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Geschlechter-Räume und Demokratie

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Published/Copyright: October 1, 2021

Nach Diktatur und Weltkrieg verlief der Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik zunächst in besonderem Maße über die Wiederherstellung einer eindeutigen, bipolaren Geschlechterordnung, in deren Zentrum die Zuweisung von Frauen wie Männern in scharf voneinander geschiedene, geschlechtsspezifische Räume stand. Der politische Raum gehört dabei sowohl in seiner inhaltlichen wie formalen Bestimmung bis heute zu den sicherlich am stärksten umkämpften.

„Gleichstellung – ein Gradmesser für Demokratie und Zusammenhalt in den Städten“ – unter diesem Titel veranstaltete im Juni 2019 die Interfraktionelle Frauensitzung des Deutschen Städtetags (DST) eine Diskussionsrunde mit Wissenschaftlerinnen aus Forschungseinrichtungen und Praktikerinnen aus Kommunen. Damit verwiesen die Organisatorinnen der Veranstaltung nicht nur auf das Gesamtmotto der in Dortmund stattfindenden Hauptversammlung des DST,[1] sondern gaben vor allem ein deutliches Statement ab, das als Befund einer mehr als 30-jährigen erfolgreichen kommunalen Gleichstellungsarbeit ebenso gelesen werden konnte[2] wie als Bekenntnis zu ihrem Auftrag. Dieser Auftrag jedoch, so die Diagnose im Begleitheft der Veranstaltung, wie auch grundsätzlich die lange Zeit als selbstverständlich angenommene Bejahung „[d]emokratische[r] Errungenschaften und Werte“, werde „im öffentlichen Diskurs zunehmend in Frage gestellt“.[3] Deutlicher als viele andere öffentliche Dienstleistungsträger, die in ihren Foren ebenfalls auf die neuen Herausforderungen der sich verändernden Stadtgesellschaft(en) wie Digitalisierung, Globalisierung oder Migration aufmerksam machten, betonten die Expertinnen dieses Podiums die konstitutive, ja wegweisende Bedeutung einer Politik der Geschlechtergerechtigkeit für die Entwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik. Aus diesem Grund, so die Veranstalterinnen, seien die Gleichstellungsstellen besonders aufgerufen, sich angesichts demokratiefeindlicher und dezidiert antifeministischer Tendenzen administrativ und politisch klar zu positionieren.[4]

Parallel dazu – wenngleich unabhängig davon – hatte sich auch die Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Frauenbüros und Gleichstellungsstellen im Rahmen einer Studie zur „Gleichstellung als Regionalentwicklung“ einer derartigen Selbstvergewisserung unterzogen, um vor allem die besondere Relevanz von Gleichstellung für eine gelingende gleichberechtigte Teilhabe im ländlichen Raum zu verdeutlichen. Diese ermögliche in besonderer Weise sowohl die Sicherstellung der Daseinsvorsorge für die dort lebenden Bürgerinnen und Bürger als auch die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse.[5] Nötig geworden war dieser explizite Hinweis auf die Arbeit der Gleichstellungsstellen, da bis dato Themen der Frauenförderung im Kontext der Entwicklung des ländlichen Raums nur selten bedacht wurden.[6] Dies sei jedoch nötiger denn je. Schließlich stünden „Gleichstellungsbeauftragte ländli­cher Räume [...] täglich vor Herausforderungen, insbe­sondere mit Blick auf die Infrastruktur, die eher konservativ geprägte gesellschaftliche Struktur wie auch die Wahrneh­mung ihrer Aufgaben in der Fläche“.[7]

Doch nicht nur Städtetag und Gleichstellungsbeauftragte sorgten sich um den Zusammenhalt von Geschlechtergerechtigkeit und Demokratie. Auch Mona Küppers, Vorsitzende des Deutschen Frauenrats (DF), forderte in ihrer Stellungnahme zum Internationalen Frauentag im März 2020 dazu auf, den „patriarchalen ‚Pushbacks‘“ ein „neues Bündnis der Demokratie“ gegenüberzustellen. Gegen die „Übermannung“ helfe nur Geschlechtergerechtigkeit, die eine wesentliche Voraussetzung für eine freiheitliche Demokratie darstelle. Frauenrechtsverteidigerinnen und Frauenbewegungen“ spielten „in diesem Bündnis eine tragende Rolle. Denn sie kämpfen seit jeher gegen zerstörerische Männlichkeit und für ein friedliches und gleichwertiges Miteinander.“ Nicht zuletzt deshalb seien Frauen „weniger anfällig für extremistische Positionen“.[8]

