehre: Völ­ker­mord, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.[51] Be­zogen auf den National­sozialismus sind damit insbesondere die systematische Vernichtung der europäischen Juden, der Sinti und Roma, von Angehörigen slawischer Völker, von kranken und behinderten Menschen, die systematische Ausrottung, Vertreibung und Umsiedlung ethn­ischer und sozialer Gruppen sowie Kriegsverbrechen aller Art (unter anderem der Massenmord an sowjetischen Kriegs­gefangenen) gemeint. Das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) gibt die Zahl der Todesopfer nationalsozialistischer Massen­verbrechen mit rund 17 bis 17,5 Millionen Menschen an.[52] Was Österreich betrifft, ist von mindestens 110000 To­des­opfern politischer Verfolgung in der NS-Zeit auszugehen.[53] Die Zahl der deutschen und ös­ter­rei­chischen NS-Täter liegt Dieter Pohl zufolge bei rund 200000 bis 250000. Dazu kom­men noch die in paramilitärischen Formationen aktiven ausländischen Kollaborateure, hauptsächlich Li­tauer, Letten und Ukrainer.[54]

Wie lassen sich die Herkunft und nationale Zugehörigkeit einer Person bestimmen? Lagen kei­ne zusätzlichen lebensgeschichtlichen Angaben zu einer Person vor, so wurde der in Per­so­nen­dokumenten genannte Geburtsort herangezogen. Wenn darüber hinausgehende Informationen vor­handen waren, durch die sich auf eine andere nationale Zugehörigkeit oder Sozialisation schließen ließ, so wurden diese Informationen zur Auswertung herangezogen. Weil sich aber in vielen Fällen aufgrund fehlender Kontext­informationen die Sozialisation im Staat des Ge­burtsorts mit einiger Wahrscheinlich­keit vermuten, aber nicht zweifelsfrei nachweisen ließ, ist bei den nachfolgend vorgestellten Auswertungen von einer gewissen, aller Erfahrung nach jedoch eher geringen Schwankungsbreite auszugehen.

Grundsätzlich galt die nationale Zugehörigkeit der Zwischenkriegszeit – also nach der Neu­for­mie­rung der Staatenwelt in Mittel- und Osteuropa im Gefolge des Zusammenbruchs der Mittel­mäch­te 1918 und vor dem Beginn der deutschen Expansion ab März 1938. Österreicher im Sin­ne dieser Untersuchung waren demnach Personen, die zwischen 1918 und 1938 Staats­bürger der Republik Österreich waren und/oder hier für längere Zeit ihren Lebens­mittelpunkt hatten und einen wesentlichen Teil ihrer Sozialisation erlebten.[55] In der Literatur zur NS-Tä­ter­for­schung werden deutschsprachige Personen, die in der Tschechoslowakei lebten, hin und wieder um­standslos der Republik Österreich zugeschlagen.[56] Was ist zu diesen Sudetendeutschen zu sagen? Sie kamen zur Zeit der Donaumonarchie als Kinder deutschsprachiger Eltern in sprach­lich weitgehend einheitlichen Randgebieten oder in Sprachinseln der Kronländer Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien zur Welt und durchlebten hier ihre Kindheit und Jugend. Nach 1918 wurden sie – sofern sie nicht für die Staats­bürgerschaft der Republik Österreich op­tierten und dorthin übersiedelten oder schon in den Jahren der Monarchie übersiedelt waren – Bür­ger der Tschechoslowakei; dieser Staat bot in der Zwischenkriegszeit wesentlich mehr Le­benschancen als die verarmte Alpenrepublik.[57] Sofern sie deutschnational dachten, was bei ihnen auffällig häufig vorkam, war ihr ganzes Streben auf das Deutsche Reich und nicht auf Ös­terreich gerichtet. Eine historische Untersuchung kann die Gegebenheiten, die durch die Pa­ri­ser Vorortverträge geschaffen wurden, nicht ignorieren. Der vorliegende Beitrag orientiert sich daher bei der Nationalitätenzuordnung streng an den staatlichen Gegebenheiten der Periode von 1918 bis 1938. Zweifellos kam den rund drei Millionen altösterreichischen Sudeten­deut­schen eine Sonderstellung in Hitlers Reich zu. Daher werden sie auch, sofern das anhand der vorliegenden Daten möglich ist, gesondert ausgewiesen.

Die Auswertungen zur Ermittlung des Anteils von Österreichern an den NS-Tätern stellen grundsätzlich auf Personen ab, die dem Großdeutschen Reich – Gebietsstand der Volkszählung vom 17. Mai 1939 – zuzurechnen sind. Der Bevölkerungsstand betrug zu diesem Zeitpunkt 79375281 Personen. Auf dem Gebiet der ehemaligen Republik Österreich sowie in den süd­böhmischen und südmährischen Bezirken, die den Reichsgauen Oberdonau und Niederdonau zugeschlagen worden waren, lebten insgesamt 6972269 Personen (8,78 Prozent der Be­völ­kerung des Großdeutschen Reichs).[58] Die Bevölkerung der ehemals süd­böhmischen und südmährischen Bezirke lag 1939 bei 274913 Personen. Bei diesen Menschen handelte es sich aber um frühere Bürger der Tschechoslowakei und nicht der Republik Österreich. Zieht man sie korrekterweise ab, ergibt sich eine Österreich vor dem März 1938 zuzurechnende Be­völ­kerung in Höhe von 6697356 Personen. Das würde einen österreichischen Anteil an der Be­völ­kerung des Groß­deutschen Reichs von 8,44 Prozent ergeben. Allerdings wären be­trächt­liche Wan­derungsverluste aus der Ostmark ins Altreich nach dem „Anschluss“ vom März 1938 in Rech­nung zu stellen, so dass man nicht falsch liegen dürfte, wenn man, Gerhard Botz folgend, den Bevölkerungsanteil Österreichs am Großdeutschen Reich mit ungefähr 8,8 Prozent an­nimmt.[59]

IV. Die Untersuchungen im Detail

Für vergleichende Untersuchungen, die den Grad der nationalsozialistischen Durchdringung der österreichischen und deutschen Gesellschaft zum Gegenstand haben, ist zuerst einmal die un­terschiedliche Entwicklung der NSDAP in Österreich und Deutsch­land in Betracht zu zie­hen.[60] Erstens hinkte die Partei in Österreich, was den Zuspruch in der Bevölkerung bei Wahlen seit 1930 betrifft, deutlich hinterher. Im fast rein katholischen Österreich mit seinem kompakten Parteienspektrum und der geeinten, starken Arbeiter­bewegung hatte der Nationalsozialismus grund­­sätzlich einen schwereren Stand als im mehrheitlich protestantischen Deutschen Reich, des­sen Arbeiterbewegung zudem zwischen Sozial­demokraten und Kommunisten zerrissen war.[61] Zweitens war die NSDAP in Österreich vom 19. Juni 1933 bis 12. März 1938 verboten. Na­­tionalsozialistische Betätigung und erst recht die geheime Parteimitgliedschaft konnten in der Phase der Illegalität zu beruflichen Nachteilen bis hin zum Existenzverlust, zu hohen Geld- und langen Freiheits­strafen führen.[62] Trotzdem schlossen sich viele Österreicher – aus Über­zeu­gung oder in opportunistischer Erwartung des absehbaren „Anschlusses“ an Hitler-Deutsch­land – der NSDAP im Geheimen an. Ab März 1938 setzte dann ein gewaltiger Run auf die Mit­gliedschaft in der NSDAP ein, und die Ostmark holte den Mitgliederrückstand in Win­des­eile auf. Seit 1941 war der Wille, der NSDAP beizutreten, in den nunmehrigen Alpen- und Do­naureichsgauen allerdings deutlich geringer als im Altreich.[63]

