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Der Thatcherismus und Andrew Lloyd Webbers Musicals

  • Amanda Eubanks Winkler EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2022
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Abstract

Dieser Aufsatz umreißt die zentralen Grundsätze des Thatcherismus und geht der Frage nach, ob und wie sie in Andrew Lloyd Webbers Œuvre der 1980er Jahre inszeniert wurden. Die Autorin konzentriert sich auf drei Musicals, die oft mit Thatcheristischer Ästhetik in Verbindung gebracht wurden: „Cats“ (1981), „Starlight Express“ (1984) und „Das Phantom der Oper“ (1986). Der Beitrag zeigt, wie die Musiksprache und Dramaturgie dieser Musicals an größeren kulturellen, vom Thatcherismus geprägten Diskursen partizipierten, die „traditionelle Werte“ lobten und von einer „glorreichen“ britischen Vergangenheit schwärmten, die ihre Stimme gegen Elitedenken erhoben und die die Wahrnehmung der Rolle des Staats und die Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat verschoben.

Abstract

This article delineates the key tenets of Thatcherism and considers the ways they might be enacted in Andrew Lloyd Webber’s 1980s oeuvre. The author focusses on three shows that have often been linked with Thatcherite aesthetics: “Cats” (1981), “Starlight Express” (1984), and “The Phantom of the Opera” (1986). The article demonstrates how the musical language and dramaturgy of these musicals participated in larger cultural discourses shaped by Thatcherism, discourses that lauded “traditional values” and a “glorious” British past, that bridled against elitism, and that shifted the perception of the role of government and the relationship between the individual and the state.

Vorspann

Als „Thatcherism in action“ bezeichnete der Musikkritiker Michael Billington Andrew Lloyd Webbers Musicals. Die Premierministerin und den erfolgreichen Komponisten verband, dass sie auf freien Markt und Wettbewerb setzten, staatliche Kunstförderung ablehnten, das Viktorianische Zeitalter verklärten und eine Kunst bevorzugten, die dem Geschmack des breiten Publikums entgegenkam. Anhand der Musicals „Starlight Express“, „Cats“ und „The Phantom of the Opera“ analysiert Amanda Eubanks Winkler, in welcher Form die Grundpfeiler des Thatcherismus Eingang in Lloyd Webbers Werke fanden. Sein Erfolgsrezept bestand nicht zuletzt darin, einen musikalischen Stilmix mit Stories zu verbinden, die Leistungsbereitschaft und Wettbewerb als Königsweg zum Erfolg priesen. In „The Phantom of the Opera“ parodierte er die klassische Oper und gab das kulturelle Establishment der Lächerlichkeit preis. Lloyd Webber war zwar nicht Thatchers Hofkomponist, aber er stand für die Versöhnung von Kunst, Geld und Unternehmertum.

I. Lloyd Webbers Musicals – „Thatcherism in action“?

„Look at Andrew Lloyd Webber“, schoss Margaret Thatcher zurück, als Peter Hall, Direktor des National Theatre, ihr vorwarf, die Budgetstreichungen der Regierung schnürten dem kulturellen Leben im Land die Luft ab.[1] Das Beispiel war mit Bedacht gewählt: In den Augen Thatchers, für die sich der Wert eines Kunstwerks an seinem Erfolg auf dem freien Markt bemaß, war Lloyd Webber der Idealtyp eines modernen englischen Komponisten. Bereits 1968 war ihm mit „Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat“, einer gemeinsam mit dem Texter Tim Rice verfassten Popkantate für Schulkinder, der Durchbruch im Genre Musical gelungen. An das Erfolgsrezept von „Joseph“, die klassische Form der Oper mit Pop- und Rockmelodien zu verbinden, knüpften die beiden auch in ihren folgenden Gemeinschaftswerken „Jesus Christ Superstar“ (1970) und „Evita“ (1976) an. In den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt seiner Karriere, schrieb Lloyd Webber – diesmal ohne seinen Texter Rice – eine Serie von Musicals, die zu Kassenschlagern wurden und in den kulturellen Mainstream eingingen.

Thatchers Bewunderung wurde erwidert. Andrew Lloyd Webber, seit jeher ein entschiedener Kritiker des britischen Steuerrechts, versprach sich von Thatchers Wirtschaftspolitik einen höheren Anteil seines Einkommens für sich selbst. In seinem unermüdlichen Einsatz für Steuererleichterungen und den freien Markt wandte er sich sogar an die Presse, um sich öffentlich für die Thatcher-Politik auszusprechen und der Politikerin seine Unterstützung zuzusichern.[2] Auch als Komponist stellte er sich in den Dienst der Tories, indem er 1987 die Musik zu Thatchers Wahlkampfspot beisteuerte.[3]

Die politischen Sympathien zwischen Andrew Lloyd Webber und Margaret Thatcher haben die Lesart befördert, auch seine Musicals seien letztlich Manifestationen thatcheristischer Ideologien. Als „Thatcherism in action“ bezeichnete etwa der Theaterkritiker des Guardian, Michael Billington, das britische Musical der 1980er Jahre.[4] Jenseits des Atlantik hob Frank Rich gleich in mehreren Kritiken für die New York Times auf politische Aspekte in Lloyd Webbers Bühnenwerken ab. In seiner Besprechung von „The Phantom of the Opera“ heißt es: „Mr. Lloyd Webber is a creature, perhaps even a prisoner, of his time; [...] he remakes La Belle Epoque in the image of our own Gilded Age“ – ein Seitenhieb auf Thatchers und Reagans Politik der Deregulierung und der starken Betonung des freien Markts, die soziale Ungleichheit befördert und der Verherrlichung des materiellen Wohlstands das Wort geredet hatte.[5]

Wenn Billington in Bezug auf die Musicals der 1980er Jahre von einem „Thatcherism in action“ sprach, klang dabei auch an, dass den Thatcherismus ein wiedererkennbarer Sound, ein typisches Handlungsmuster und ein charakteristischer Darstellungsstil kennzeichnen – mit anderen Worten: dass der Thatcherismus selbst performative Kraft hat. Für diesen „Thatcherism in action“ prägte die New York Times den Sammelbegriff Megamusical, unter dem alle britischen und europäischen Importe zusammengefasst wurden, die in den 1980er Jahren die Broadway-Bühnen überschwemmten. Das Megamusical, wie es vom Team um Lloyd Webber entwickelt wurde, zeichnete sich durch Zukunftsorientiertheit und Rückwärtsgewandtheit zugleich aus, da es Elemente der europäischen Operntradition mit spektakulären hochmodernen technischen Effekten und Popmusik verband und auf diesem Wege Hoch- und Unterhaltungskultur amalgamierte.[6]

Bei all diesem Einvernehmen über die Nähe zwischen Lloyd Webbers Megamusicals und dem Thatcherismus muss es eigentlich erstaunen, dass noch keine Untersuchungen vorliegen, die sich eingehender mit dem Thema auseinandersetzen.[7] Diese Lücke möchte der vorliegende Beitrag schließen, indem er am Beispiel dreier Megamusicals – „Cats“ (1981), „Starlight Express“ (1984) und „The Phantom of the Opera“ (1986) – der Frage nachgeht, ob überhaupt, und wenn ja, wie die Grundpfeiler des Thatcherismus darin künstlerisch umgesetzt wurden. Bislang hat man die Kulturpolitik unter Thatcher in der historischen Forschung allenfalls stiefmütterlich behandelt. Wenn sie überhaupt zur Sprache kam, so vor allem, um zu erörtern, wie Künstler Werke schufen, die im Widerspruch zur Politik der Regierung standen.[8] Mit meiner Untersuchung eines in den 1980er Jahren kommerziell erfolgreichen und zugleich offen pro-thatcheristischen Komponisten möchte ich das Wissen über die Schnittstelle zwischen Kultur und Thatchers neoliberaler, populistischer Spielart des Konservatismus erweitern.

