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Islam und Menschenrechte

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Published/Copyright: October 1, 2022

I. Einführung

Nach dem Verständnis der Vereinten Nationen sind Menschenrechte Rechte, die jedem Menschen kraft seines Personseins zukommen[1] und als solche an keinerlei darüber hinausgehende Bedingungen gebunden sind.[2] Als Reaktion auf die historischen Unrechtserfahrungen im Zweiten Weltkrieg[3] verfolgten die Vereinten Nationen im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz von Anfang an einen globalen Ansatz.[4] Sie strebten die Entwicklung eines universellen Normprogramms an,[5] das ausgehend von der Vorstellung der Würde, Einsichtsfähigkeit und Individualität des Menschen auf dem tragenden Element der Gleichheit gründet.[6] Mithin erstreckt sich der Anwendungsbereich der Menschenrechte auf alle Personen, ohne Unterscheidung beispielsweise der Herkunft, Nationalität, des Geschlechts oder der Religion.[7]

Religion ist nicht erst seit jüngeren Entwicklungen wie der Verankerung des Grundgedankens der universellen Menschenrechte in der Charta der Vereinten Nationen[8] von einer merklichen Ambivalenz geprägt. Die Vorstellung von Universalität wird als ein zentrales Merkmal des Menschenrechtsdiskurses angesehen, realiter werden Menschenrechtsverletzungen aber oft nur bei anderen wahrgenommen oder diesen zugeschrieben. Demgemäß ist auch das Verhältnis von Islam und Menschenrechten heutzutage von bestimmten Wahrnehmungsmustern belastet: Wechselseitig, also sowohl aus Sicht der westlichen wie der islamischen Welt, werden Annahmen evoziert, die dann – als Tatsachen behauptet und kommuniziert – die Grundlage von Werturteilen bilden.[9] Bei der konzeptionellen Erschließung des Themenfelds fällt auf, dass diese wechselseitige Sicht mit der Debatte um konkurrierende Genealogien des Menschenrechtskonzepts einhergeht.

Die Wahrnehmung des Islam ist in Europa und den USA zunehmend geprägt von zwei Bildern: Erstens werden Menschenrechte als Teil einer Moderne begriffen, die ihrerseits als genuines Produkt der europäisch-westlichen Kultur verstanden wird. Daraus wird gefolgert, dass die Akzeptanz und Durchsetzung von Menschenrechten notwendig gebunden sei an die westliche Modernisierungsgeschichte. Dies hieße im Umkehrschluss, dass nur jene Gesellschaften und Kulturen mit dem Menschenrechtsgedanken kompatibel seien, die zumindest weitgehend die westliche Entwicklung nachvollzogen haben. Das zweite Bild korrespondiert mit dem ersten: Trifft die europäische Wahrnehmung auf Gesellschaften, die als anders empfunden werden, sucht man nach der Essenz, aus der diese Besonderheit resultiert. Bei der Suche wird man in einem als Kultur konstruierten Islam fündig, an dem man das Anderssein festmacht. In diesem Kulturessentialismus scheint sich dann die ontologische Grundannahme zu bewahrheiten, dass das Wesen des Islam die Gläubigen auf bestimmte Verhaltensweisen festlege, denen sie nicht entrinnen könnten. Aus dieser Perspektive erscheinen Menschenrechte und Islam als unvereinbar, weil der Islam seinem Wesen nach Menschenrechte ausschließe und alle Musliminnen und Muslime zu einem entsprechenden Denken und Handeln verpflichte. Demzufolge wäre der homo islamicus geboren.[10]