Als Vorsitzende der größten Frauenlobby Deutschlands mit rund 60 bundesweit aktiven Frauenorganisationen sprach Mona Küppers mit diesem Statement nicht nur das Gewicht einer der sicherlich einflussreichsten politischen Interessensvertretungen an.[9] Sie verwies insbesondere auf den großen Erfahrungsreichtum der von ihr vertretenen Organisationen und vor allem auf die mehr als 100-jährige Tradition eines unermüdlichen Kampfs sowohl von „Frauenrechtsverteidigerinnen“ wie der „Frauenbewegungen“ für eine auf Gleichberechtigung beruhende Demokratie. Die von Küppers an dieser Stelle vorgenommene feine Differenzierung ist hierbei nicht nur dem Umstand geschuldet, dass die Bewegungs- und Geschlechterforschung mittlerweile den Plural der vielen Bewegungsformen und -inhalte betont,[10] sondern in erster Linie der Tatsache, dass sich der von ihr vertretene Dachverband bis weit in die 1970er Jahre als ein – in hohem Maße juristisches – Expertinnengremium verstand, das peu à peu dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Grundgesetzes zum Durchbruch verhalf.

Das erste Mittel der Wahl, um diese Verheißung einer gleichberechtigten Teilhabe im öffentlichen wie privaten Raum zu ermöglichen, bestand dementsprechend nicht in politischen Aktionen wie Demonstrationen, Sit-Ins oder der bundesweit medial inszenierten Selbstbezichtigungskampagne „Wir haben abgetrieben“.[11] Dies waren Strategien, Instrumente und vor allem Ausdrucksformen einer Bewegung, die ihre Gesellschaftsanalysen und Themen in erster Linie aus dem Impetus des Slogans „Das Private ist politisch“ schöpfte, mit dem diese beiden bis dato getrennt verhandelten Sphären – programmatisch – zusammengeführt werden sollten. Entsprechend inszenierten sich die im Umfeld der „Achtundsechziger“ entstandenen Gruppierungen in dezidierter Abgrenzung von den in Kontinuität zur sogenannten Alten Frauenbewegung und ihres Trägervereins – des Bunds deutscher Frauenvereine – (wieder-)gegründeten Frauenorganisationen der Nachkriegszeit als Neue Frauenbewegung.[12] Demgegenüber sah der zunächst als Informationsdienst für Frauenfragen e. V. 1951 entstandene Zusammenschluss Ziel und Zweck seiner Arbeit im gegenseitigen Austausch von Informationen, in der Aufklärung der Öffentlichkeit über Frauenfragen, vor allem aber in der Förderung der staatsbürgerlichen Bildung von Frauen als eine Form der grundsätzlichen Sicherung der bundesrepublikanischen Demokratie.

Darüber hinaus besaßen die im Informationsdienst für Frauenfragen zusammengeschlossenen Verbände mit ihrer Zeitschrift eine durch finanzielle Zuwendungen aus Bundesministerien unterstützte Publikation, die in erster Linie Meinungen, Aktivitäten und Standpunkte der in den Organisationen geführten Debatten dokumentierte; dazu gehörten Vorschläge zur Umsetzung des Gleichberechtigungsartikels im Grundgesetz und später zur Implementation der ausführenden Rechtsnormen des Bürgerlichen Gesetzbuchs.[13] Gleichfalls im Vordergrund des Bündnisses – wie bereits bei den Verbänden der bürgerlichen Frauenbewegung in der Weimarer Republik – stand die Vorstellung einer Zivilisierung des immer noch als fragil angesehenen politischen Raums.[14] So betonten die Verbände anlässlich der Bundestagswahlen von 1953 und 1957 in zahlreichen Stellungnahmen, welche herausragende Bedeutung das aktive wie passive Frauenwahlrecht für die Institutionalisierung einer demokratischen Gesellschaft besitze.