Dem seien noch kurz einige klärende methodische Vorbemerkungen vorausgeschickt: Lloyd Webbers Musicals traten auf der ganzen Welt ihren Siegeszug an, ohne deswegen auch schon überall – zum Beispiel nicht in Deutschland oder Ostasien – als Ausdruck einer politischen Ideologie rezipiert zu werden. Aus diesem Grund konzentriere ich mich in meinen Ausführungen vornehmlich auf den britischen Kontext. Wenn ich den Verbindungen zwischen Lloyd Webbers Musicals und dem Thatcherismus nachgehe, behaupte ich ferner nicht, dass diese bereits mit der Absicht einer politischen Parteinahme komponiert wurden. Musicals sind eine multivalente Kunstform, an deren Produktion viele Menschen beteiligt sind – nicht alle von ihnen werden Lloyd Webbers politische Überzeugungen geteilt haben. Das ändert aber nichts daran, dass Lloyd Webbers Werk der 1980er Jahre im Kontext eines umfassenderen, vom Thatcherismus geprägten kulturellen Diskurses entstanden ist, der um Kernbegriffe wie „traditionelle Werte“, eine „glorreiche“ britische Vergangenheit und Antielitismus kreiste und das Verständnis von der Rolle des Staats sowie der Beziehung zwischen Staat und Individuum grundlegend veränderte.[9]

II. Thatchers Wirtschaftspolitik und die Kultur

Bei Thatchers Amtsantritt 1979 befand sich die britische Wirtschaft in einer tiefen Rezession, in ihren Augen das Erbe der übermäßig dirigistischen Vorgängerregierung. Im Vorwort zum Wahlmanifest der Konservativen Partei von 1979 nannte sie das Kind beim Namen: „[T]he balance of our society has been increasingly tilted in favour of the State at the expense of individual freedom.“[10] Im hohen Stellenwert, den Thatcher der individuellen Freiheit beimaß, klingt ein Satz des US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman nach, des Begründers einer „new ideology“ in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der argumentierte, es sei ein Gebot der Stunde, „[to] give high priority to limiting the state’s ability to intervene in the activities of the individual“.[11] Um die Waagschalen der Macht zwischen Individuum und Staat wieder stärker ins Gleichgewicht zu bringen, setzte die Regierung Thatcher auf Privatisierung und Deregulierung, auf die Entmachtung der Gewerkschaften sowie auf Steuersenkungen.[12]

Von dieser Logik der Privatisierung blieb auch die Kulturpolitik nicht verschont. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in England eine nationale Fördereinrichtung für die Künste, den 1946 per Royal Charta gegründeten Arts Council. Die Pläne dazu gingen auf den britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes zurück, der als namhafter und einflussreicher Advokat staatlicher Eingriffe in die freien Märkte in die Geschichte einging. Während seiner vierjährigen Tätigkeit als Vorsitzender der Vorgängerorganisation, des Council for the Encouragement of Music and the Arts (CEMA), hatte er das Konzept für eine nationale Fördereinrichtung für die Künste in England entwickelt und die Grundsätze für das staatliche Förderwesen in Großbritannien formuliert,[13] die stark von der Bloomsbury Group beeinflusst waren, einem Kreis avantgardistischer Bohèmiens, dem er sehr nahestand. Keynes wollte keine staatliche Kunstförderung, die Kunst zu Propagandazwecken missbrauchte, war aber darauf bedacht, Künstler vor den Launen des Markts zu bewahren, Freiraum für Experimente zu eröffnen sowie als elitär geltende Kunstformen wie Oper und Ballett zu subventionieren, um auch einer breiten Öffentlichkeit erhabene und erhebende Kunsterlebnisse zugänglich zu machen.[14] Um den Arts Council vor ideologischer Beeinflussung abzuschirmen, sollte das Gremium die öffentlichen Gelder einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Projekte zukommen lassen. Bei der Gründung verkündete er triumphierend: „At last the public exchequer has recognized the support and encouragement of the civilizing arts of life as a part of their duty.“ Obwohl Keynes die Förderzuschüsse als Überbrückungshilfen begriffen hatte, wuchsen der Arts Council und sein Budget immer mehr an, und schließlich konnten viele britische Kultureinrichtungen nur dank öffentlicher Subventionen überleben.[15]

Thatchers Überzeugungen standen in deutlichem Gegensatz zu diesem Konzept der Kulturpolitik. Sie setzte auf Unternehmenssponsoring oder Zuwendungen von Privatpersonen und sprach den Eliten das Recht ab, der breiten Bevölkerung Vorschriften darüber zu machen, welche Kunst sie zu konsumieren habe. Mit anderen Worten: Die Entscheidung über Förderwürdigkeit oder Irrelevanz von Kunst stehe einzig und allein dem Individuum zu: „[R]eductions in direct taxation will enable many private people to contribute to the arts who have not been able to do so before“, kündigte Thatcher 1979 an.[16] Im folgenden Jahr bekräftigte sie ihren Standpunkt in einer Rede vor der Royal Academy mit dem Hinweis auf die bedeutende Rolle privater Kunstförderung:

„I believe that, even though the heights of artistic creation were often attained under a system of patronage, you cannot achieve a renaissance by simply substituting state patronage for private patronage. To suggest you can is to ignore the essential nature of the personal relationship between artist and patron, namely the cross fertilisation of two cultured minds.“[17]

Wie war es nun um die politische Umsetzung dieser Gedanken bestellt? Thatchers Amtszeit begann 1979 mit einer Kürzung der Zuschüsse des Arts Council um 4,8 Prozent und endete 1990 mit einer weiteren Kürzung um 2,9 Prozent.[18] Anfang der 1980er Jahre machte das Sponsoring durch Unternehmen weniger als zwei Prozent der Kunstförderung in Großbritannien aus – und wuchs auch in den nächsten Jahren nicht schnell genug an, um den Wegfall staatlicher Gelder wettzumachen.[19] Da in Sachen Kunstförderung auf den Staat kein Verlass mehr war und Unternehmen noch nicht in nennenswertem Umfang eingesprungen waren, mussten künstlerische Produktionen aus dem Kartenverkauf finanziert werden. 1987 bemerkte Thatchers Kulturminister Richard Luce, dass „the only test of our ability to succeed is whether we can attract enough customers“.[20] Dieses Thatcher-Dogma taucht auch im Jahresbericht 1987/88 des Arts Council auf, dort formuliert vom damaligen Chairman Lord Rees-Mogg: „We are coming to value the consumer’s judgement as highly as that of the official or expert.“[21] Da stand sie also bereits in voller Blüte, die schöne neue Welt, in der kulturelle Produkte auf dem freien Markt miteinander um Aufmerksamkeit und Absatzmöglichkeiten konkurrieren mussten und Musikproduzenten bei der Programmplanung gezwungen waren, auf garantierte Kassenschlager zu setzen, damit die Produktionskosten an der Abendkasse wieder eingespielt werden konnten. Von nun an galt das Urteil des Publikums über den Wert eines Kulturprodukts dem von Intellektuellen, Feuilletonisten oder politischen Eliten mindestens als ebenbürtig.[22]

Rees-Moggs Wertschätzung des Konsumentengeschmacks entsprach dem sich zu dieser Zeit vollziehenden allgemeinen Bewusstseinswandel: Kunst und Kultur wurden mehr als Waren mit wirtschaftlichem Nutzen wahrgenommen denn als öffentliches Gut, das von der Regierung aufgrund kultureller und kreativer Kriterien finanziert wurde.[23] In dieser sich neu herausbildenden britischen Kulturindustrie war das Maß für den Wert eines Kunstwerks nicht mehr das Qualitätsurteil von Sachverständigen oder Kritikern, sondern die ökonomische Folgeabschätzung – in Lloyd Webbers Fall: die Kasseneinnahmen.[24]

Die Ideologie des freien Markts führte aber nicht nur ganz allgemein zu einer politischen Bevorzugung von individuellem Unternehmertum gegenüber staatlicher Wirtschaftslenkung, sondern hatte auch erhebliche Auswirkungen auf die Art von Bühnenshows, die überhaupt noch produziert werden konnten, denn der Wert kultureller Produkte bemaß sich nun zunehmend an ihrer Popularität und Rentabilität. Für das Royal Opera House wie auch für das Royal Shakespeare Theatre und das National Theatre hatte die Kürzung der staatlichen Kulturförderungsprogramme Ende der 1980er Jahre einschneidende finanzielle Engpässe zur Folge. In einem Beitrag in der New York Times 1991 nahm der schon zitierte Regisseur Peter Hall – der Thatcher die zerstörerischen Auswirkungen ihrer Kahlschlagpolitik auf den Theaterbetrieb vorgehalten hatte – eine Bestandsaufnahme des in ihrer Amtszeit entstandenen Schadens vor und kam zu dem Ergebnis, dass die Übernahme des amerikanischen Modells der Kulturförderung – Sponsoring durch Unternehmen – zu einem Verstummen der Avantgarde geführt habe. Und, was noch schlimmer sei: Thatchers Kulturpolitik habe insgesamt darauf abgezielt, die politische Opposition zu unterdrücken:

„Thatcherism meant more than a reduction of subsidy; there was also a change of tone. From the start, the arts were suspected of encouraging left-wing tendencies. This is an insecurity common to authoritarian governments throughout history, whether radical or reactionary. Acceptable art must be bland and unresponsive. If you silence the avant-garde, you help silence dissent. In Mrs. Thatcher’s Britain, artists were not valued. The attitude was that they should pull themselves together and get proper jobs. Paradoxically, a Conservative Prime Minister in no sense conserved. Innovation was disregarded and English nonconformity and eccentricity repressed.“[25]