Der kumulierte Netto-Mitgliederstand für das Deutsche Reich betrug im Jahr 1943 insgesamt un­gefähr 8652000 Personen, davon 693000 aus Österreich. Das entsprach einem Acht-Prozent-Anteil der Österreicher an allen NS-Partei­mitgliedern. Wie aus den weiteren bekannten Zah­len und Schätzungen hervorgeht, dürfte sich dieses Verhältnis – das eine Unter­re­prä­sen­ta­tion von Österreichern unter den NSDAP-Mitgliedern nahelegt – bis Kriegsende kaum ver­än­dert haben. Ein anderes Verhältnis ergibt sich, wenn man der Betrachtung den Gebiets- und Be­völkerungsstand des Großdeutschen Reichs im Jahr 1943 zugrunde legt und die dem Reich nach Kriegsausbruch zugeschlagenen Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland sowie weitere Gebiete einrechnet. Der Anteil der NSDAP-Mitglieder an einer Gesamt­bevölkerung von 89,9 Millionen Menschen liegt bei dieser Betrachtungsweise bei 9,6 Prozent, während von den knapp sieben Millionen Bewohnern der österreichischen Reichsgaue rund 9,9 Prozent Mit­glieder der NSDAP waren.[64] Demnach wäre von einer leichten Über­repräsentation von Ös­­ter­reichern auszugehen. Insgesamt, meinte Jürgen Falter, „bewegen sich die Re­kru­tie­rungs­raten auf dem Gebiet des vormaligen und nachmaligen Österreichs und des Altreichs in der glei­chen Größenordnung, die Durchdringung (oder Anfälligkeit) war folglich in etwa die glei­che“.[65] Im Sudetenland war der Rekrutierungserfolg der NSDAP übrigens enorm. Zwischen 1938 und 1945 traten knapp 530000 Personen der NSDAP bei – was die von der NS-Führung an­gepeilte Marke von zehn Prozent Parteimitgliedern unter der Gesamtbevölkerung weit über­traf. Fast ein Viertel aller erwachsenen Sudetendeutschen waren demnach Parteigenossen.[66]

Über den Mitgliederstand der Allgemeinen SS liegen nur unvollständige, teils zweifelhafte An­ga­ben vor. In der sogenannten Kampfzeit und auch in den ersten Jahren nach der „Macht­er­grei­fung“ war die Fluktuation hoch. Der „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlands 1938 führte zu einem beträchtlichen Wachstumsschub auf rund 215000 Mitglieder, von denen 17500 Österreich zuzurechnen sind (8,1 Prozent).[67] Die Aufstellung „Gesamtstärke der Schutzstaffel am 1. Juli 1940“[68] bietet sich für eine weitere Analyse der regionalen Stärkeverhältnisse in­ner­halb der SS an. Für Österreich relevant sind die beiden Oberabschnitte „Donau“ und „Al­pen­land“. Der Gesamtbestand der Allgemeinen SS wurde für Mitte 1940 mit 254529 Mann be­zif­fert. Abzuziehen sind drei Oberabschnitte, weil sie zum Zeitpunkt der Volkszählung 1939 noch nicht zum Großdeutschen Reich gehörten, sowie Hauptämter und Sondereinheiten, über deren re­gionale Zusammensetzung nichts bekannt ist, womit sich ein Stand von 220186 Mann ergibt. Die Personalstärke der beiden ostmärkischen SS-Oberabschnitte lag bei insgesamt 19047 Mann, was einem Anteil von 8,7 Prozent und damit in etwa dem Bevölkerungsanteil der Ost­mark am Großdeutschen Reich entspricht.

Analysen der Zusammensetzung der oberen und obersten Führungsebenen der SS ergeben in der Regel eine Unterrepräsentation an Österreichern. So bei der Auswertung des sechs­bändigen Nachschlagewerks „Die Generale der Waffen-SS und der Polizei“.[69] 19 Generäle wurden im Gebiet der heutigen Republik Österreich geboren, sechs weitere stammten aus Gebieten der Donaumonarchie und wurden nach deren Zusammenbruch in Österreich ansässig. Ins­gesamt sind also 25 der 398 in der Auflistung genannten Personen als Österreicher zu bezeichnen, das entspricht 6,3 Prozent. Wenn man die 13 nicht dem Großdeutschen Reich, son­dern verschiedenen europäischen Ländern zuzurechnenden Generäle nicht in die Aufstellung ein­bezieht, also von einer Gesamtheit von 385 Personen ausgeht, beträgt der Anteil der Ös­ter­rei­cher 6,5 Prozent. Demnach haben wir es in dieser Gruppe mit einer deutlichen Un­ter­re­prä­sen­tation an Österreichern zu tun. Der Kärntner Historiker Wolfgang Graf eruierte für ein kol­lek­tivbiografisches Werk insgesamt 737 SS-Generäle; davon waren 55 Personen Österreich (7,5 Prozent) zuzurechnen. Be­mer­kens­wert ist, dass unter den Österreichern Personen aus Grenz­gebieten besonders stark vertreten waren, wo es zu den Zeiten der Monarchie intensive Na­tionalitäten- und Sprachenkämpfe gegeben hatte.[70]

Jens Banach errechnete für eine biografisch-statistische Untersuchung die Stärke der Führungs­schicht der Sicherheitspolizei und des SD der SS mit näherungsweise 4000 Per­sonen. Daraus bildete er unter Zuhilfenahme der Dienstaltersliste der SS und anderer Mate­ria­lien ein repräsentatives Sample von 3013 Personen und konnte für 1885 Personen genügend Da­ten für eine qualifizierte Auswertung ermitteln. Aus der detaillierten Aufschlüsselung der re­gionalen Herkunft der erfassten Personen lässt sich ein Österreicher-Anteil von sie­ben Prozent errechnen.[71]

Bernd Wegners Standardwerk über die Waffen-SS enthält einen Abschnitt, der sich mit der Sozialstruktur des Führungskorps befasst. Als Quelle diente dem Autor die Dienstaltersliste der Waffen-SS vom 1. Juli 1944, aus der er alle Personen ab dem Dienstgrad eines Standarten­führers oder höher erfasste. Von 582 Personen des Samples waren 48 außerhalb des Reichs geboren, „die meisten von ihnen“, so der Autor, „in den Ländern der ehemals österreichisch-ungarischen Monarchie“, was einem Anteil von 8,7 Prozent entspricht.[72] Da es auch Waffen-SS-Führer etwa aus Belgien, Dänemark, Estland oder Lettland gab und nicht alle in der Donau­mon­archie geborenen Waffen-SS-Führer der Republik Österreich zuzurechnen sind,[73] dürfte der Anteil der als Österreicher zu bezeichnenden Waffen-SS-Führer bei sechs bis sie­ben Prozent gelegen haben.[74]