Damit war allerdings weniger die Forderung nach einer paritätischen Berücksichtigung der Frauen im Bonner Parlament verbunden als vielmehr der Hinweis, dass Frauen gemäß ihrer Natur und durch ihre Wahlentscheidung zu einer Verbesserung der politischen Umgangsformen und zum Ausgleich im Streit der Partikularinteressen beitragen würden.[15] Mit dieser Haltung verbanden die Frauenverbände eine spezifische Form von Neutralität, die, so die Hamburger Frauenpolitikerin Fides Krause-Brewer 1957 in einem Radiointerview, an die Aufgabe der „Hausfrau“ erinnere. Diese sei „an sich schon immun gegen die Anfechtung“, lediglich „für irgendeine Sondergruppe politisch zu streiten“, da sie in erster Linie das (Gemein-)Wohl der ganzen (Volks-)Familie im Blick habe.[16]

Wie die Lobbyarbeit der traditionellen Frauenorganisationen im DF bis weit in die 1970er Jahre von Formen der Eingabepolitik dominiert wurde, so hielt sich sprachlich lange Zeit eine Diktion, die, wenn es um die politische Partizipation von Frauen ging, in erster Linie auf eine geschlechtsspezifisch weibliche Verantwortung im Sinne eines grundlegenden weiblichen Kulturauftrags setzte.[17] Diese wiederum rekurrierte auf eine bereits in der Frauenbewegung des Kaiserreichs weiblichen Menschen zugesprochenen Natur, nach der in besonderer Weise Frauen die in erster Linie als männlich definierten Räume des Politischen einer grundlegenden kulturellen Zivilisierung unterziehen könnten und sollten.[18] Nicht zuletzt eine solche, auch sprachliche Kodierung von Geschlechterrollen hatte in der Folge Einfluss auf die Bezeichnung, Zuweisung, Bestimmung und (Auf-)Schließung von nicht nur dezidiert politischen Räumen. Erstmals zur Bundestagswahl 1980 erschienen schließlich Stellungnahmen des DF, die gesellschaftliche Prozesse und Strukturen auf grundsätzliche, durch die Kategorie Geschlecht bestimmte Ungleichheitserfahrungen abklopften und Themen wie Benachteiligungen in Beruf und Gesellschaft mit der unzureichenden politischen Vertretung in Parteien und Parlamenten begründeten.[19]

Diese analog zu anderen gesellschaftlichen Diskurszusammenhängen und Sprach-Räumen ähnlich deutlich verzögerte Selbstreflexion im Hinblick auf schließlich als überholt eingeschätzte Deutungsmuster hatte ihre Ursache nicht zuletzt in der besonderen posttotalitären Nachkriegslage der Bundesrepublik. Der Ausnahmesituation und Experimentierphase zwischen 1945 und 1948 folgte eine Phase der Rekonstruktionen und des zum Teil ungebrochenen Wiederanknüpfens an bürgerliche Leitkulturen im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik. Daran schloss sich zwischen 1969 und 1975 eine von weiten Teilen der Gesellschaft getragene Liberalisierung an, die schließlich sowohl in Form wie Inhalt neue Reformen hervorbrachte.[20] Dabei vernahmen die Frauen vor allem in den ersten Jahren nach der Verabschiedung des Grundgesetzes „einen Rückruf [...] in die Familie als wahren Ort weiblicher Bestimmung“.[21] Jede Abweichung von dieser als natürlich apostrophierten Norm(alisierung) wurde zu einer kriegsbedingten Ausnahmeerscheinung degradiert. Nach Diktatur und Weltkrieg sollte der Aufbau der neuen Demokratie in besonderem Maße über die Wiederherstellung einer eindeutigen, bipolaren Geschlechterordnung erfolgen, in deren Zentrum weiterhin die Zuweisung von Frauen wie Männern in scharf voneinander geschiedene geschlechtsspezifische Räume stand.