II. Islam und Menschenrechte

Um sich dieses Themenfelds adäquat annehmen zu können, muss man sich von dieser Form des kulturalistischen Essentialismus einer Fremd- und Eigenwahrnehmung trennen. Der Ausgangspunkt eines Menschenrechtsverständnisses ist daher zunächst aus einer innerislamischen Betrachtungsweise heraus zu suchen. Hierfür bietet es sich an, am Begriff Menschenrecht anzuknüpfen, der seit der frühen Phase des Islam unter der Rubrik „Rechte des Menschen“ (ḥuqūqādamīya) beziehungsweise „Rechte des Normadressaten“ (ḥuqūq al-mukallaf) bekannt ist. Daraus lässt sich in der Genese innerislamischer Menschenrechtsdebatten allerdings kein allgemeingültiges theoretisch-fundiertes Menschenrechtskonzept nach heutigem Verständnis ausmachen oder ableiten.[11] Auch sind muslimische Ansichten über die Beziehung von Islam und Menschenrechten qua Religionszugehörigkeit viel zu divers und in ihrer Gesamtheit zu komplex, um sie unter dem Banner der Allgemeingültigkeit einfangen zu können.[12] Die Vielzahl der innerislamischen Positionen[13] lässt daher weder einen „Jargon der Eigentlichkeit“ noch eine der „westlichen“ Position gegenüberstehende „eigentlich islamische[...]“ Position zu.[14] Die vielfältigen Vorstellungen und eine orts-, zeit- und milieuabhängige Praxis von Musliminnen und Muslimen in Geschichte und Gegenwart verbieten solch eine pauschalisierende Sichtweise.[15] So wenig wie man von dem Islam als einheitlichem Block ausgehen kann,[16] so wenig kann man eben auch eine einzige islamisch-menschenrechtliche Perspektive zugrunde legen.[17] Demgemäß kann man durchaus bezweifeln, „ob es überhaupt legitim und sinnvoll ist, gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen in muslimischen Gesellschaften mit ‚dem Islam‘ zu erklären“[18]. Eine polarisierende Betrachtungsweise ist für eine analytische Darstellung wenig hilfreich,[19] und es bedarf einer eingehenderen Reflexion.

Bei genauerer Betrachtung lohnt es sich, noch einmal an die Verankerung des Grundgedankens der universellen Menschenrechte in der Charta der Vereinten Nationen anzuknüpfen. Dass die Menschenrechte bereits mit dem Menschsein gegeben sind, kommt – angelehnt an ein Diktum aus dem 18. Jahrhundert, wonach Menschenrechte dem Menschen „angeboren“ seien[20] – in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 zum Ausdruck: „Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren.“[21]

Die Freiheit des Menschen steht demnach in einer unauflöslich normativen Beziehung zur inneren Verbindung von Würde und Rechten des Menschen. Hierbei gilt es zu bedenken, dass die Menschenwürde in aller Regel mit einem bestimmten Menschenbild einhergeht, wie es beispielsweise die Auszeichnung des Menschen als „Ebenbild und Gleichnis Gottes“ im ersten Schöpfungsbericht des Buchs Genesis (1, 26 f.) zugrunde legt.[22] Das Rekurrieren auf ein bestimmtes Menschenbild hat den großen Vorzug, dass damit unmittelbar ein dichtes Assoziationsfeld aufgerufen werden kann. Bekanntlich hat das Motiv der Gottesebenbildlichkeit die Geschichte der Menschenrechtsidee in Europa entscheidend geprägt, es hat aber auch den unverkennbaren Nachteil, dass von vornherein nur diejenigen werden folgen können, die an dieses Menschenbild glauben.[23] Daraus resultierende divergierende Wahrnehmungsmuster wurden bereits in den Beratungen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 deutlich, als Brasilien den Vorschlag machte, einen Bezug auf die biblische Idee der Gottesebenbildlichkeit in den Text einzubeziehen. Dieser Vorschlag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.[24] Der Einwand lautete, dass die Erklärung durch Aufnahme einer solchen biblischen Referenz nicht den Konsens der religiös und weltanschaulich pluralistischen Weltgesellschaft repräsentieren könne. Man entschied sich schließlich dafür, den Begriff Menschenwürde ohne Bezug auf ein spezifisches religiöses Menschenbild in die Erklärung aufzunehmen.[25]

Nun ist es aber Zweck dieses Beitrags, einen genaueren Blick auf das Verhältnis Islam, Menschenrechte und Menschenwürde zu werfen. Dabei ist zunächst festzustellen, dass das islamische Konzept der Menschenwürde (karāmat al-insān) im Vergleich zu den entsprechenden Konzepten des Judentums und Christentums einen zentralen Unterschied aufweist: Es zeichnet sich durch eine abgegrenzte wechselseitige Bezogenheit des Menschen auf Gott aus und wird entsprechend nicht aus den Prinzipien der jüdischen und christlichen Gottesebenbildlichkeit heraus begründet. Dies kann man in der abrahamitischen Religionsgeschichte durchaus als eine dogmatische Zäsur werten. Anders als im Judentum (tzäläm elohim) wird der Mensch nicht mehr als Geschöpf und Ebenbild Gottes betrachtet, was noch im Christentum (imago dei) nach Vorgaben der Tora insoweit fortbestand, als Christus als das vollkommene Bild Gottes betrachtet wird, wie es in Genesis 1, 26 f. festgeschrieben ist. Im islamischen Menschenbild werden die Menschen als von Gott geschaffen skizziert, die „im Sinne ihres Urhebers handeln“ sollen (ḫalīfa).[26] Die frühmedinensische Bezeichnung Adams im 7. Jahrhundert als ḫalīfa im Sinne von Gottes „Statthalter auf Erden“ wird üblicherweise als koranisches Gegenstück oder Analogon zum biblischen Begriff der imago dei interpretiert und somit als eine „Basis zur Verständigung über Menschenrechte und Menschenwürde“ angesehen.[27] Zeitgenössische Gelehrte verstehen den Terminus ḫalīfa als grundlegende Referenz auf die besondere Würde des Menschen als eines Geschöpfs, das sich, mit freiem Willen und Verstand begabt, von der übrigen Schöpfung unterscheidet. Aufgrund dieser Gaben sei der Mensch zur Erfüllung seiner ihm übertragenen Verantwortung (amāna)[28] als „Stellvertreter“ oder „Statthalter“ (ḫalīfa) auf Erden befähigt.