Ein stark erhöhter Anteil von Österreichern findet sich hingegen in einer kleinen, aber wichtigen Gruppe von NS-Tätern, den Höheren SS- und Polizeiführern (HSSPF). Ruth Bettina Birn ver­öf­fentlichte in ihrer Untersuchung dieser Gruppe eine namentliche Aufstellung aller von ihr er­mittelten HSSPF, die jeweils eine Kurzbiografie mit allen relevanten personenbezogenen Da­ten enthielt. Demnach konnten 39 HSSPF dem Altreich zugerechnet werden, einer dem Su­de­ten­land und sieben der Ostmark (14,9 Prozent).[75]

Umgekehrt verhielt es sich bei der ebenfalls kleinen Gruppe der KZ-Kommandanten. Als Re­fe­renzwerk diente die Studie von Karin Orth über die Konzentrationslager-SS.[76] Laut der Au­to­rin fungierten zwischen 1938 und 1945 insgesamt 36 Männer als KZ-Kommandanten; ein einziger davon war Österreicher: Amon Göth, geboren 1908 in Wien. Als Kommandant des KZ Plaszow bei Krakau, das im Januar 1944 aus einem Arbeitslager in ein reguläres KZ-Stamm­la­ger umgewandelt worden war, erlangte er durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ trau­rige Berühmt­heit.[77]

Kompakt zusammengestellte persönliche Daten der in Konzentrationslagern aktiven SS-Of­fi­ziere vom Untersturm­führer aufwärts finden sich in einem Werk des US-amerikanischen Mi­li­tär­historikers French L. MacLean.[78] Seine Aufstellung umfasst insgesamt 967 Personen, und er ging davon aus, damit ungefähr 90 Prozent aller KZ-Offiziere abgedeckt zu haben. Eine kri­ti­sche Auswertung dieser Auflistung ergibt folgendes Bild: Die Elite der SS, die in den Kon­zentrationslagern den Ton angab, stammte überwiegend aus dem Altreich. Der Anteil an Volks­deut­schen[79] war gering, wenn man ihre Dominanz an den KZ-Wachmannschaften in der zweiten Kriegshälfte bedenkt. Das Sudetenland war leicht überrepräsentiert, Österreich hingegen mit einem Anteil von 7,5 Prozent erkennbar unterrepräsentiert. Um mögliche Ver­zer­run­gen aufgrund der unterschiedlichen politischen Entwicklung in Deutschland und Österreich vor dem März 1938 auszugleichen, enthielt eine zweite Auswertung nur SS-Offiziere, die zwi­schen 1938 und 1945 in den Konzentrationslagern aktiv waren. Die Verschiebungen sind allerdings gering. Der Anteil von Österreichern unter Offizieren lag in diesem Fall bei 7,7 Prozent.

Wie sah das Verhältnis bei den Lagermannschaften aus? Der polnische Historiker Aleksander Lasik schätzte, dass insgesamt ungefähr 70000 bis höchstens 75000 SS-Männer in Kon­zen­tra­tionslagern dienten. Für 8879 dieser SS-Männer konnte er auf Basis von Personalakten ihre Staats­bürgerschaft vor 1938 feststellen. Der Anteil der Österreicher war mit 2,4 Prozent un­ge­wöhn­lich niedrig. Allerdings ist zu bedenken, dass rund 46 Prozent der in diesem Sample ent­hal­tenen SS-Leute Volksdeutsche waren. Stellt man die Betrachtung nur auf Bürger des Groß­deutschen Reichs zum Zeitpunkt der Volkszählung vom Mai 1939 ab, so liegt der Anteil der Österreicher im Lasik-Sample bei 4,7 Prozent. Deutsche aus dem Altreich waren ungefähr mit ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung vertreten, Sudetendeutsche hingegen stark über­re­prä­sen­tiert.[80]

2012 veröffentlichte Lasik einen umfassenden Beitrag zur Frage der Staatsbürgerschaft des SS-Personals im KZ Auschwitz und befasste sich unter anderem mit den österreichischen SS-Leu­ten.[81] Die Bedeutung dieser „Todesfabrik“ rechtfertigte eine zusätzliche, davon unabhängige Aus­wertung von Personen­daten. Dafür bot sich das von Ernst Klee er­stellte umfangreiche Au­schwitz-Personen­lexikon an.[82] Zu Vergleichs- und Kontrollzwecken wurde die von Lasik er­stellte Online-Datenbank „Załoga SS KL Auschwitz“ herangezogen, die Angaben zu ins­ge­samt 8502 Angehörigen der SS enthält, die in Auschwitz Dienst taten.[83] Betrachtet man die Mannschaft insgesamt, also inklusive der immer häufiger vor allem für Bewachungsdienste re­­krutierten Volksdeutschen, so waren Österreicher in der Lager-SS von Auschwitz stark un­­ter­­repräsentiert. Auf Basis der Studien von Lasik lag der Österreicher-Anteil bei 3,5 Prozent, auf Basis der Auswertung des Personenlexikons von Klee bei 5,1 Prozent. Nimmt man nur die La­­germannschaften aus dem Großdeutschen Reich zum Maßstab, ging der Anteil von Ös­ter­rei­chern zwischen 1940 und 1945 – laut Lasik – kontinuierlich von 8,4 Prozent auf vier Pro­zent zurück; er dürfte also im Schnitt bei ungefähr sechs bis 6,5 Prozent gelegen haben. Aus Klees Lexikon errechnet sich ein österreichischer Anteil von 8,2 Prozent.

Immerhin fanden sich unter den Angehörigen der Kommandantur 66 Österreicher, was einen A­nteil von 9,6 Prozent und damit einer erkennbaren Überrepräsentation entspricht. Allerdings kamen die meisten von ihnen in der Lagerverwaltung zum Einsatz und nicht in der Führung des Ter­­rorapparats, also in der Abteilung I (Kommandant und Adjutantur), der Abteilung II (Po­li­ti­sche Abteilung beziehungsweise Lager-Gestapo) und der Abteilung III (Schutz­haft­la­ger­füh­rung). Der Anteil von Österreichern in diesen Abteilungen lag bei 5,5 Prozent und damit deut­lich unter dem Durchschnitt.

Was fällt sonst noch bei der Analyse der Zusammensetzung der Lager­mannschaft von Au­schwitz auf? Zum einen, dass der Anteil von Personen aus den bis 1945 zum Deutschen Reich ge­hörenden deutschen Ostgebieten (etwa Schlesien und Ostpreußen) über ihrem Anteil an der Ge­­samtbevölkerung lag. Am markantesten ist die durchwegs starke Überrepräsentation von Su­detendeutschen. Auch der deutlich erhöhte Anteil von Volksdeutschen aus polnischen Ge­bie­ten, die bis 1918 zum Deutschen Reich gehört hatten und diesem nach 1939 wieder an­ge­glie­dert worden waren (Gaue Danzig-Westpreußen, Wartheland und Oberschlesien), fällt auf. Zu vermuten ist, dass diese Verteilung nicht zuletzt von der Nähe des Einsatzorts zum Wohn­ort der eigenen Familie abhing.