Insbesondere vier kategoriale Raumkonstellationen, die auf unterschiedlichen Ebenen relational miteinander verschränkt sind, lassen sich hierbei ausmachen: erstens der biologisch als unabänderlich definierte Sozialraum Geschlechtsrolle; zweitens die seit Beginn des 19. Jahrhunderts als überhistorisch verklärten Kulturräume Ehe und Kernfamilie; drittens die in hohem Maße und in mehrfacher Hinsicht segregierten Wirtschaftsräume Haus und Fabrik (wahlweise auch Distribution, Verwaltung, Dienstleistungen); viertens der vornehmlich über Exklusion konstruierte öffentliche wie parlamentarische Raum des Politischen. Die diesen Konstellationen eingeschriebene Dichotomie entlarvte die historische Geschlechterforschung bereits in den 1970er Jahren als die vielleicht einflussreichste bürgerliche Weltanschauung, die vornehmlich dazu diente, eine Geschlechterhierarchisierung sowohl auf der Ebene der rechtlichen, politischen und sozialen Partizipation wie auch auf der Ebene der Arbeitsteilung zu legitimieren.[22]

Deutlich wurde dabei, dass vor allem in Zeiten, in denen der öffentliche Raum als selbstverständliche Sphäre von Männlichkeit markiert und wahrgenommen, der privat genutzte Raum hingegen dem „Reich der Frau“ zugeschrieben wurde,[23] den Kategorien Raum und Geschlecht eine zentrale Orientierungsfunktion zukam. Sie bestimmten Leben und Handeln und waren allen allseits präsent. Daher führten Grenzüberschreitungen – nicht zuletzt in geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitswelten – zu Irritation, Denunziation und sogar Exklusion.[24]

Vor allem am Beispiel der beiden konstitutiven Raumerfahrungen Partizipation und Arbeit zeigt sich eindrucksvoll, wie sowohl das Verständnis von Geschlecht den vorgegebenen Raum als auch vice versa Räume die Handlungsmöglichkeiten von Geschlechtern begrenzen, erweitern oder überhaupt realisieren. Noch bevor sich Historikerinnen und Historiker eingehender mit diesen wechselseitigen Bezügen der Kategorien Raum und Geschlecht beschäftigten, gingen vor allem Forschende aus Sozial- und Kulturwissenschaften dem Stellenwert der gebauten Umwelt für das Geschlechterverhältnis nach.[25] Geschlechterhistorikerinnen und -historiker nahmen diese Anregungen auf und fragten danach, inwieweit auch Räume wie Quartiere, Städte und Regionen gegendert wurden, welche unterschiedlichen Bezüge und Erfahrungen Frauen und Männer mit diesen Räumen hatten, ob und auf welche Weise Zugangschancen, Hindernisse und Freiräume von Männern und Frauen wahrgenommen wurden, wie das Wechselverhältnis zwischen Handelnden und Strukturen aussah und welche Möglichkeiten die Subjekte wahrnehmen konnten, diese Strukturen und Räume zu gestalten oder zu verändern.[26] Eine solche Haltung und Sichtweise auf historische Prozesse macht deutlich, dass gesellschaftliche und kulturelle Vorstellungen zu ungleichen Teilhabevoraussetzungen und nicht zuletzt zu meist scharf abgegrenzten sozialen Verortungen von Männern und Frauen führten.

Vor dem Hintergrund dieser sozialräumlichen und territorialen Zuweisungen lässt sich für die Reformphase der Bundesrepublik am Beispiel der Neuen Sozialen Bewegungen zeigen, wie die verschiedenen Emanzipationsbewegungen in ländlichen und kleinstädtischen Räumen es schafften, gemeinsam politische Projekte zu realisieren.[27] Gleichzeitig ist zu fragen, welche Bedeutung die jeweils kursierenden Konzepte von Geschlechtlichkeit besaßen beziehungsweise welche Wirkung Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit für den Transformationsprozess des jeweiligen gesellschaftlichen Systems im Allgemeinen, der politischen Kultur und des sozial-moralischen Milieus im Besonderen entfalteten. Spätestens bei dieser Frage kommen auch die scheinbar so geschlechtslosen Männlichkeiten in den Blick,[28] deren Stereotype sich oft vor dem Hintergrund eines scheinbar homogenen Regionenbilds lediglich zu Repräsentationsfiguren von Stahl- oder Bergarbeitern, Fußballhelden oder kämpferischen Gewerkschaftsfunktionären verdichtet haben und jeden Konflikt um die Repräsentation anderer Männlichkeiten verhinderten.[29]