Mit seinem Plädoyer für die Beibehaltung staatlicher Subventionierung nach dem keynesianischen Modell erwies sich Hall gewissermaßen selbst als traditionell-konservativer Vertreter von Idealen einer herrschenden Klasse, die die Bevölkerung in der Nachkriegszeit mit den Mitteln einer intellektuell anspruchsvollen Hochkultur mit angeblich typisch englischen Merkmalen wie „nonconformity and eccentricity“ erbauen und bilden wollte. Wie Andrew Blake anmerkte, befanden sich freilich unter den modernistischen Komponisten und akademisch gebildeten Experten durchaus auch solche, die Verachtung für das breite Publikum hegten, „whose tastes they could bypass by means of subsidy from the Arts Council and elsewhere“.[26] Und nicht alle staatlich subventionierten Kulturinstitutionen waren unweigerlich auch schon Bollwerke der Avantgarde, wie man am Beispiel des Royal Opera House, des National Theatre oder der Royal Shakespeare Company sieht, die für die Bewahrung des literarischen Kanons und das Wiederkäuen des Repertoires längst vergangener Zeiten stehen. Nicht ganz zu Unrecht wurde der Arts Council daher auch schon einmal provokant als „force for cultural conservatism“ bezeichnet.[27]

Anders als Hall meinte, waren weder Thatcher noch ihrer Regierung Überlegungen zur Förderung von Innovationen fremd, mochten sie dabei auch eher die ökonomische als künstlerische Belebung und Vielfalt im Sinn haben. Auch befürworteten sie die Kultivierung des britischen Nationalcharakters, nur dass jetzt eben ganz andere Eigenschaften gefragt waren: Britische Exzentrik gehörte der Vergangenheit an, britisches Unternehmertum war das Gebot der Stunde.[28] Not macht bekanntlich erfinderisch, und so führte das Versiegen der staatlichen Förderung dazu, dass die ehemals scharfe Trennlinie zwischen Hoch- und Populärkultur zusehends verschwamm.[29] Der damalige Direktor der Royal Shakespeare Company, Trevor Nunn, tat sich gleich mehrmals mit Lloyd Webber zusammen und zeichnete als Co-Regisseur (gemeinsam mit John Caird) unter anderem für die englischsprachige Premiere von „Les Misérables“ verantwortlich, ein Gemeinschaftsprojekt der Royal Shakespeare Company und des britischen Theater- und Musicalproduzenten Cameron Mackintosh. Die Musicalaufführungen der Thatcher-Ära beruhten insofern auf der Zusammenarbeit von Produktionsteams aus dem freien und dem öffentlichen Theaterbetrieb und wurden teilweise – „Les Misérables“ ist ein Beispiel – erst durch die Zusatzfinanzierung eines subventionierten Theaterbetriebs ermöglicht.

III. Der Siegeszug des Individuums

Nicht nur wegen seiner finanziellen Rentabilität, sondern auch aus inhaltlichen Gründen hatte Michael Billington das Musical der 1980er Jahre als „Thatcherism in action“ bezeichnet: Es sei „the ultimate celebrant of individualism“.[30] Dieses Urteil enthält ein Gran Wahrheit, ist aber doch ein wenig zu einfach, denn wie die Zeitgeschichtsforschung herausgearbeitet hat, hatte Thatcher ihren Aufstieg zur Macht unter anderem der zunehmend vom Individualismus geprägten Gesellschaft der Nachkriegszeit zu verdanken. Unter diesem Blickwinkel wäre Thatchers Politik eher Spiegel als Motor des in allen Gesellschaftsschichten anwachsenden Wunschs nach mehr individueller Freiheit und Selbstbestimmung.[31]

Eine der Grundüberzeugungen des Thatcherismus lautete, staatliche Eingriffe in die Wirtschaft lähmten die individuelle Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung. Durch den Rückzug des Staats aus weiten Teilen des Wirtschaftslebens sollte die individuelle Entfaltung gefördert und es dem Einzelnen ermöglicht werden, maximalen Gewinn aus eigener harter Arbeit zu ziehen. Der Thatcherismus verschaffte dem Leistungsprinzip größere Geltung und basierte auf der meritokratischen Vorstellung, dass der Wettbewerb der Talente Erfolge fördere. Diese politische Überzeugung speiste sich auch aus Thatchers eigener Biografie. Die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Tochter eines Kolonialwarenhändlers war stolz darauf, ihren gesellschaftlichen Aufstieg einzig und allein ihrem Talent und dem eigenen Fleiß zu verdanken. Auf das autobiografische Narrativ, dass man es aus eigener Kraft nach oben schaffen könne, griff sie immer wieder zurück, so auch 1983 in einem Interview mit der Sun, in dem es unter anderem um die Frage der Beibehaltung oder Abschaffung der als elitär geltenden Grammar Schools, einer Art Gymnasium mit selektiver Eingangsprüfung, ging:

„I again insisted on keeping the grammar schools because there were people like me who needed grammar schools to climb the ladder to be equal to the people who started in at the top, and that was twisted, that it was elitist, and I said it is not elitist at all, it doesn’t matter what your background is. I believe in merit, I belong to meritocracy, and I don’t care two hoots what your background is.“[32]

Um die Ideale der Leistungsgesellschaft und einen ehrgeizigen Außenseiter – die veraltete rostige Dampflok Rusty – geht es auch in Andrew Lloyd Webbers Musical „Starlight Express“ (1984). Das Musical basiert auf der Kinderbuchreihe „TheRailway Series des Briten Wilbert Vere Awdry, die von harter Arbeit, Ausdauer und klaren sozialen Hierarchien handelt und zu deren großer Fangemeinde auch Lloyd Webber gehört. Er nannte sein eigenes Unternehmen Really Useful Group – eine Anspielung auf ein Buch aus dieser Reihe mit dem Titel Really Useful Engine. „The moral of the books is that a properly brung up engine must be Really Useful all the time“, so brachte Lloyd Webber die Handlung selbst auf den Punkt.[33] Auch Thatcher betonte immer wieder die Bedeutung einer starken Arbeitsmoral – eine Überzeugung, die sie nach eigener Aussage wie ihren Wertekanon überhaupt ihrer viktorianischen Großmutter zu verdanken hatte:

„You were taught to work jolly hard, you were taught to improve yourself, you were taught self-reliance, you were taught to live within your income, you were taught that cleanliness was next to godliness. You were taught self-respect, you were taught always to give a hand to your neighbour, you were taught tremendous pride in your country, you were taught to be a good member of your community.“[34]

1974 hatte sich Lloyd Webber mit dem Vorschlag an Awdry gewandt, die Bücher zu einer animierten Musicalserie für das Fernsehen zu adaptieren. Er erhielt zwar die Genehmigung des Autors, ließ den Plan aber zunächst fallen[35] und griff die Idee erst für „Starlight Express“ wieder auf. Und wie bei Awdry lautet die Botschaft des Musicals, dass man mit Fleiß, Arbeit und eisernem Willen über die Grenzen der eigenen Herkunft hinauswachsen kann. Wer gewann schließlich das Rennen um die schnellste Eisenbahn der Welt? Die alte Dampflok, die sich gegen moderne Technologien wie Diesel- und Elektroantrieb durchsetzte.

Der Leistungswettbewerb und der Glaube an den eigenen Erfolg bilden den thematischen Kern von „Starlight Express“, denn die Rahmenerzählung – der Traum eines Kinds von der Weltmeisterschaft seiner Spielzeugzüge – ist ein eher schwacher dramaturgischer Kniff für die Aufeinanderfolge haarsträubender Wettrennen.[36] Es ist daher auch geradezu verlockend, den gesamten Plot des Musicals als Allegorie auf die Vorzüge und Tücken des marktliberalen Kapitalismus zu lesen. Die Sieger kommen in den Genuss erheblicher Vorteile, die Verlierer buchstäblich zu Schaden – zudem zeigen sich zahlreiche Prinzipien der Leistungsgesellschaft. Als die kleine, verrostete Dampflok Rusty den legendären Starlight Express vor dem entscheidenden Rennen um Unterstützung bittet, erteilt dieser ihr eine wichtige Lektion: Wer zu Erfolg kommen will, muss an sich selbst glauben und darf sich nicht auf andere verlassen: „Needn’t beg the world to turn around and help you/If you draw on what is deep inside“ – für Billington eine Lobpreisung des Thatcherismus: „As Rusty discovered that the magical Starlight Express lay within himself, the show combined the now obligatory numinous climax with a hymn to Thatcherite individualism.“[37]