Dass dem so war, bestätigt die Untersuchung der Zusammensetzung der Lagermannschaft des KZ Mauthausen nahe Linz im Reichsgau Oberdonau. Bei 3052 Personen, die in einer im Rah­men eines Forschungsprojekts zur Mauthausener Lager-SS[84] erstellten Datenbank erfasst wur­den, lassen sich Rückschlüsse auf ihre geografische Herkunft ziehen. 486 dieser Personen, also 15,9 Prozent, stammten aus Österreich. In der Wachmannschaft blieb der österreichische Anteil in der Regel unter zehn Prozent. Erst als ab 1944 Angehörige der Wehrmacht für den Wach­dienst im Hauptlager und in den Außenlagern herangezogen wurden, stieg der Österreicher-Anteil auf fast zwölf Prozent. Wesentlich größer war die Zahl der Österreicher, die im Kom­mandanturstab tätig waren. Ihr Anteil lag 1938/39 noch unter zehn Prozent, stieg aber bis 1945 auf 24 Prozent an.[85] Der Grund für diese auffällige Entwicklung dürfte darin zu suchen sein, meinte Projektleiter Bert­rand Perz, dass SS-Angehörige, die nicht mehr kriegs­ver­wen­dungsfähig waren, danach trach­teten, heimatnah eingesetzt zu werden. Zugleich verwies er dar­auf, dass es fast nur Männer aus dem Altreich waren, welche die führenden Ränge im Kom­man­danturstab (Lagerkommandant, Adjutanten, Schutz­haft­lagerführer, Verwaltungsführer) be­klei­deten.[86]

Andrea Riedle hat die Sozialstruktur der Lager-SS im KZ Sachsenhausen untersucht. Für alle 230 von ihr namentlich identifizierten Angehörigen des Kommandanturstabs konnte die Au­to­rin die Geburtsorte ermitteln. Das Gros stammte aus dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937. Der österreichische Anteil lag bei nur 3,9 Prozent (neun Personen). Wie in Auschwitz stamm­ten auch in Sachsenhausen viele Angehörige der Kommandantur aus polnischen Ge­bieten, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vom Deutschen Reich abgetrennt worden waren. Stellt man nur auf das Großdeutsche Reich in den Grenzen der Volkszählung von 1939 ab, ergibt sich eine leichte Überrepräsentation von Personen aus dem Altreich und dem Su­de­ten­land und mit 4,2 Prozent eine deutliche Unter­repräsentation von Österreichern.[87]

Eine Einschätzung der Zusammensetzung von SS-Lagermannschaften erlaubt auch ein Blick auf die Angeklagten und Verurteilten in Verfahren wegen Verbrechen in Konzentrationslagern. Die US-Besatzungsmacht hielt derartige Prozesse von 1945 bis Ende 1947 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau bei München ab. In 489 Verfahren verhandelte das Militärgericht gegen insgesamt 1672 Personen; 426 Angeklagte wurden zum Tode ver­ur­teilt (268 hingerichtet), 256 freigesprochen. Die Verfahren betrafen Verbrechen in den Kon­zen­trationslagern Dachau, Mauthausen, Flossenbürg, Buchenwald, Mittelbau-Dora sowie beim Außenkommando Mühldorf.[88]

Der KZ-Komplex Mauthausen-Gusen samt seinen Nebenlagern nahm wegen der Schwere der zu ahndenden Verbrechen einen besonderen Stellenwert im Rahmen der Dachauer Prozesse ein. Mauthausen war im nationalsozialistischen KZ-System mit Stufe III („Rückkehr uner­wünscht“) kategorisiert worden. 1946/47 fanden in Dachau insgesamt 63 Mauthausen-Prozesse mit 305 Angeklagten statt. Christian Rabl ermittelte insgesamt 38 Angeklagte aus Österreich, was einem Anteil von 12,5 Prozent entspricht – oder 14,5 Prozent, wenn man nur Angeklagte aus Gebieten in die Rechnung einbezieht, die im Mai 1939 zum Großdeutschen Reich gehört hatten. Immerhin 21 Angeklagte (acht Prozent) sind dem Sudetenland zu­zu­rech­nen.[89]

Aufgrund des Online-Zugangs zu den Urteilen der Dachauer Verfahren ist es möglich, einen Blick auf alle Verfahren und die herkunftsmäßige Zusammensetzung der Angeklagten zu werfen. Es zeigt sich, dass nicht ganz achtzig Prozent aller in sämtlichen Dachauer Verfahren wegen KZ-Verbrechen verurteilten Angeklagten aus dem Altreich stammten, rund zehn Prozent waren Volksdeutsche (hauptsächlich aus Rumänien und Jugoslawien), rund sechs Pro­zent Österreicher und nicht ganz vier Prozent Sudetendeutsche.

Be­trachtet man nur die Herkunft der Verurteilten ohne Funktionshäftlinge, die ja in jeder Hin­sicht eine Sonderstellung einnahmen, so ergibt sich ein nur unwesentlich verändertes Bild. Auf­fäl­­lig ist wiederum der vergleichsweise hohe Anteil an Sudetendeutschen. Der Anteil an Volks­deut­schen muss als relativ gering erachtet werden, wenn man deren während des Kriegs ra­sant zunehmende Stärke in den KZ-Wachmannschaften bedenkt. Der Grund liegt darin, dass in er­ster Linie Angehörige des Kommandantur­stabs zur Anklage kamen.[90] Bezogen auf das Groß­deut­sche Reich in den Grenzen vom Mai 1939 lag der Österreicher-Anteil der verurteilten An­ge­klagten bei 5,7 Prozent.[91]

Mobile Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD spielten im Zuge der national­so­zialistischen Vernichtungsfeldzüge eine besonders blutige Rolle. Nach dem Überfall auf Polen kam es erstmals zu massenhaften Erschießungen von Juden, Angehörigen der polnischen Füh­rungsschicht, Geiseln und sogenannten Freischärlern. In der Sowjetunion verübten Ein­satz­grup­pen schon in den ersten Tagen Massaker, die sich im Laufe der folgenden Wochen und Mo­nate zum systematischen Massenmord auswuchsen.[92] Über die Zusammensetzung der Mann­schaften liegen keine detaillierten Erkenntnisse vor. Aber für die SS-Offiziere der Ein­satz­gruppen können wir auf eine Erhebung von French L. MacLean zurückgreifen.[93] Er er­stell­te eine namentliche Auflistung von insgesamt 380 Personen, die für eine Auswertung hinsichtlich Sozial- und Altersstruktur sowie regionaler Herkunft geeignet ist. Was die re­gio­na­le Herkunft anbelangt, zeigt sich, dass rund 84 Prozent der Einsatzgruppen-Of­fi­ziere aus dem Deut­schen Reich in den Grenzen von 1937 stammten, neun Prozent waren Volks­deutsche und knapp vier Prozent Österreicher, der kleine Rest verteilte sich auf verschiedene an­dere Grup­pen. Stellt man zur besseren Vergleichbarkeit auf die Einsatz­gruppen-Offiziere aus dem Deut­schen Reich in den Grenzen vom Mai 1939 ab, ergibt sich ein Österreicher-Anteil von 4,3 Prozent.

Von Ernst Klee stammt eine namentliche Aufstellung von Ärzten, die in Konzentrationslagern Dienst taten und sich häufig an den grausamen Medizin­verbrechen beteiligten, die an KZ-Häft­lin­gen verübt wurden.[94] Klee listete insgesamt 175 Personen auf, darunter eine einzige Frau. Der Anteil von KZ-Ärzten aus dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik entsprach ziemlich genau dem Anteil an der Gesamtbevölkerung. Auffällig sind die hohen Anteile von SS-Ärzten aus Österreich (11,2 Prozent) und die sehr hohen Anteile von Sudetendeutschen (8,1 Prozent).