Ebenso kann man dem Mythos der jungen, ledigen Frau als klassischer Konsumentin nachgehen, die zum Inbegriff einer neuen, angeblich klassenübergreifenden Freizeitfigur avancierte.[30] Ein Mythos, der mit Insignien ausgestattet wurde, durch die nun die Großstadt nicht selten zum attraktiven Modellraum von neuartigen, auch geschlechterübergreifenden Freiheits- und Zukunftsvisionen erkoren wurde. Insbesondere junge Frauen und Mädchen wurden daher eher mit Konsum als mit Freizeit in Verbindung gebracht, war deren Erwerbsarbeit bis weit in die 1970er Jahre hinein in der Regel doch höchstens auf eine Teilzeit-Phase – wahlweise bis zur Heirat oder spätestens bis kurz vor der Geburt des ersten Kinds – beschränkt und Feierabendfreizeit im eigentlichen Sinne den hauptverdienenden (Ehe-)Männern vorbehalten. Eine ähnliche Analogie findet sich zum Begriff der hausfraulichen Arbeit als Reproduktion, der statt Erwerb und Nutzen den Verbrauch und die Verschwendung betont.[31]

Die Zuordnung von eindeutig markierten Gruppen zu spezifischen Räumen lässt es darüber hinaus auch zu, über Fremdheit als Instrumentarium exkludierender Haltungen und Handlungen zu forschen, wenn es um nationale und regionale Territorialansprüche geht. So waren und sind Migrantinnen und Migranten unter anderem qua Herkunft, Hautfarbe oder Sprache per se von unterschiedlichen Formen des Ausschlusses bedroht. Auch hier konnte die historische Geschlechterforschung Pionierarbeit leisten, stellte sie doch die Frage, wie sich Geschlecht als Differenzkategorie mit ähnlichen Kategorien wie Klasse/soziale Herkunft und Ethnie/kulturelle Herkunft verbindet. Sowohl für nichtdeutsche Migrantinnen als auch für die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertriebenen Frauen stellten sich Probleme der gesellschaftlichen und kulturellen Integration oft völlig anders dar als für männliche Vertriebene oder Einwanderer.[32] Am Beispiel der zum Überleben der Gesamtfamilie notwendig gewordenen Aufnahme einer Erwerbsarbeit wird deutlich, vor welche Herausforderungen sich Migrantinnen gestellt sahen. Häufig genug hatten sie nicht nur mit Konflikten zu kämpfen, die durch die jeweilige Familientradition und Herkunftskultur bestimmt waren, sondern vor allem mit Ressentiments seitens einer an konservativen Geschlechterrollenbildern orientierten bundesdeutschen Gesellschaft.

In diesem Zusammenhang gilt es nicht zuletzt, insbesondere all jene Grenzerfahrungen sichtbar zu machen, die durch heteronormative Homogenisierungsprozesse in den Darstellungen zur Geschichte eines Raums meist außen vor zu bleiben drohen. Eine wesentliche – wenngleich viel zu selten erprobte – Möglichkeit hierzu besteht darin, kreative Leistungen von häufig vor allem räumlich marginalisierten Menschen in den Vordergrund zu rücken. Ein Blick auf den heftig umstrittenen Begriff Subkultur zeigt, wie groß das Forschungspotenzial ist. In den Blick geraten damit all jene avantgardistischen Foren, in denen gegenkulturelle Möglichkeitsräume geschaffen wurden, die sich nicht selten zu wirkmächtigen Repräsentanten einer sich demokratisierenden Gesellschaft gleichberechtigter Teilkulturen entwickelten.[33]

An diesen Beispielen wird deutlich, dass dominante kulturelle, soziale und politische Räume stets durch zeitgenössisch vorherrschende Geschlechternormen und -ordnungen bestimmt sind. Dies gilt auch für die so tradierte Geschlechterdifferenz, die durch den verfügbaren oder verweigerten Raum bestätigt und geformt wird. Dabei lassen sich die spezifischen Formen der Herstellung und Beibehaltung von Geschlechterdifferenz durch räumliche Vorstellungen und Praktiken der Aneignung bestimmen. Auf diese Weise sind mithilfe der Kategorien space und gender allzu oft vernachlässigte Grenzerfahrungen – und Grenzüberschreitungen – in demokratischen Gesellschaften herauszuarbeiten.

Published Online: 2021-10-01
Published in Print: 2021-09-24

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2021-0048/html
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