Als Mixtur lässt sich auch die aus einer Aneinanderreihung von Songs mit eingängigen Melodien aus verschiedenen Musikstilen bestehende Partitur bezeichnen, die ebenfalls auf Individualismus und Verbraucherakzeptanz abzielt. Für jeden Geschmack ist etwas dabei, darunter Country-Musik („U.N.C.O.U.P.L.E.D.“), Rock’n’Roll im Stil Elvis Presleys („Pumping Iron“), Synthiepop („AC/DC“), Rap („The Rap“), Power-Balladen („Only He/Only You“), Blues und Gospel („Poppa’s Blues“, „Light at the End of the Tunnel“). Im Laufe der Jahre hat Lloyd Webber dem Musical immer wieder neue Songs hinzugefügt oder von jüngeren Musikern – darunter sein Sohn Alistair – komponieren lassen, um stilistisch mit den jeweils aktuellen musikalischen Entwicklungen Schritt zu halten. Im Wesentlichen setzt sich „Starlight Express“ aus Einzelteilen zusammen, die man wie die Züge voneinander abkoppeln kann und die austauschbar sind. Hat ein Song ausgedient, tritt ein anderer an seine Stelle, um den kommerziellen Erfolg nicht zu gefährden. Frei nach Richard Luce gesprochen: Hauptsache, das Musical bleibt gut verkäuflich. Und gut zu verkaufen war „Starlight Express“ in der Tat. Bei der Kritik weitgehend durchgefallen, feierte – und feiert – das Musical unbeirrt weltweit große Erfolge, vor allem in Deutschland, wo es seit 1988 in einem eigens dafür erbauten Theater in Bochum ohne Unterbrechung aufgeführt wird. Der Beliebtheit von „Starlight Express“ tat es also offenbar keinen Abbruch, dass die Huldigung des Thatcherismus einem ausländischen Publikum weitgehend verborgen bleiben musste, stieß die leistungsethische Botschaft doch weithin auf Anklang.

Das Spektakel „Starlight Express“ folgt in vielerlei Hinsicht dem bereits beim Hit-Musical „Cats“ (1981) erfolgreichen Schema, eine Wettbewerbs-Story mit einem musikalischen Stilmix zu verbinden. „Cats“ handelt von einer Art Eurovision Song Contest für Katzen mit der Aussicht auf die Fahrt zum Heaviside Layer („Journey to the Heaviside Layer“). Ausgetragen wird der Wettbewerb mit Tanznummern und Liedern, und am Ende bestimmt der gottgleiche Richter Old Deuteronomy darüber, welche Katze ein neues Leben erhält. Wie die Züge in „Starlight Express“ stellen sich auch die Katzen mit sehr unterschiedlichen, diesmal allerdings nicht ausschließlich dem Repertoire des 20. Jahrhunderts entnommenen Songs vor. Wie T.S. Eliots Gedichte, auf denen das Libretto basiert, lebt in „Cats“ musikalisch die Vergangenheit und insbesondere das Viktorianische Zeitalter wieder auf – auch dies eine ästhetische Entscheidung mit Parallelen zum Thatcherismus.

IV. Nostalgische Sehnsucht nach dem viktorianischen England

Für Thatcher war das Viktorianische Zeitalter eine Epoche, in der harte Arbeit und traditionelle Tugenden noch etwas galten und Großbritannien mit seinem Empire eine wirtschaftliche Vormachtstellung genoss. Durch die Anknüpfung an eine ruhmreiche Vergangenheit hoffte sie, den Nationalstolz in ihrem Land wiederzubeleben, das inzwischen seine Hegemonie eingebüßt und mit einem wirtschaftlichen Niedergang zu kämpfen hatte. Imperialismus und Klassengegensätze, die das nostalgische Bild des Viktorianischen Zeitalters hätten trüben können, blendete sie dabei wohlweislich aus und betonte stattdessen die strenge Arbeitsmoral und „the values when our country became great“.[38] Wie bereits erwähnt, hatte Thatcher ihre solide Arbeitsmoral nach eigener Aussage ihrer viktorianischen Großmutter zu verdanken, und als in einem Interview mit dem Journalisten und ehemaligen Labour-Abgeordneten Brian Walden in Weekend World die Rede auf viktorianische Tugenden kam, geriet sie geradezu ins Schwärmen: Der Wertekanon dieser Epoche habe dazu geführt, dass jeder Einzelne zum Gemeinwohl beigetragen habe, und das ganz ohne staatlichen Zwang:

„Those were the values when our country became great, but not only did our country become great internationally, also so much advance was made in this country. Colossal advance, as people prospered themselves so they gave great voluntary things to the State. So many of the schools we replace now were voluntary schools, so many of the hospitals we replace were hospitals given by this great benefaction feeling that we have in Britain, even some of the prisons, the Town Halls. As our people prospered, so they used their independence and initiative to prosper others, not compulsion by the State.“[39]

Thatcher glaubte also fest daran, dass die Wiederbelebung viktorianischer Tugenden dem Bedeutungsverlust der Nation Einhalt gebieten könne. In Politik übersetzt bedeutete dies, dass die private Mildtätigkeit an die Stelle von Steuergeldern und öffentlichen Aufträgen zu treten hatte. Nigel Lawson, Schatzkanzler zwischen 1983 und 1989, definierte den Thatcherismus entsprechend als „a mixture of free markets, financial discipline, firm control over public expenditure, tax cuts, nationalism, ‚Victorian values‘ (of the Samuel Smiles self-help variety), privatization and a dash of populism“.[40]

Auch in „Cats“ erfährt das Viktorianische Zeitalter ein Revival. Dies ergibt sich bereits aus der literarischen Vorlage, auf die Lloyd Webber und seine künstlerischen Partner – Regisseur Trevor Nunn, Bühnenbildner John Napier und Choreografin Gillian Lynne – für Libretto, Partitur und Inszenierung zurückgriffen: T.S. Eliots 1939 erschienener Gedichtband „Old Possum’s Book of Practical Cats“. Aus den Katzengedichten des gebürtigen Amerikaners Eliot spricht, wie Kathryn Lowerre schrieb, die Sehnsucht „for an English Victorian childhood [he] never had“.[41] Lloyd Webber betrachtete den Traditionalisten Eliot – inzwischen eine Galionsfigur konservativer Denker –, dessen Innovationen auf dem Gebiet der Lyrik dem Zweck dienten, das große Erbe dieser Kunstform in eine neue Zeit hinüberzuretten, als Seelenverwandten.[42] Mag die Nähe zu Thatchers Ausführungen über die Vorzüge der viktorianischen Tugenden auch rein zufällig sein, ist es doch aufschlussreich, wie er sein besonderes Interesse an Eliots Vorlage begründete:

„I have, you see, a very sort of Victorian work ethic, which means I am constantly looking for things to do which I haven’t tried my hand at before. I remembered the Cats book from when I was a kid, and I knew it was witty, funny and definitely lyrical, because Eliot shows his Americanism every other minute.“[43]

Bei aller Unterschiedlichkeit ist Lloyd Webbers und Thatchers Verständnis von viktorianischen Tugenden eines gemeinsam: der nostalgische Blick auf den Unternehmensgeist, der England einmal, wie es heißt, „groß gemacht“ hat.[44]

„Cats“ atmet zwar wie T.S. Eliots literarische Vorlage den Geist des Viktorianischen Zeitalters, bricht aber die Musik- und Bildkultur der Epoche in Fragmente auf und setzt diese neu zusammen. Wie Thatcher und ihre Regierung griffen sich Lloyd Webber und sein Team jeweils die Elemente und Motive heraus, die ihren Zwecken dienlich waren. Aus Eliots Gedichten übernommen wurden etwa die viktorianischen Moralvorstellungen und Geschlechterrollen. So entspricht die Glamour-Katze Grizabella dem in der Kunst des 19. Jahrhunderts verbreiteten Archetyp der von der Gesellschaft verstoßenen und doch Mitgefühl erregenden „fallen woman“.[45] Die Gumbie-Katze Jennyanydots wiederum verkörpert den Typus der strengen, Müßiggang und Sittenverfall bekämpfenden viktorianischen „mother/teacher“ in Katzengestalt.[46] Jede Nacht, „when the day’s hustle and bustle is done“, macht sie sich an die Arbeit, den Mäusen und Kakerlaken Benimm einzutrichtern und sie sinnvoll zu beschäftigen. Im Wechselgesang mit ihr erklärt das „Gumbie Trio“: „She is deeply concerned with the ways of the mice“, worauf Jennyanydots einstimmt: „Their behaviour’s not good and their manners not nice.“ Um die Mäuse zu domestizieren, unterweist Jennyanydots sie in „Music, crocheting and tatting“, mithin in den zeitgemäßen häuslichen Schlüsselqualifikationen. Auch die Kakerlaken, befindet Jennyanydots, bedürfen einer dringenden Verhaltenskorrektur, „[they] just need employment“. Und so betraut sie die Halbstarken mit sinnvollen Aufgaben und bildet „a troop of well-disciplined helpful boy scouts“.