Für eine Vergleichsauswertung bietet sich die detailreiche und penibel recherchierte Dis­ser­ta­tion von Marco Pukrop über die personelle Besetzung der Medizinischen Abteilung im KZ Sach­senhausen an.[95] Eine Analyse der darin genannten 77 Mediziner aus Deutschland in den Grenzen vom Mai 1939 ergibt eine sehr starke Über­repräsentation von Sudetendeutschen (11,7 Prozent) und eine deutliche Überrepräsentation von Österreichern (10,4 Prozent). Es zeigt sich mit geringen Abweichungen dasselbe Bild wie bei der Auswertung des Klee-Samples.

Über die Gründe für diese auffällige Verteilung lassen sich angesichts der geringen Fallzahlen kaum belastbare Aussagen machen. Was Österreich betrifft, ist darauf zu verweisen, dass die SS-Ärztliche Akademie, an der junge Absolventen der Medizin im Sinne der SS ausgebildet wur­den, seit Herbst 1940 ihren Standort in Graz hatte. Das könnte junge Mediziner aus Ös­ter­reich bevorzugt dazu bewogen haben, ihre Karriere in Heimatnähe zu beginnen.[96]

Bleibt die Frage, ob Österreicher überdurchschnittlich oft an Kriegsverbrechen oder Ver­bre­chen gegen die Menschlichkeit beteiligt waren, die Angehörige der Wehrmacht verübten. Denk­bar wäre die Auswertung der herkunftsmäßigen Zusammensetzung von bestimmten, an derartigen Verbrechen beteiligten Einheiten. Allerdings liegen Studien, die auf die Herkunft der Täter abstellen, nicht vor, sieht man von Walter Manoscheks Untersuchung der Wehr­machts­­verbrechen in Serbien ab, von der noch die Rede sein wird. Das Standardwerk von Rü­di­ger Overmans erlaubt keine Rückschlüsse auf die Herkunft der Täter. Immerhin zeigen sei­ne Zahlen, dass die Verluste von aus den Donau- und Al­pen­reichs­gauen stammenden Sol­da­ten deutlich unter denen ihrer Kameraden aus anderen Regionen des Groß­­deutschen Reichs la­gen. Österreicher verstanden es offensichtlich besser, im Krieg zu über­leben. Das lässt ei­ne im Schnitt deutlich geringere Motivation der Österreicher vermuten, im Kampf für Hitler bis zum Äußersten zu gehen.[97]

Einheiten der Ordnungspolizei spielten im Holocaust eine schreckliche Rolle.[98] Mittlerweile liegen einige Standardwerke vor, die einen Überblick über den Einsatz dieser Bataillone und Regimenter liefern.[99] Stefan Klemp listete insgesamt 147 Polizeibataillone auf, von denen zehn in Österreich aufgestellt wurden. Der Heimatstandort bedeutet allerdings nicht, dass sich diese Ba­taillone ausschließlich oder überwiegend aus Männern aus der Region rekrutiert hätten. Die Zu­sammensetzung konnte von Fall zu Fall stark variieren. Das berüchtigte Polizeibataillon 322 aus Wien-Kagran bestand in den Mannschafts­dienstgraden zu ungefähr einem Drittel aus ge­bür­tigen Österreichern, unter den Offizieren befanden sich nur zwei österreichische Re­ser­visten.[100] Laut dem Polizeihistoriker Daniel Popielas, der sich ausführlich mit dem ebenfalls in Wien aufgestellten Polizeibataillon 256 befasst hat, lag der Österreicher-Anteil dieser Truppe bei 54 Prozent. Von den 23 Offizieren waren weniger als zehn gebürtige Österreicher.[101] Auf der anderen Seite dienten viele aus Österreich stammende Polizisten und Reservisten in Ba­tail­lo­nen, die im Altreich oder in besetzten Gebieten aufgestellt worden waren.[102] Eine umfassende Auflistung oder Stichprobenerhebung der Herkunft der Polizisten und Poli­zei­reservisten, die bei in Verbrechen involvierten Einheiten dienten, gibt es nicht – sie wäre auf­grund der proble­ma­tischen Quellen­lage mit vertretbarem Aufwand wohl auch kaum zu er­stellen –, so dass hier bis auf Weiteres eine Leerstelle bleibt.

V. Besondere österreichische Täterkreise

Österreicher waren also mit mehr oder weniger hohen Anteilen in alle nationalsozialistische Verbrechenskomplexe involviert. Vier Bereiche stechen dabei besonders hervor, und zwar die Täterkreise um Adolf Eichmann und Odilo Globocnik, der Balkan und die Niederlande.

Eichmann: Es gibt zwei wesentliche Gründe für den hohen Anteil von Österreichern unter den Mit­arbeitern Adolf Eichmanns im Referat IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts, das für die Organisation der Deportationen von Juden und anderen Verfolgten aus allen Teilen Europas in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Osteuropa verantwortlich war. Zum einen lebte der 1906 in Solingen als Kind deutscher Eltern geborene Eichmann von 1913 bis 1933 in Linz und erlebte hier die wesentlichen Jahre seiner Sozialisation. Hier, in Ober­österreich, schloss er sich der NSDAP und der SS an. Eichmann empfand Österreich als seine Heimat, auch wenn er die österreichische Staatsbürgerschaft vermutlich nie besessen hat.[103] Auch aus diesem Grund dürfte er Österreicher unter seinen Mitarbeitern bevorzugt haben.

Zum anderen rekrutierte Eichmann den Kern seines Teams nach dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland in Wien. Er war im März 1938 als Experte für Judenfragen im Si­cher­heits­dienst der SS dorthin geschickt worden, um für die organisierte Vertreibung der öster­rei­chi­schen Juden zu sorgen. Zu diesem Zweck rief er im August 1938 die Zentralstelle für jüdische Auswanderung ins Leben, die möglichst viel Druck auf die österreichischen Juden auf­­bauen sollte. Es war naheliegend, zur Besetzung dieser Vertreibungsbehörde auf ös­ter­rei­chi­sche National­sozialisten zurückzugreifen, die ohnehin allesamt vehement nach lukrativen Ver­­sorgungs­posten strebten. Diese für Wien rekrutierten Männer begleiteten Eichmann auf sei­nem weiteren Weg vom Organisator der Judenvertreibung zum Manager des Holocaust.[104] Ex­akt lässt sich der Eichmann-Kreis nicht bestimmen. Man wird von einem inneren Zirkel be­son­ders treu ergebener Mitarbeiter und einem erweiterten Kreis sogenannter Juden­experten anderer Ämter und Abteilungen sprechen müssen, die von Fall zu Fall hinzugezogen wurden. Die Sich­tung und Auswertung der vorhandenen Literatur[105] legt nahe, den inneren Zirkel mit 32 Per­so­nen zu bestimmen, von denen 16 als Österreicher zu werten sind.