Die klassische Koranexegese war jedoch in ihrer Interpretation des ḫalīfa-Begriffs verhaltener. Im Gefolge von aṭ-Ṭabarī (gest. 923) hatte die islamische Gelehrsamkeit die Zuschreibung der „Statthalterschaft“ an die Menschheit als ganze entweder ausdrücklich zurückgewiesen[29] oder den Titel „Stellvertreter Gottes“ (ḫalīfat Allāh fī arḍihī) auf die Propheten als Vermittler zwischen Gott und den gewöhnlichen Menschen beschränkt.[30] Diese bis heute weitverbreitete Zuschreibung verschiebt auch die Gütekriterien des Handelns auf die Klassifikationsmerkmale der Gattung, was so im Koran, jedenfalls in diesem Zusammenhang, nicht gemeint sein kann. Die Menschen sind mit dem Auftrag versehen, die Dinge auf der Erde in „guter Ordnung“ (iṣlāḥ[31]) zu halten.[32] Das Diesseits wird demzufolge als Bewährungsort für den Menschen betrachtet. Daraus folgt in Übereinstimmung mit den jüdisch-christlichen Traditionen ein klarer Anthropozentrismus, wonach menschliches Handeln im Fokus der Religion stehe. Dabei bestehe die Aufgabe der Menschen, die auch als Kinder Adams (banī Ādam) beschrieben werden, insbesondere in der Übernahme der Verantwortung gegenüber der ihnen anvertrauten und mit Ehre und Würde verliehenen (göttlichen) Schöpfung,[33] die weder verdient werden müsse noch verloren werden könne.[34] Menschenwürde wird also nicht erworben. Vielmehr gilt sie, wie es auch in der Abschiedspredigt (ḥaǧǧat al-wadāʿ) des Propheten Muḥammad hervorgehoben worden sein soll, umfassend als jedem Menschen mit dem Dasein gegeben, woraus ein Anspruch auf Achtung entspringe.[35] Demgemäß wird die Würde des Menschen als ein umfassendes natürliches Recht (ḥaqq ṭabīʿī) für jeden Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Sprache und Religion et cetera begriffen,[36] womit der konzeptionelle Ausgangspunkt universeller Menschenrechte – die Menschenwürde – auch auf einem islamischen Fundament fußt. Diese Sicht deckt sich mit jüdischen wie mit christlichen Sichtweisen auf den Menschen, ohne auf eine einzige religiös-weltanschauliche Anthropologie festgelegt zu sein.[37]

Davon ausgehend lassen sich nach Kuhn-Zuber und Bassiouni für den (globalen) innerislamischen Diskurs drei grundsätzliche Ansätze feststellen:[38] Ein erster Ansatz versteht die Idee der Menschenrechte als angeblich westliches und somit systemfremdes Konzept, das die kulturelle Integrität der Musliminnen und Muslime verletze und das als Ausdruck eines ungebrochenen kolonialen Denkens verurteilt werden müsse. Die Übernahme nicht-islamischer Begriffe, Ideen und Institutionen wird dabei als Anbetung unislamischer und damit illegitimer Götzen verstanden.[39] Lediglich die Rückbesinnung auf die islamische Tradition garantiere eine authentische kulturelle Identität. Bei diesem Ansatz fungiert der Islam nicht als normativer Imperativ der Wertekonstruktion, sondern lediglich als symbolischer Referenzrahmen zur Garantie kultureller Unabhängigkeit. Um einer Vorherrschaft des Westens entgegenzutreten, wird der Islam durch dieses Narrativ zur Antithese des Westens stilisiert. Das zuvor hergeleitete menschenrechtliche Fundament, die Menschenwürde, wird ausgeblendet. Demgegenüber werden in einem zweiten Ansatz Menschenrechte nicht als kulturfremdes Element betrachtet, sondern als fester Bestandteil der islamischen Kultur oder gar eine Erfindung des Islam. So heißt es beispielsweise in der Präambel der vom Islamrat für Europa verfassten allgemeinen islamischen Menschenrechtserklärung von 1981, der Islam habe „der Menschheit“ bereits vor 1400 Jahren einen „idealen Menschenrechtskodex“ gegeben.[40]