Auch musikalisch evoziert „Cats“ die Ästhetik des Viktorianismus oder allgemeiner des 19. Jahrhunderts, wobei Lloyd Webber sehr frei mit den historischen Versatzstücken verfährt und seine Melodien nicht unbedingt konkret Assoziationen an das Viktorianische Zeitalter, sondern eher allgemein an vergangene Zeiten wachrufen. Ein Beispiel dafür ist der Stilwechsel im Gumbie-Katzen-Song, der, in der Londoner Originalbesetzung von der Figur Quaxo zur Keyboard-Begleitung gesungen, an viktorianische Salonmusik erinnert, dann aber im dreistimmigen Refrain im Stil der Andrews Sisters abrupt das Genre wechselt. Der 1948 geborene Lloyd Webber verbindet in diesem Stilmix zwei höchst unterschiedliche Genres, die jeweils für seine eigene und T.S. Eliots Kindheit prägend waren. Auch Grizabellas Power-Ballade „Memory“ steht im Dialog mit der Vergangenheit, mag das Vorbild – die italienische Oper Giacomo Puccinis – auch nicht allen Zuhörern geläufig sein. Jedenfalls reiht sich die gefallene Glamour-Katze damit in die lange Operntradition der gefallenen Frauenfiguren ein, zu denen auch die arme, tuberkulöse Blumenstickerin Mimí aus „La Bohème“ (1896) gehört.[47]

Während im Gumbie-Katzen-Song und in „Memory“ unterschiedliche Stilrichtungen des musikalischen Repertoires aus der Vergangenheit zusammenmontiert werden, nimmt ein Song der Londoner Originalfassung ganz konkret auf die Populärkultur der Viktorianischen Ära Bezug. In der Szene „Gus, der Theaterkater“ erzählt der alte Asparagus/Gus von seinem größten Bühnenerfolg als britischer Pirat Growltiger. Gegen Ende der Szene geben Growltiger und die von ihm angehimmelte Griddlebone ein letztes Duett zum Besten, den Cockney Music Hall-Walzer „The Ballad of Billy McCaw“. Music Halls waren Unterhaltungsstätten, die Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts in London ihre Blütezeit erlebten. Der nach ihnen benannte Musikstil bezeichnet eingängige Lieder komischen oder sentimentalen Inhalts, die von kostümierten Darstellern zur Aufführung gebracht wurden und oft in Dialekt verfasst waren. Häufig wurde das Publikum dabei auch zum Mitsingen des Refrains aufgefordert.[48] Einflüsse dieses Stils, der die britische Musik nachhaltig geprägt hat, finden sich sowohl in zahlreichen Musicals („Oliver!“, „My Fair Lady“) als auch in der Pop- und Rockmusik (etwa „When I’m Sixty-Four“), und es ist gut möglich, dass Lloyd Webber ihm erstmals auf diesem Wege begegnete, nicht über die Music Hall-Originale aus der Viktorianischen Epoche.[49]

Doch unabhängig davon, wo er zum ersten Mal diese Musik hörte, „The Ballad of Billy McCaw“ enthält unverkennbar einige typische Merkmale eines Music Hall-Songs: einen Refrain zum Mitsingen (Duett von Growltiger und Griddlebone), eine Feier des Bar- und Kneipenlebens, exzentrische Figuren (ein talentierter Papagei, Billy McCaw) und ein mundartlicher Text (Cockney). Mit dem Rückgriff auf den Music Hall-Stil bediente Lloyd Webber das bereits aus dem Gumbie-Katzen-Song bekannte Muster: Er schlug eine Brücke zwischen dem Geschmack seiner eigenen Generation und dem des 19. Jahrhunderts, indem er die bei den britischen Babyboomern beliebten Popsongs, die an traditionelle popkulturelle Elemente anknüpften, mit den in der Regierungszeit Thatchers häufig wiederholten populistisch-nationalistischen Appellen verband, die Blütezeit des Zeitalters Victorias als Vorbild zu nehmen.

Doch die Szene offenbart auch einige Schattenseiten des Viktorianischen Zeitalters (und der 1980er Jahre). Der alltägliche, allgegenwärtige Rassismus ist bereits thematisch in T.S. Eliots Gedicht „Growltiger’s Last Stand“ angelegt, das den Kampf des ungezähmten britischen Antihelden Growltiger gegen seine siamesischen Feinde schildert. Wie im Gedicht werden diese auch im Libretto der Londoner Inszenierung rassistisch überzeichnet. Der nasale Gesang der siamesischen Katzen zu pentatonischen (also aus Quintenschritten bestehenden) Tonleitern signalisiert für westliche Ohren das exotische Asien.[50] Anders gesagt: Zu Eliots rassistischem Gedicht komponierte Lloyd Webber eine rassistische Melodie und zementierte damit Auffassungen, die im 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung imperialer Ansprüche dienten und in Großbritannien bis heute ihr Unwesen treiben. Zu Lloyd Webbers Jugendzeit wurde rassistisches Gedankengut noch offen ausgesprochen, ein berühmt-berüchtigtes Beispiel ist Enoch Powells „Rivers of Blood“-Rede von 1968, in der der erzkonservative Politiker seine Zuhörerschaft vor den Folgen ungebremster Zuwanderung aus dem Commonwealth nach Großbritannien warnte und mit rassistischer Rhetorik um die Stimmen der weißen Arbeiterschaft in den urbanen Zentren der Migration warb. Zwar kostete Powell diese Rede seinen Sitz im Schattenkabinett des konservativen Oppositionsführers Edward Heath, aber als Thatcher die Regierung übernahm, war die Warnung, Einwanderung sei eine Gefahr für die Identität der Briten als weiße Mehrheitsgesellschaft, bereits zum festen Versatzstück konservativer Rhetorik geworden.[51]

Auch in seinem berühmtesten Musical „The Phantom of the Opera“ (1986) setzte sich Lloyd Webber mit dem Viktorianismus auseinander. Schauplatz ist diesmal zwar – wie in Gaston Leroux’ Romanvorlage aus dem Jahr 1911 – Paris, aber dennoch finden sich in der Musical-Adaption zahlreiche Rückgriffe auf die viktorianische Kunst und Kultur, angefangen bei der präraffaelitischen Lockenpracht der Protagonistin Christine Daaé. Stacy Wolf hat die rückschrittlichen Geschlechterrollen in „The Phantom of the Opera“ (ein passives, unschuldiges Mädchen als Protagonistin, aktive, die Handlung bestimmende Männer) mit dem konservativen Backlash der Reagan/Thatcher-Ära in Verbindung gebracht,[52] oder, in unserem Kontext gesprochen, mit den viktorianischen Tugenden des Thatcherismus. Doch bereits Leroux hatte in seiner Romanvorlage Topoi der viktorianischen Literatur übernommen. Darauf verweist auch der offizielle Study Guide zu „The Phantom of the Opera“ und empfiehlt eine vergleichende Lektüre von Romanen der viktorianischen Literatur, insbesondere Gothic Novels wie „Dracula“, „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ und „Frankenstein“ mit ihrer „fascination with horror, repressed sexuality and the dual nature of man“.[53]

V. Antiintellektualismus und konventionelle Mainstream-Ästhetik

Der Plot von „The Phantom of the Opera“ enthält zwar wesentliche Elemente des englischen Schauerromans, ansonsten ist der Bezugspunkt aber im Vergleich zu „Cats“ und „Starlight Express“ weniger die britische Kultur als vielmehr, dem Schauplatz des Musicals entsprechend, die kontinentaleuropäische Operntradition. Ein weiterer Unterschied zu „Cats“ und „Starlight Express“ besteht darin, dass die Vergangenheit hier weniger in nostalgischer Verklärung als vielmehr durchaus ambivalent gezeichnet wird. Für Lloyd Webbers Adaption der Operntradition in diesem Musical lohnt ein Blick auf Thatchers populistische Politik und deren Auswirkungen auf die Elitenkultur.[54]

Denn in den 1980er Jahren war die Entwertung der staatlich subventionierten bildungsbürgerlichen Kunst und Kultur durch die Thatcher-Regierung bereits weit fortgeschritten. Wie Christopher Bradley in seinem Buch über die thatcheristische Kulturpolitik schrieb, konnte Thatcher wenig anfangen mit „the whole basis of the welfare state and the public good justification which had led to the postwar policy of saving highbrow culture“.[55] Diese politische Position hatte weitreichende kulturpolitische Auswirkungen, wie an Thatchers Auseinandersetzung mit Peter Hall über die Streichungen der staatlichen Subventionierung des Kulturbetriebs deutlich geworden ist. Die Regierungschefin und ihre Minister waren der festen Überzeugung, dass die Konsumenten darüber zu entscheiden hatten, welche Kunst es wert war, sich durchzusetzen. Wie bedauerlich nur, bemerkte Hall einmal bissig, dass es den Abnehmern der Produkte an ästhetischer Urteilskraft mangele: „I don’t think Thatcherism bred any Mozarts. The most successful composer of the time was Andrew Lloyd Webber.“[56]