Die wichtigsten österreichischen „Eichmann-Männer“ waren Alois Brunner, Leiter der Zen­tral­stel­le in Wien, Chef­organisator der Deportation der Wiener Juden, schließlich sogenannter Ju­den­berater in verschiedenen europäischen Ländern; Anton Brunner, führender Mitarbeiter der Wiener Zentralstelle; Franz Novak, zuständig für Transport­fragen; Erich Rajakowitsch, ju­ris­ti­scher Berater Eichmanns, sowie Anton Burger, Karl Rahm und Siegfried Seidl, die unter an­de­rem als Kommandanten des Ghettos Theresienstadt fungierten. Als weitere wichtige Mit­ar­bei­ter Eichmanns sind aus dem Altreich Theodor Dannecker, die Brüder Hans und Rolf Günther, Her­bert Hagen, Otto Hunsche, Heinz Röthke und Dieter Wisliceny sowie der Sudetendeutsche Her­mann Krumey zu nennen.

Globocnik: Der 1905 als Sohn österreichischer Eltern in Triest geborene und in Kärnten auf­ge­wach­sene Odilo Globocnik hatte in der illegalen Phase und im März 1938 als Or­ga­ni­sa­tions­lei­ter der österreichischen NSDAP eine wichtige Rolle gespielt. Er wurde dafür mit dem Amt des Gau­leiters von Groß-Wien belohnt, zeigte sich dieser Position aber in keiner Weise gewachsen und wurde von Hitler schon nach wenigen Monaten entlassen. Daraufhin ließ Himmler Glo­boc­nik im Schnelldurchgang die Karriere eines SS-Führers durchlaufen und beorderte ihn am 1. November 1939 als SS- und Polizeiführer in die im Osten des Generalgouvernements ge­le­ge­ne Stadt Lublin.[106] Er wurde vor allem in zwei Bereichen aktiv: So engagierte er sich bei der sogenannten Germanisierung, also bei der Vertreibung der polnischen Bevölkerung und der Ansiedelung von Volks­deutschen an ihrer Stelle. Sein Hauptaugenmerk lag allerdings auf der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, die 1942/43 in der „Aktion Reinhardt“ und damit der Vernichtung von rund 1,8 bis zwei Millionen Ju­den aus Polen und anderen europäischen Staaten gipfelte.[107]

Rund ein Drittel der Angehörigen von Globocniks Dienststelle stammten aus Österreich, be­son­ders dicht mit Österreichern besetzt war sein Stab. Das wichtigste Kriterium zur Re­kru­tie­rung seiner engsten und wichtigsten Mitarbeiter war für Globocnik nicht deren Herkunft, son­dern deren Zugehörigkeit zu seinem persönlichen Netzwerk. Und dazu zählten in erster Linie Per­­sonen, die er seit seiner Jugend kannte und die ihm während der Jahre der national­so­zia­lis­ti­schen Illegalität in Kärnten zugearbeitet hatten.[108] Einige dieser Leute übernahmen führende Funk­tionen in der „Aktion Reinhardt“ und sind als nationalsozialistische Intensivtäter zu be­zeich­nen. Der bekannteste von ihnen ist zweifellos Globocniks Judenreferent, der Salzburger SS-Sturm­bannführer Hermann Höfle, der als Stabschef für die Organisation des Massenmords zu­ständig war.[109]

Zum Täterkreis Globocnik sind auch die Spezialisten der Aktion T4 zu zählen, auch wenn sie nicht zum ursprünglichen Netzwerk Globocniks gehörten. Als Hitler den Massenmord an Be­hin­derten mit Giftgas im August 1941 wegen zunehmender Proteste einstellen ließ, wurden die meis­ten der daran beteiligten Täter nach Polen transferiert, um in den Vernichtungslagern Bel­zec, Sobibor und Treblinka tätig zu werden. Sara Berger ermittelte insgesamt 121 Personen, die zwischen 1939 bis 1941 bei der Aktion T4 und 1941 bis 1943 bei der „Aktion Reinhardt“ ein­ge­setzt wurden. Bei fünf ist die Herkunft unbekannt, 94 stammten aus dem Altreich, elf aus dem Sudetenland und elf aus der Ostmark, was einem Anteil von 9,5 Prozent entspricht. Das sei­en weniger, meint die Autorin, als man angesichts der Existenz einer Tötungsanstalt in Ös­ter­reich habe erwarten können. Allerdings befanden sich darunter einige besonders berüchtigte Massenmörder: Franz Stangl, ein Kriminalbeamter aus Oberösterreich, Kommandant von So­bi­bor und Treblinka, Franz Reichleitner, ebenso Kriminalbeamter aus Oberösterreich, Kom­man­dant von Sobibor, und der Vorarlberger Arzt Irmfried Eberl, (überforderter) Kommandant von Treblinka. Gustav Wagner aus Wien, ein gefürchteter Sadist, diente in Sobibor als Stell­ver­treter Stangls und Reichleitners.[110] Der israelische Historiker Yitzhak Arad setzte das deut­sche Personal der drei Vernichtungs­lager mit insgesamt 450 Mann an.[111] Bertrand Perz schätzte, dass von dem deutschen Personal rund 60 bis 90 Mann aus Österreich stammten, was einem Anteil von 13 bis 20 Prozent entspricht.[112]

Serbien: Die Forschungen Walter Manoscheks zeigen,[113] dass aus Österreich stammende Wehr­macht­soldaten – Mannschaften wie Offiziere – überproportional häufig auf dem Balkan sta­tio­niert und somit überdurchschnittlich oft in Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit verwickelt waren. Nach der Eroberung Jugoslawiens und Griechenlands im Frühjahr 1941 entsandte die Wehrmacht vier Infanteriedivisionen als Besatzungstruppen in den Süd­ostraum, zwei davon mit einem starken Überhang an Ostmärkern. Hitler sei der Über­zeu­gung gewesen, meinte der deutsche Generalbevollmächtigte für die Wirtschaft Serbiens, Franz Neu­hausen, „dass nur die Österreicher die Serben kennen, und dass sie als einzige kompetent wä­ren, eine Einschätzung der politischen, wirtschaftlichen und anderen Fragen in Serbien zu tref­fen“.[114] Auf keinem anderen Kriegsschauplatz des Zweiten Weltkriegs waren so viele Ös­ter­reicher vertreten wie auf dem Balkan.[115] Dazu passt, dass laut dem Bericht einer ju­gos­la­wis­chen Kriegs­verbrechenskommission von 1947 nicht weniger als 2062 von insgesamt 4433 Kriegs­­gefangenen in Jugoslawien österreichischer Herkunft waren.[116]

Im September 1941 ordnete das Oberkommando der Wehrmacht für Serbien an, für die Tötung je­des deutschen Soldaten durch Partisanen 50 bis 100 Geiseln zu erschießen. Der neue Ter­ri­to­rial­chef, der aus der Steiermark stammende General Franz Böhme, ließ diesen Befehl in der denk­bar schärfsten Form ausführen. Weil sich im Oberkommando der Wehrmacht Widerstand da­gegen regte, dass bei derartigen Mordaktionen ganze Belegschaften von kriegswichtigen Fab­riken und wertvolle Facharbeiter getötet worden waren, ging Böhme dazu über, bevorzugt Juden und sogenannte Zigeuner ermorden zu lassen. Böhme war damit der erste Wehr­machts­ge­neral, der in seinem Befehlsbereich die „Endlösung der Judenfrage“ unter dem Deckmantel von Süh­nemaßnahmen betrieb. Die serbischen Juden waren bereits in Konzentrationslagern in­ter­niert. Bis November 1941 wurden mehr als 6000 männliche Juden getötet. Die Gesamtzahl der auf­grund der Befehle Böhmes ermordeten Geiseln (Serben, Juden und Roma) ist nicht bekannt. Manoschek ging davon aus, dass Böhmes Vergeltungspolitik insgesamt mehr als 25000 Men­schen zum Opfer fielen.[117]

Im März 1942 entsandte Berlin einen Gaswagen nach Serbien. Darin wurden zwischen Anfang März und Anfang Mai 1942 die im Lager Sajmište bei Belgrad internierten jüdischen Frauen, Kin­der und Greise ermordet. Der aus Linz stammende SS-Obersturmführer Herbert Andorfer war zu dieser Zeit Kommandant des Lagers und leitete die Vergasung der serbischen Juden. Etwa 7500 Menschen kamen ums Leben.[118] Für die Ermordung der jüdischen Männer war al­ler­dings die Wehrmacht allein verantwortlich. Die Befehle gab der aus Österreich stammende General Franz Böhme; die Untergebenen, die sie ausführten, waren ebenfalls zu einem guten Teil Österreicher, die in die Wehrmacht einberufen und als Besatzungstruppen auf den Kriegsschauplatz Südost entsandt worden waren.