Beiden Argumentationslinien ist in der Tiefenstruktur tendenziell gemein, dass eine islamische Tradition gegen eine kulturelle und intellektuelle Verwestlichung verteidigt, jedoch in der Oberflächenstruktur die Vereinbarkeit und moralische Überlegenheit des Islam gegenüber westlichen Ideen betont wird. Aus diesen essentialistischen Diskussionssträngen lässt sich zunächst ableiten, dass – so wie die Vereinnahmung der Menschenrechte für einen Kanon sogenannter westlicher Werte im Ergebnis auf die Relativierung des menschenrechtlichen Universalismus oder seine Verkehrung in imperialistische europäische Zivilisierungsmissionen hinausläuft[41] – analog auch ein islamisch vereinnahmter Menschenrechtsbegriff entweder partikularistische oder imperialistische Züge annimmt.[42] Dies zeigt sich in der Verquickung neuzeitlicher menschenrechtlicher und klassisch islamrechtlicher Begriffe, wie sie für die Menschenrechtserklärung des Islamrats von 1981 charakteristisch ist.[43]

Es lassen sich aber auch weniger anachronistische und vielmehr als angleichend zu bezeichnende Ansätze in der Debattenlandschaft finden. Hier werden alternative Anknüpfungspunkte für ein als modern tituliertes Menschenrechtsverständnis herangezogen. Die Untersuchungen gehen dahin festzustellen, ob die Menschenrechte als Rechte aller Menschen garantiert werden können beziehungsweise ob die islamischen Rechtsquellen einer solchen Konzeption zumindest nicht im Wege stehen.[44] So nimmt man sich beispielsweise kritischer Verse, die den Status der Frau als dem Mann gesellschaftlich unterlegen betreffen, vom koranischen Wortlaut ausgehend an und führt diese einer Re-Interpretation zu: Sure 4:34 müsse demnach durch eine spezifisch männliche Brille gelesen werden, um eine Überlegenheit der Männer gegenüber den Frauen zu begründen. Der arabische Wortlaut des Verses – ar-riǧāl qawwāmūn ʿalā n-nisāʾ – wird stattdessen wiedergegeben als „Die Männer stehen für die Frauen ein“.[45] Männer seien demnach verpflichtet, sich in vollem Umfang um ihre Ehefrauen zu kümmern. Im Hinblick auf den Umgang mit dem gesellschaftlich höchst brisanten Themenkreis der Apostasie wird betont, dass der Koran je nach konkreter Situation argumentiere, warne oder das rechte Verhalten empfehle, nicht aber zum Argument des Schwerts greife.[46] Es wird auf die Maxime lā ikrāh fī d-dīn“ („kein Zwang in der Religion“) aus Sure 2:256 verwiesen und dabei hervorgehoben, dass es die Sache des Menschen sei, eine (autonome) Wahl (der Religionszugehörigkeit) zu treffen.[47]

Ein weiterer Anknüpfungspunkt ist die hermeneutische Herangehensweise, die nicht den buchstäblichen Wortlaut der Schrift als ausschlaggebend erachtet, sondern das Begreifen religiöser Normen. Man unterscheidet dabei zwischen religions- und kulturbestimmten Normen, also zwischen dem, was dem Sakralen, und dem, was dem Geschichtlichen oder Politischen zuzuordnen ist.[48] Eine grundlegende Feststellung lautet dabei zunächst, dass der Koran im Kontext eines bestimmten soziohistorischen Hintergrunds (asbāb an-nuzūl) offenbart worden sei.[49] Das Verständnis religiöser Normen setze demnach voraus, hinter jeder Vorschrift des Korans oder der Sunna den Seinsgrund, das Prinzip, das sie inspiriert hat, und die geschichtlichen Umstände, in denen sie zur Anwendung kamen, sorgsam aufzuarbeiten.[50] Erst dann ließen sich von einem allgemeinen Grundsatz normative Rückschlüsse im Hinblick auf die konkrete gegenwärtige Situation ziehen.[51]