Damit traf Hall den Nagel auf den Kopf. Denn für Konservative wie Thatcher galt es bereits als Arroganz und elitäres Gehabe, Mozart über Lloyd Webber zu stellen. Dabei war die Premierministerin eine große Opernliebhaberin. Doch bei ihrem Begräbnis 2013 zeichnete ihr Freund, der Bestsellerautor Frederick Forsyth, ein anderes Bild von ihr, das in Einklang mit ihrem antielitären Habitus stand: „She didn’t hog any box at the Coliseum or the Royal Opera House [...]. For the trendies, she was anathema. She was very middle-brow [...]. She refused not to be one of the ordinary people.“[57]

Die Charakterisierung Thatchers als einer bodenständigen, im Volk verwurzelten Frau mit Durchschnittsgeschmack passt zu dem unter Rechtskonservativen verbreiteten Antiintellektualismus und zur Abgrenzung von den alten Eliten, die angeblich für den wirtschaftlichen Niedergang Großbritanniens verantwortlich waren. 1955 hatte der britische Journalist Henry Fairlie, Kolumnist des konservativen Spectator, für diese Eliten einen Namen geprägt: „Establishment“:

„By the ‚Establishment,‘ I do not only mean the centres of official power – though they are certainly part of it – but rather the whole matrix of official and social relations within which power is exercised. The exercise of power in the United Kingdom (more specifically, in England) cannot be understood unless it is recognized that it is exercised socially.“[58]

Nach Fairlie gehörten zu den „centres of official power“ neben dem Königshaus und der Aristokratie auch alle Gruppierungen, die die Schlüsselpositionen in der Gesellschaft besetzten, also Akademiker, der Klerus und die Lehrerschaft. Namentlich nannte er den Chairman des Arts Council, den Generaldirektor der BBC und den Herausgeber des Times Literary Supplement.[59] Die Entmachtung dieser Gruppierungen, an deren Stelle eine neue herrschende Klasse mit mehr Interesse an individueller Eigenverantwortung und Schaffung von Wohlstand treten sollte, war ein erklärtes Ziel der Thatcher-Regierung. Aus dem traditionellen, sozialistisch/marxistischen Theorem der Klassengegensätze zwischen Proletariat und Bourgeoisie wurde unter Thatcher die Dichotomie zwischen den nicht näher bestimmten „ordinary working people“ und einem „(liberal) ‚Establishment‘“, dessen Einfluss es zu minimieren galt.[60] Andrew Turnbull, unter Thatcher für den öffentlichen Dienst verantwortlich, erläuterte einmal, wie sich diese Ansichten auf das Rekrutierungswesen auswirkten:

„[T]he classics people, the humanities people slowly got replaced. We used to have people who were experts when I arrived, on Byron, and musicians. Rather refined people. Then, rather hard-nosed economists gradually took over and the dominant culture became not music, but football and golf as the kind of cultural shift.“[61]

Die ambivalente Stellung der Oper im Musical „The Phantom of the Opera“ ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen dieser dem Zeitgeist geschuldeten Verachtung für die britischen Eliten und Intellektuellen einerseits und Lloyd Webbers familiärem Hintergrund und persönlichen Neigungen andererseits. Die Lloyd Webbers waren eine musikalische Familie, die Mutter war eine bekannte Klavierlehrerin, der aus der Arbeiterschaft stammende Vater, William Lloyd Webber, Kirchenmusiker und Komponist. Schon früh hatte ihn ein Stipendium an das Royal College of Music geführt, wo er in der Folge als Professor Musiktheorie und Komposition lehrte. Später leitete er das London College of Music.[62] Die klassische Musik verband die Familie also nicht nur beruflich, ihr hatte sie auch ihren sozialen Aufstieg in die gehobene Mittelschicht zu verdanken.

Lloyd Webber war zwar von Kindesbeinen an mit klassischer Musik vertraut, aber die Anerkennung der Fachwelt blieb ihm ebenso wie seinem Vater weitgehend verwehrt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Andrew Lloyd Webbers Abstecher in die Klassik galten bei Musikkritikern, Musikwissenschaftlern und Komponisten als schwache Kopien seiner Vorbilder oder gar als Plagiate.[63] Sein Vater wiederum hatte sich auf die akademische Lehrtätigkeit zurückgezogen, weil seine Kompositionen tonaler Musik nicht dem modernistischen Zeitgeschmack entsprachen. Doch der Generation seines Sohns standen bereits andere Möglichkeiten offen als die Flucht in den akademischen Elfenbeinturm; ihr öffnete sich das Feld der Populärmusik. Wie Andrew Lloyd Webber in seiner Autobiografie schrieb, wäre ein solches Genre für seinen Vater noch undenkbar gewesen: „[I]n the 1930s it would have seemed like a heinous case of letting the side down for a working-class boy who had won every sort of academic gong to demean himself in the world of ‚commercial‘ music.“[64]

Für Andrew Lloyd Webber hingegen stellte es aufgrund seiner Generationszugehörigkeit, seiner Herkunft aus der Mittelschicht und seiner musikalischen Vorlieben kein Problem mehr dar, in einem populären, auf den Normalverbraucher zugeschnittenen Stil zu komponieren, in dem sich Elemente des Musicalkomponisten Richard Rodgers, Oper und Rock’n’Roll miteinander verbanden – und er empfand die Kennzeichnung Spießbürger auch nicht mehr als Schimpfwort. Die britischen Rockbands der 1960er Jahre, die ihre Alben in Begleitung von großen Orchestern einspielten und sich mit klassischen und avantgardistischen Idiomen auseinandersetzten – als Beispiele mögen die Beatles mit ihrem orchestralen Baroque Pop-Song „Eleanor Rigby“ und ihrer avantgardistischen Klangcollage „Revolution 9“ sowie die Rockoper „Tommy“ genügen –, hatten die herkömmliche Unterscheidung zwischen E- und U-Musik ohnehin obsolet gemacht. Auf ganz ähnliche Weise verwischte auch Lloyd Webber stilistisch die Grenze zwischen klassischen und populären Musikgenres. „Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat“ konzipierte er ursprünglich als Popkantate für Schulkinder, „Jesus Christ Superstar“ bezeichnete er als Rockoper und „Evita“ schlicht als Oper.

Diesem genreüberschreitenden Ansatz folgend, ist „The Phantom of the Opera“ ein Stilmix aus Pop, Oper und Musiktheater: Das Musical überwindet den Gegensatz zwischen Eliten- und Massenkultur, indem es Elemente anspruchsvoller Musik in eine Ware verwandelt, die auf dem freien Markt für eine breite Hörerschaft attraktiv sein soll. Man könnte „The Phantom of the Opera“ sogar als einen Vorboten der Oper und klassische Musik demokratisierenden Crossover-Klassik bezeichnen, die Anfang der 1990er Jahre mit den Konzerten der Drei Tenöre und in Großbritannien mit dem Aufkommen von Classic FM große Erfolge feierte.[65]

Die für das Großbritannien unter Thatcher kennzeichnende Verachtung für das alte konservative Establishment hat auch in Lloyd Webbers kommerzieller Oper Spuren hinterlassen. Im Musical komponiert das Phantom seine eigene Oper, „Don Juan Triumphant“, und erzwingt deren Aufführung. Lloyd Webber scheint sich in der Figur des Phantoms wiederzuerkennen, und es ist daher auch kaum überraschend, dass die Oper des Phantoms im Musical ein ähnliches Schicksal erleidet wie Lloyd Webbers eigene Werke: Sie stößt auf den erbitterten Widerstand des Opern-Establishments, das die Rolle eines Gatekeepers übernimmt. Die Direktion setzt das Stück nur widerwillig und äußerstem Druck gehorchend auf den Spielplan, und die beiden Stars, der Tenor Piangi und die Sopranistin Carlotta, sparen nicht mit herablassenden Bemerkungen über die Partitur. Nur die junge Christine, deren ergebener Bewunderer das Phantom ist, zeigt sich empfänglich für die Melodien. Als Piangi mit den Ganzton-Skalen kämpft, hält Carlotta seine falschen Töne immer noch für besser als die Komposition des Phantoms und bemerkt süffisant: „At least he makes it sound like music.“