Niederlande: Am 19. Mai 1940 ernannte Hitler Arthur Seyß-Inquart zum Reichskommissar für die soeben von der Wehrmacht besetzten Niederlande. Diesem sollte bis auf den militärischen und außenpolitischen Bereich die gesamte Besatzungsverwaltung unterstehen. Der aus einer deutsch-mährischen Familie stammende Wiener Rechtsanwalt hatte seinem „Führer“ schon als Reichs­statthalter für Österreich und schließlich als Stellvertreter Hans Franks im Ge­ne­ral­gou­ver­nement gute Dienste geleistet.[119] Dem Reichskommissar wurden vier Generalkommissare zu­geordnet, die seine Entschei­dungen vorbereiten und zugleich die niederländischen Ge­ne­ral­se­kretariate beaufsichtigen sollten. Seyß-Inquart konnte zwei von diesen Generalkommissaren selbst bestimmen, und er wählte zwei Vertraute und Freunde aus seiner Zeit als Reichs­statt­halter der Ostmark. Hans Fischböck übernahm das Generalkommissariat für Finanzen und Wirtschaft, Friedrich Wimmer jenes für Verwaltung und Justiz. Himmler bestellte den Reichs­komm­issar für Sicherheitswesen, der zugleich die Funktion des HSSPF Nordwest über­nehmen sollte. Er wählte dafür ebenfalls einen Österreicher, den SS-Brigadeführer Hanns Rauter. Der einzige Nicht-Österreicher war der aus Westfalen stammende Fritz Schmidt, der die Position des Generalkommissars zur besonderen Verwendung übernahm.[120]

Auch nachgeordnete Beamtenstellen wurden häufig mit Österreichern besetzt. Aus diesem Grund bürgerte sich für das Besatzungsregime die Bezeichnung „Donauklub“ ein, auch wenn da­durch eine Einheitlichkeit unterstellt wird, die in Wirklichkeit nicht vorhanden war. Je­den­falls waren Österreicher an allen Phasen der Verfolgung und Ermordung der nieder­ländischen Ju­den bis hin zur Deportation in die Vernichtungslager maßgeblich beteiligt.[121]

Täterkreis Kaltenbrunner? Der Linzer Rechtsanwalt Ernst Kaltenbrunner war einer von zwei Ös­terreichern, die im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher angeklagt und zum Tode verurteilt wurden. Beim „Anschluss“ 1938 erlangte er als Führer der österreichischen SS die Funktion eines Staatssekretärs für das Sicherheitswesen im Land Österreich bis zu dessen Auflösung 1939. Zugleich wirkte er als HSSPF im Wehrkreis XVII (Wien, Niederdonau, Ober­donau) und als Führer des SS-Oberabschnitts Donau. In dieser Funktion verblieb Kaltenbrunner bis zur Mitte des Kriegs.

Nach dem Tod des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich am 4. Juni 1942 führte Himmler dieses Amt vorerst persönlich, entschloss sich schließlich aber, den mächtigen Posten wieder abzutreten. Allgemein hatte der Chef des Amts I des RSHA, Bru­no Streckenbach, als Favorit für die Heydrich-Nachfolge gegolten. Himmler entschied sich aber mit Zustimmung Hitlers überraschend für den HSSPF Donau, Ernst Kaltenbrunner, der am 30. Januar 1943 in Berlin sein neues Amt als RSHA-Chef antrat. Warum die Wahl auf Kal­ten­brun­ner fiel, ist unklar. Immerhin galt er als loyaler Gefolgsmann Himmlers und als Nach­rich­ten­­dienstexperte für den südosteuropäischen Raum. Eine Hausmacht besaß er im RSHA nicht.

Erkennbaren personalpolitischen Einfluss übte Kaltenbrunner nur in Bereichen aus, die ihn per­sön­lich interessierten. An erster Stelle stand dabei das von Walter Schellenberg geführte Amt VI (SD-Auslandsnachrichtendienst) und hier wiederum die Gruppe VI E (Südost­europa), die von Wilhelm Waneck und dessen Stellvertreter Wilhelm Höttl, beides Wiener, geleitet wurde; Höttl tat sich 1944 bei der Judenverfolgung in Ungarn besonders hervor. Der britische His­to­ri­ker Stephen Tyas sprach explizit davon, dass eine „Austrian Group“ die Gruppe VI E dominiert habe. So war es nur folgerichtig, dass sie von Berlin nach Wien übersiedelte. Die andere Gruppe, in die sich Kaltenbrunner bevorzugt einbrachte, war VI S (Sabotage und Kommando­un­ternehmen). Hier installierte er als Chef einen alten Gefährten und Freund, den Wiener Otto Skor­zeny. Ansonsten ist nicht erkennbar, dass es in den gut zwei Jahren unter Kaltenbrunners Führung Umstrukturierungen mit dem Ziel gegeben hätte, eine Clique von Ostmärkern an die Schalt­hebel des RSHA zu bringen.

Kaltenbrunner war, entgegen seinen Behauptungen auf der Nürnberger Anklagebank, direkt für al­le Aspekte der Tätigkeit des RSHA – auch die Gestapo, Konzentrationslager, Einsatz­gruppen und so weiter – zuständig und verantwortlich. Er vollzog mit aller Härte die Befehle, die ihm erteilt wurden, und tat alles, um die rassenpolitischen Ziele der NS-Ideologie erbarmungslos umzusetzen. Es steht außer Frage, dass er ein Haupttäter des Holocaust war. Aber ein Netzwerk österreichischer Intensivtäter – wie etwa um Globocnik und Eichmann – formierte sich um ihn nicht.[122]

VI. Exkurs: Die Rolle der Sudetendeutschen

In den höheren und höchsten Rängen der in den verschiedenen Tatkomplexen aktiven Or­ga­ni­sa­tionen und Institutionen (Allgemeine SS und Waffen-SS, Polizei, Lager-SS) waren Su­de­ten­deut­sche deutlich unterrepräsentiert. Auf der anderen Seite sticht eine eklatante, häufig doppelte bis dreifache Überrepräsentation beim Personal von Konzentrations­lagern (und zwar in der Kom­mandantur, weniger in den Wachmannschaften), unter KZ-Ärzten und im T4-Reinhardt-Netz­werk hervor. Besonders auffällig und markant ist, dass Sudetendeutsche doppelt so oft wie Ost­märker und Deutsche aus dem Altreich Mitglieder der NSDAP wurden, wie die Un­ter­su­chun­gen Jürgen Falters belegen. Alles in allem ist eine gewisse Überrepräsentation von Su­de­ten­­deutschen unter den NS-Tätern nicht zu leugnen.