Einen ähnlich soziohistorischen Anknüpfungspunkt verfolgt man schließlich bei der Unterscheidung zwischen mekkanischen und medinensischen Suren.[52] Dabei handele es sich um zwei unterschiedliche Offenbarungsabschnitte, die inhaltlich unabhängig voneinander seien, wobei die in Mekka offenbarten Suren die zeitlose Botschaft des Korans enthielten, während die später in Medina offenbarten Suren an die spezifischen Verhältnisse der Gemeinde in Medina angepasst und deshalb nicht von zeitloser Gültigkeit seien.[53] Die aus medinensischer Zeit stammenden rechtlichen Normen des Korans müssten demnach im Lichte der ursprünglichen mekkanischen Botschaft verstanden und relativiert werden, da nur sie einen überzeitlichen Charakter besäßen. Dabei beruft man sich auf das Prinzip der Abrogation (nasḫ) – die Aufhebung einer normativen Bestimmung des Korans oder der Sunna durch eine andere, zeitlich nachfolgende Bestimmung aus Koran oder Sunna.

III. Fazit

Wie der Blick auf die Wahrnehmungsnarrative und Begründungsansätze verdeutlicht, befindet sich das Verhältnis Islam und Menschenrechte in einem Spannungsfeld von zwei Normativitätsansprüchen: dem Anspruch der islamischen Authentizität einerseits und dem der Universalität andererseits. Universal gültig sind Menschenrechte dann, wenn sie aus einem Grund akzeptiert werden, der für jeden Menschen unabhängig von ihrem oder seinem kulturellen und religiösen Hintergrund nachvollziehbar und zustimmungsfähig ist. Die Herausforderung, die der muslimische Menschenrechtsdiskurs unter anderem zu meistern hat, besteht entsprechend darin, einen Weg zu finden, der zwischen diesen beiden Normativitätsansprüchen navigiert und sie in einer islamisch legitimen und universal konsensfähigen Konzeption der Menschenrechte vereint.[54] Die Möglichkeit, zwischen spezifischen religiösen, weltanschaulichen beziehungsweise kulturellen Perspektiven zu vermitteln, ist nicht – wie es Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Provenienz und Couleur glauben machen wollen – ausgeschlossen. Heiner Bielefeldt beschrieb dies mit dem von John Rawls übernommenen Konzept des overlapping consensus:[55] Damit werde nicht ein faktischer Konsens bezeichnet, sondern die normative Zielvorstellung eines Konsenses. Dieser setze zwar eine Vielfalt weltanschaulicher Überzeugungen frei, markiere aber auch Grenzen der Toleranz.[56] Der overlapping consensus ist damit keine umfassende Ökumene der Religionen, Weltanschauungen und Kulturen. Die normative Prämisse eines solchen Menschenrechtsdenkens ist die Einsicht, dass unter den Bedingungen der Moderne die Pluralität kultureller Lebensformen sowie religiöser und weltanschaulicher Orientierungen nur dann produktiv gestaltet werden könne, wenn Menschen einander dadurch anerkennen, dass sie sich die gleiche Freiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Mitwirkung zugestehen. Der Fokus der Debatte um Islam und Menschenrechte sollte daher nicht nur in der Anerkennung einer islamischen Berechtigung liegen, Menschenrechte zu begründen und zu rechtfertigen.

Für die Anerkennung und vor allem für die Umsetzung von Menschenrechten bedarf es der (sozio-)politischen Wirksamkeit. Hierauf bezogene Auseinandersetzungen sind im islamisch geprägten Kontext bislang wenig ausgeprägt. Das eigentliche Ziel der Menschenrechte, eine reale Schutzwelt durch eine politisch-soziale Wirksamkeit zu schaffen, wurde nur teilweise erreicht.[57] Es wäre daher wünschenswert, wenn die durch die in den Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings seit 2010 angestoßenen gesellschaftlichen Umbrüche,[58] zwischenzeitlich jedoch abgeebbten Diskurse um Menschenrechte in islamischen Kontexten wiederbelebt werden könnten. Auch wenn die emanzipatorische Wirkung nicht in dem Maße erreicht werden konnte, wie es sich viele erhofft hatten, und allen bekannten Widerständen zum Trotz, ist eine kritische Haltung gegenüber den menschenrechtlichen Widersprüchen jeglicher Art das Ferment soziokulturellen und sozioreligiösen Wandels.[59] Dieser Gedanke verleiht Walter Kälins Feststellung Aktualität, wonach Menschenrechte auf Emanzipation angelegt und damit auch immer Stachel im Fleisch einer (soziopolitischen beziehungsweise -religiösen) Kultur seien, der die eigenen Traditionen und Gewohnheiten angenehm geworden seien.[60] Dies trifft nicht nur, aber insbesondere eben auch auf das beschriebene Verhältnis von Islam und Menschenrechten zu.

Published Online: 2022-10-01
Published in Print: 2022-09-05

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 24.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0045/html
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