Mit dieser selbstreferentiellen Persiflage der Oper, für die es noch viele andere Beispiele im Stück gibt, versuchte Lloyd Webber vielleicht, einem Massenpublikum die Scheu oder Ehrfurcht vor der Gattung Oper zu nehmen. Libretto und Inszenierung parodieren eben die musikalischen und stilistischen Konventionen, die die Opernsänger bedienen. Im Ensemblegesang „Prima Donna“ zum Beispiel wird der Operngesang durch die exaltierte Stimmführung der Sopranistin Carlotta parodiert, die für ihr übertrieben laut und in schrillen Tönen gesungenes Klagelied über das eigene Schicksal in ihre italienische Muttersprache wechselt, gefolgt von der Beschwerde über das Los einer Primadonna, selbst indisponiert noch das Beste geben zu müssen: „Still, the driest throat will reach the highest note.“ Metanarrative Kommentare finden sich ferner im Duett der Opernhausdirektoren André und Firmin, die sich über Opern lustig machen, obwohl sie selbst in einer mitwirken: „You’d never get away/With all this in a play/But if it’s loudly sung/And in a foreign tongue/It’s just the sort of story/Audiences adore/In fact, a perfect opera!“

Parodiert werden aber auch ganz bestimmte Stilrichtungen der Oper, mit denen das Publikum nicht unbedingt vertraut sein muss, um die persiflierende Absicht zu erkennen. Die eigentliche Geschichte beginnt mit den Proben zur fiktiven Oper „Hannibal“ des ebenfalls fiktiven Komponisten Chalumeau, in der Lloyd Webber die französische Grande Opéra des 19. Jahrhunderts mit ihrem behäbigen Chor-, Ballett- und Bühnenspektakel aufs Korn nimmt. Das Publikum wird außerdem geradezu eingeladen, seiner möglichen Voreingenommenheit gegenüber den italienischen Sängerinnen und Sängern freien Lauf zu lassen. Piangi trifft den hohen Ton nicht und Carlotta singt ihre recht schlichte Arie „Think of Me“ in Verkennung des Musikstils so unangemessen, dass die Darbietung ins Lächerliche gezogen wird. Das Artifizielle ihres Vortrags mit gerollten Rs und sprunghaften Portamenti bedient die seit Händel in England fest verankerten Klischees über exaltierte italienische Operndiven. Selbst ein Publikum, das die Vorlagen für Lloyd Webbers Parodie nicht im Einzelnen kennt, wird die Unangemessenheit der musikalischen Darstellung doch so verstehen, dass die Opernsängerinnen und -sänger zwar über musikalische Ausbildung und Expertise verfügen, nicht aber über Empfinden und Urteilsvermögen.

Lloyd Webbers verspottende Karikatur zeigt seine Vertrautheit mit dem Genre Oper. Aber auch gutmütiger Spott bleibt immer noch Spott – und erst dieser ermöglicht Lloyd Webbers Publikum den Kunstgenuss – Stilmittel der Oper in Form des breitentauglichen Musicals. Das Pompöse und Grandiose der Oper wird in Lloyd Webbers musikalischen Parodien der Lächerlichkeit preisgegeben und entkräftet. Mehr noch, die beiden Opernstars Carlotta und Piangi erweisen sich als die eigentlichen Verächter der wahren Kunst. Als snobistische Gatekeeper des Kulturbetriebs vermögen sie nicht einmal, das Talent des Phantoms und den musikalischen Wert seiner Oper überhaupt zu erkennen, und verunstalten seine Melodien mit ihren Gesangskünsten.

VI. Ausnahmen von der Regel

Aber Lloyd Webber – ein Mann voller Widersprüche und Überraschungen – wäre nicht Lloyd Webber, ließe er sich feinsäuberlich in gängige Kategorien einordnen. Gewiss, er war ein Verehrer Thatchers, unterstützte sie auf ihrem Weg ins Zentrum der Macht und war ein unverhohlener Befürworter ihrer Wirtschaftspolitik. Gemeinsam war beiden auch die besondere Vorliebe für das Viktorianische Zeitalter, ebenso einte sie die Ablehnung eines abgehobenen, elitären Kunstverständnisses. Aber das heißt nicht, Lloyd Webber habe alle seine Werke am Publikumsgeschmack ausgerichtet. Weder in Hinblick auf die Themen noch musikalisch ist das der Fall. Dies belegt bereits die vom Phantom komponierte Oper „Don Juan Triumphant“ – eine Anspielung auf die moderne, avantgardistische Musik des 19. Jahrhunderts, die ihrer Zeit weit voraus war. Es zeigt sich aber auch an anderen innovativen, manchmal provokanten Projekten Lloyd Webbers, die vielleicht eher mit Blick auf die Kritikergunst oder in Konkurrenz zu seinem amerikanischen Rivalen Stephen Sondheim, dem größten Erneuerer des Musicals, entstanden und mit denen Lloyd Webber gelegentlich und ganz bewusst kommerzielle Misserfolge riskierte. Ein Beispiel dafür ist „Aspects of Love“ (1989), das Folgeprojekt zu „The Phantom of the Opera“, eine Geschichte voller sexueller Verwicklungen, die in denkbar größtem Kontrast zu viktorianischen Tugendvorstellungen und der Ästhetik des 19. Jahrhunderts steht.

Wie bei den Vorgängerwerken handelt es sich auch dabei um die Adaption einer literarischen Vorlage, aber noch nie zuvor hatte sich Lloyd Webber einem so explizit sexuellen Thema zugewandt. Das Musical „Aspects of Love“ basierte auf David Garnetts gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1955. Der Autor, ein weniger bekanntes Mitglied der Bloomsbury Group,[66] teilte die Ästhetik dieser schillernden Verbindung von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen, der E.M. Forster, Lytton Strachey, Virginia Woolf und John Maynard Keynes angehörten, also jener Ökonom, gegen dessen Grundsätze Thatcher, die Tories und Lloyd Webber so vehement opponierten. Dieser Bohème-Zirkel verkörperte zudem eine Lebensauffassung, die in eklatantem Widerspruch zu viktorianischen Moralauffassungen stand und die sowohl in Garnetts Roman als auch in Lloyd Webbers Musical – die Liedtexte stammen von Don Black und Charles Hart – die Handlung bestimmt. Das Libretto schildert die verwickelte Liebesaffäre zwischen dem jungen Engländer Alex, der erfolglosen Schauspielerin Rose, Alexʼ Onkel George (den Rose schließlich heiratet), der bisexuellen Giulietta (zunächst die Geliebte von George, später von Alex), die als Trauzeugin bei der Hochzeit von George und Rose das Recht einfordert, die Braut zu küssen, sowie Jenny, der minderjährigen Tochter von George und Rose, mit der Alex trotz ihrer Jugend eine Romanze verbindet. Das alles ist thematisch meilenweit entfernt von „The Phantom of the Opera“, „Cats“ oder „Starlight Express“.

Musikalisch ging Lloyd Webber in „Aspects of Love“ mit der Oper entlehnten Stilmitteln noch einen Schritt weiter als in „The Phantom of the Opera“, während er zugleich auf eine komplexe, weniger eingängige, stellenweise von Sondheim inspirierte Musiksprache zurückgriff.[67] In seiner Kritik in der New York Times attestierte Frank Rich Lloyd Webber denn auch einen manifesten „Sondheim envy“.[68] Doch selbst in „Aspects of Love“ verzichtete Lloyd Webber nicht ganz und gar auf publikumstaugliche, eingängige Melodien: Alexʼ Ballade „Love Changes Everything“ eroberte – mit großer Ernsthaftigkeit von Michael Ball gesungen – Platz zwei der britischen Pop-Charts und wurde zu einer kommerziell erfolgreichen Hitsingle. Es ist jedoch der einzige Song, mit dem Lloyd Webber Konzessionen an den breiten Publikumsgeschmack machte. Im Kontrast zu seinen Megamusicals und in Anlehnung an die Kammeroper verzichtete er in „Aspects of Love“ auch auf die sonst üblichen Elemente des Bühnenspektakels (man denke an den herabstürzenden Kronleuchter in „The Phantom of the Opera“, die Kostüme und Spezialeffekte in „Cats“, die Züge auf Rollschuhen oder Inline Skates in „Starlight Express“), auch wenn Regisseur Trevor Nunn und die Bühnenbildnerin Maria Björnson der Inszenierung mit einer beweglichen Bühne filmische Qualität verliehen.