Was könnten die Gründe für diese Verteilung gewesen sein? An erster Stelle ist die historisch ge­wachsene, besonders starke Affinität des Sudetenlands zum Deutschnationalismus und später zum Nationalsozialismus zu nennen. In den Industriegebieten des Sudetenlands, wo Deutsche und Tschechen um die Arbeitsplätze konkurrierten, war 1903/04 die erste nationalsozialistische Partei im deutschen Sprachraum ent­stan­den.[123] Diese Partei existierte in der Tschechoslowakei bis zu ihrem Verbot 1933 als Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei weiter. Auch in den Jahren 1918 bis 1938 prägte der Volks­tums­kampf zwischen Deutschen und Tschechen das politische Klima in der Tsche­chos­lo­wa­ki­schen Republik. Eine wichtige Funktion als Katalysator kam der 1933 von Konrad Henl­ein als Sam­melbewegung aller Sudeten­deutschen gegründeten, zunehmend na­tio­nal­so­zia­lis­tisch un­ter­wanderten Sudetendeutschen Partei zu.[124] Ein weiterer Ansatz zur Erklärung der Über­re­präsentation von Sudetendeutschen in Konzentrationslagern wie Auschwitz ist weniger komplex. Er dürfte schlichtweg mit der Nähe zum Einsatzort zu tun gehabt haben. Das würde den Er­kennt­nis­sen aus dem KZ Mauthausen entsprechen, wo überproportional viele Angehörige der Lager-SS aus Österreich stammten.

Beachtenswert ist, dass ein hoher Anteil an NS-Tätern, die Österreich zuzurechnen sind, eben­falls aus deutsch-böhmischen und deutsch-mährischen Gebieten stammten und erst nach 1918 in die Republik Österreich übersiedelten. Laut der bereits zitierten Studie von Wolfgang Graf kam jeder fünfte österreichische SS-General in den Kronländern Böhmen und Mähren zur Welt.[125] Das prominenteste Beispiel ist der Iglauer Arthur Seyß-Inquart, der sich nach dem En­de des Ersten Weltkriegs als Rechtsanwalt in Wien niederließ. Andere bekannte Namen sind Jo­sef Albert (Kommandeur der Ordnungspolizei Bozen), Rudolf Mildner (Gestapo-Chef von Kat­towitz und damit Herr der Lager-Gestapo von Auschwitz), Walter Reder (Sturmbannführer der Waffen-SS und Ritterkreuzträger), Walter Schimana (HSSPF Griechenland und Wien) und Ot­to Gustav Wächter (Zivilgouverneur in Krakau und Lemberg), dessen Familie aus Nord­böh­men stammte.

VII. Resümee

Die methodischen und inhaltlichen Probleme der vorgestellten Untersuchung sind beträchtlich. Sind die ausgewählten Verbrechens­komplexe und Institutionen überhaupt repräsentativ? Ist es zu­lässig, Massenorganisationen wie etwa die Allgemeine SS mit ihren 220000 Mitgliedern in ih­rer Gesamtheit einer ganz kleinen Gruppe wie den 36 KZ-Kommandanten ge­gen­über­zu­stellen? Sind die den Sekundäranalysen zugrundeliegenden Arbeiten und die dort präsentierten Da­ten valide? Was genau sind eigentlich NS-Täter, und wie muss man deren je eigenen Anteil an nationalsozialistischen Verbrechen bewerten und gewichten? Zudem steht allein schon der Versuch, die Frage nach dem österreichischen Täter-Anteil wertfrei und evidenzbasiert prüfen zu wollen, unter dem grundsätzlichen Verdacht, eine Art Geschichts­revisionismus betreiben zu wollen.[126] Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es notwendig, historische Grundaussagen, die ein bestimmtes Geschichtsbild und die Geschichtspolitik eines Staats prägen, mittels empi­ri­scher Untersuchungen ernsthaft zu überprüfen, so unvollkommen diese auch aufgrund der miss­li­chen Quellenlage, der oft problematischen Datenbasis und der geringen zur Verfügung ste­henden Mittel auch ausfallen mögen.

Es wäre vermessen, aus den ermittelten Zahlen der einzelnen Teiluntersuchungen eine Art Täterquote errechnen zu wollen. Aus der Einzelbetrachtung verschiedener Verbrechens­komplexe und Organisationen ergibt sich allerdings ein gewisser Gesamteindruck. Die nicht zu be­ziffernde Überrepräsentation von Österreichern in den – in der zusammen­fassenden Aufstellung nicht ausgewiesenen – Täterkreisen Eichmann und Globocnik sowie in Serbien und in den Niederlanden ist hoch, die Überrepräsentation bei den Höheren SS- und Polizeiführern, den KZ-Medizinern und in der Mauthausener Lagermannschaft beträchtlich, statistisch freilich we­gen der zumeist geringen Fallzahlen wenig aussagekräftig. Insgesamt lässt sich aber nicht er­ken­nen, dass Österreicher an NS-Massenverbrechen mit einem Anteil beteiligt gewesen wären, der über ihren bevölkerungsmäßigen Anteil am Großdeutschen Reich hinausgegangen wäre. Bei nüch­­terner Betrachtung wird deutlich: Aus österreichischer Sicht sind weder Opfer- noch Täterthese gerechtfertigt.

Grund­ge­samt­-heit (n) Österreicher-Anteil (8,8 %)
Parteimitglieder der NSDAP 1943 8,65 Mio. ungefähr Gleichstand
Generäle der Waffen-SS und der Polizei 385 6,5 %
SS-Generäle 737 7,5 %
Führerkorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945 1825 7,0 %
Führungskorps der Waffen-SS 553 ca. 6,0–7,0 %
Höhere SS- und Polizeiführer 47 14,9 %
Mitglieder der Allgemeinen SS Ende 1938 215000 8,1 %
Stärke der SS-Oberabschnitte Mitte 1940 220186 8,7 %
KZ-Kommandanten 36 2,8 %
T4-Reinhardt-Netzwerk nach Berger 116 9,5 %
SS-Offiziere in den Konzentrationslagern 869 7,5 %
Konzentrationslager-SS allgemein nach Lasik 4455 4,7 %
Lager-SS Auschwitz nach Lasik (1942) 561 7,3 %
Lager-SS Auschwitz nach Klee 1116 8,2 %
Kommandanturstab Lager-SS Auschwitz 689 9,6 %
Terrorapparat Lager-SS Auschwitz 183 5,5 %
Konzentrationslager Mauthausen 3052 15,9 %
Konzentrationslager Sachsenhausen 216 4,2 %
Angeklagte im Dachauer Mauthausen-Prozess 262 14,5 %
Verurteilte in weiteren Dachauer Verfahren wegen KZ-Verbrechen 384 3,4 %
Mediziner in Konzentrationslagern 161 11,2 %
SS-Offiziere in Einsatzgruppen 323 4,3 %
Online erschienen: 2024-10-01
Erschienen im Druck: 2024-09-30

© 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 1.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2024-0038/html
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