Es ist daher auch kaum überraschend, dass der radikale Stilwechsel nicht zu dem erhofften kommerziellen Erfolg führte. Mit 1.325 Aufführungen im West End blieb das Kammermusical weit hinter den vorangegangenen Megaerfolgen zurück. Dass es überhaupt so lange auf dem Spielplan blieb, war der Kulanz des Publikums zu verdanken, das sich auch von schlechten Kritiken nicht abschrecken ließ und seine im Vorverkauf erstandenen Karten behielt.[69] Man wollte sehen und hören, welche Trümpfe der Komponist des „Phantoms“ im Ärmel hatte, verlor dann aber sichtlich das Interesse. Die Vorzeichen für die Aufführungen am Broadway waren entsprechend schlecht: „Aspects of Love“ konnte mit insgesamt nur 376 Aufführungen die Gesamtinvestitionen in Höhe von acht Millionen US-Dollar nicht wieder einspielen. Das alles hielt aber die Kritik, allen voran Lloyd Webbers langjährigen Erzwidersacher Frank Rich von der New York Times, nicht davon ab, weiterhin Parallelen zum Thatcherismus zu ziehen: „Even when women strip to lacy undergarments, the lingerie doesn’t suggest the erotic fantasies of Frederick’s of Hollywood so much as the no-nonsense austerity of Margaret Thatcher’s Britain.“[70] In seiner Besprechung von „The Phantom of the Opera“ hatte Rich noch zu Recht darauf hingewiesen, dass Lloyd Webber mit seinen Melodien den Zeitgeist treffe.[71] Aber den Zeitgeist der 1990er Jahre vermochte Rich offenbar nicht mehr recht einzuschätzen und übersah, wie sehr Thatchers Politik der harten Hand bereits an Zuspruch verloren hatte. Im März 1990, einen Monat vor der Premiere von „Aspects of Love“ am Broadway, war es in London zu Demonstrationen und Ausschreitungen als Reaktion auf die Einführung der sogenannten Kopfsteuer gekommen. Im November desselben Jahrs war Thatcher nicht mehr Premierministerin.

Freilich scheint es so, als sei Lloyd Webbers Schicksal mit dem Thatchers verknüpft. Der Zeitpunkt ihres Machtverlusts fiel mit seinem schwindenden Einfluss zusammen. Mit seinen neueren Musicals vermochte der Komponist nie wieder an die großen Erfolge der 1980er Jahre anzuknüpfen. Schon mit „Aspects of Love“ hatte er den Finger nicht mehr am Puls der Zeit. Und nach 1989 ließ Lloyd Webber noch mehr von dem hinter sich, was ihn zuvor zum Publikumsliebling hatte werden lassen: Viktorianismus, Vergangenheitsverklärung, Bühnenspektakel und Parodien auf die sogenannte Hochkultur. Bei „Aspects of Love“ und den nachfolgenden Werken fehlte jede ironische Distanz zum Genre Oper (vor allem „Love Never Dies“, das Sequel-Musical zu „The Phantom of the Opera“), und sie stellten auch aufgrund der Themenwahl eine gewisse Herausforderung für den Durchschnittsgeschmack dar (etwa „Stephen Ward“ von 2013, ein Kammermusical über die Profumo-Affäre). In „School of Rock“ (2015) erklang sogar der wütende Protestsong „Stick it to the Man“, wobei die Kritik nicht müde wurde, genüsslich auf die Ironie hinzuweisen, dass dieses Lebensgefühl ausgerechnet von dem in den Adelsstand erhobenen Kreativteam Baron Fellowes of West Stafford und Baron Lloyd-Webber of Sydmonton zum Ausdruck gebracht wurde. Mit diesen späten, auf „The Phantom of the Opera“ folgenden Musicals knüpfte Lloyd Webber thematisch wieder an den rebellischen Geist und die Anti-Establishment-Impulse während seiner Zusammenarbeit mit Tim Rice in den 1960er und 1970er Jahren an – an „Jesus Christ Superstar“ mit dem Antihelden Judas als Zentralfigur und an „Evita“, wo er den Weg Maria Eva Duartes aus ärmsten Verhältnissen bis zur mächtigsten Frau Lateinamerikas an der Seite Perons in mitfühlender Weise nachzeichnete.

Vielleicht aber lässt sich sogar Lloyd Webbers Rütteln am Status quo, das ein wiederkehrendes Motiv seines künstlerischen Schaffens ist, noch aus der Perspektive des Thatcherismus lesen. Denn mit der Entmachtung der Gewerkschaften, der Demontage des Wohlfahrtsstaats und dem Zusammenstreichen der staatlich finanzierten Kunst- und Kulturförderung in Kombination mit einer aggressiven marktliberalen Wirtschaftspolitik, die keynesianischen Konzepten diametral zuwiderlief, leitete Thatcher eine radikale Umwälzung der Nachkriegsordnung ein. Insofern war sie selbst der Inbegriff einer das Establishment verachtenden Außenseiterin – die Tochter eines Kolonialwarenhändlers, die (darin Evita Peron vergleichbar) die Regeln eines ausschließlich Männern vorbehaltenen Machtzirkels unterlief und es auf diese Weise bis ganz nach oben schaffte. Die Parallele zur First Lady Argentiniens blieb daher auch Thatcher persönlich nicht verborgen. So schrieb sie im August 1978 nach einer Aufführung von „Evita“ in London an ihren Redenschreiber Ronald Millar:

„It was a strangely wondrous evening yesterday leaving so much to think about. I still find myself rather disturbed by it. But if they [die Peronisten] can do that without any ideals, then if we apply the same perfection and creativeness to our message, we should provide quite good historical material for an opera called Margaret in thirty years’ time!“[72]

VII. Schluss

Es wäre unterkomplex, wollte man Lloyd Webber als thatcheristischen Hofkomponisten bezeichnen oder behaupten, alle seine Musicals aus den Thatcher-Jahren entsprächen dem Kunstverständnis und den Ideologien des Thatcherismus. Mit Blick auf Thatchers Überzeugung, dass kulturelle Produkte sich im kommerziellen Wettbewerb durchzusetzen hätten und Kulturinstitutionen auch ohne staatliche Subventionen ihre Überlebensfähigkeit beweisen müssten, zeigt er sich allerdings tatsächlich – wie die Premierministerin selbst andeutete – als Vorbild für die Versöhnung von Kunst, Geld und Unternehmertum. Seinen Erfolg und seinen Namen verdankt er seinen Megamusicals mit aufwendigen Spezialeffekten und durchkomponierter Partitur, die ein Massenpublikum ansprachen, mit dem ästhetischen Zeitgeist des exzessiven Konsumismus korrespondierten und sich hervorragend weltweit per Franchise-Vertrag vermarkten und exportieren ließen.[73]

Doch nicht mit allen seinen musikalischen Werken konnte Lloyd Webber solche Erfolge feiern, insbesondere nicht mit der im Anschluss an „The Phantom of the Opera“ komponierten Kammeroper „Aspects of Love“. Kommerziell war „Aspects of Love“ eine Enttäuschung, aber davon abgesehen entsprach das Werk weder der Thatcher-Ästhetik noch kann es als Beispiel für die Art von Musical dienen, mit denen Lloyd Webber sich zuvor auf dem freien Markt erfolgreich hatte behaupten können. Vielmehr setzte sich seine Muse in diesem Fall über seine kapitalistischen Instinkte hinweg (oder trübte sie) – ein Muster, das sich in den folgenden Jahren noch häufiger wiederholen sollte, da sich seine Kompositionen immer weiter vom Zeitgeschmack entfernten. Als Vorbild für marktliberale Kunst taugt Lloyd Webbers Werk also nur bedingt.

Dennoch haben Thatcher und Lloyd Webber das kulturelle Leben Großbritanniens ebenso tiefgreifend wie nachhaltig verändert. Die Grundpfeiler der thatcheristischen Wirtschaftspolitik gehören heute im Vereinigten Königreich zum Standardrepertoire jeder Regierung. Auch Thatchers Überzeugung, dass die Konsumentinnen und Konsumenten über die Qualität von Kunst entscheiden und Kürzungen staatlicher Fördermittel ein probates Mittel der Kulturförderung darstellen, hat die kulturelle Landschaft im Vereinigten Königreich grundlegend verändert. Die in den 1980er Jahren aus der Not heraus geborenen Kooperationen zwischen kommerziellen und staatlich subventionierten Theatern bestehen bis heute fort. Nach wie vor werden die meisten Musicals von der Royal Shakespeare Company produziert und auf den Spielplan des National Theatre gesetzt. An der Beliebtheit, der sich die Megamusicals im Stil der 1980er Jahre erfreuen, hat sich nichts geändert. Mag Thatcher auch nicht mehr unter den Lebenden weilen und Lloyd Webber nicht mehr einen Hit nach dem anderen produzieren – solange „Cats“, „Starlight Express“ und „The Phantom of the Opera“ auf der ganzen Welt Gewinne abwerfen, hat ihr gemeinsames kulturelles Vermächtnis Bestand.

Aus dem Englischen übersetzt von Anne Vonderstein.

Published Online: 2022-10-01
Published in Print: 2022-09-05

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 25.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0047/html
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