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Geschlecht und Demokratie

Deutungskämpfe um die Ordnung der Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland
  • Isabel Heinemann EMAIL logo and Martina Steber
Published/Copyright: October 1, 2021

Abstract

Deutungskämpfe um die Ordnung der Geschlechter prägten die Geschichte der bundesrepublikanischen Demokratie. Vorstellungen von einer je nach Standpunkt natürlichen oder gerechten Geschlechterordnung gingen in das Grundgesetz ein, sie formten die politische Praxis demokratischer Institutionen und sie strukturierten alltägliche Aneignungen demokratischer Prinzipien. Gleichzeitig waren diese Vorstellungen von Beginn an umstritten. Die Autorinnen und Autoren untersuchen aus sechs verschiedenen Perspektiven, wie die Produktion von Geschlecht als sozialer Kategorie mit der Hervorbringung und Praxis von Demokratie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik verschränkt war. Mit Blick auf Geschlechterordnungen treten die inneren Widersprüche des westdeutschen Demokratieprojekts klar hervor.

Abstract

The history of democracy of the Federal Republic of Germany has been characterized by bitter confrontations over gender orders. Notions of a natural or just gender order not only entered the West German constitution, but they also shaped the political functioning of democratic institutions and fashioned the way democratic principles were adopted and internalized on a day-to-day basis. From the start, these concepts were heavily contested. By introducing six different research perspectives the authors explore how the production of gender as a social category and the establishment and practice of democracy were inextricably intertwined during the first decades of the Federal Republic. Focusing on contested gender orders allows a better understanding of the inner contradictions and tensions of the West German democratic project.

Vorspann

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ – so steht es im Grundgesetz. Die Umsetzung dieses Verfassungsgrundsatzes erwies sich jedoch als langwieriger Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist, denn das demokratische Gleichberechtigungspostulat traf auf eine ungleiche Geschlechterordnung. Deutungskämpfe um die Ordnung der Gesellschaft in der Demokratie waren daher immer auch Deutungskämpfe um die Ordnung der Geschlechter. Die sechs Autorinnen und Autoren diskutieren das Spannungsverhältnis von Geschlecht und Demokratie in der Geschichte der Bundesrepublik und zeigen, welche Widersprüche und Konflikte ihm entsprangen. Sie vermessen ein bislang kaum beachtetes Forschungsfeld und zeigen an ausgewählten Beispielen aus den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten, dass geschlechtergeschichtliche Fragen ins Herz der Demokratiegeschichte führen.

Deutungskämpfe um die Ordnung der Geschlechter prägten die Geschichte der bundesrepublikanischen Demokratie. Vorstellungen von einer je nach Standpunkt natürlichen oder auch gerechten Geschlechterordnung gingen in das Grundgesetz ein, sie formten die politische Praxis, die sich in den demokratischen Institutionen entfaltete, und sie strukturierten alltägliche Aneignungen demokratischer Prinzipien, wenn Demokratie als Lebensform ernst genommen wurde. Gleichzeitig waren diese Vorstellungen von Beginn an umstritten. Denn Debatten über die Geschlechterordnung werfen stets jene zentralen Probleme auf, die sich in jeder Demokratie stellen und die auch die Geschichte der Bundesrepublik durchziehen – bis in die Gegenwart. Wie sollte das demokratische Prinzip von Partizipation realisiert werden, wenn Teilhabechancen auch geschlechtlich ungleich verteilt waren? Welche Bedeutung kam der Kategorie Geschlecht bei der Umsetzung des Repräsentationsgrundsatzes zu? In welcher Weise wurden staatsbürgerliche Rechte geschlechtlich qualifiziert? Wie konstituierten sich Öffentlichkeit und Privatheit in der jungen Demokratie? Und nicht zuletzt: In welchem Verhältnis standen Staat und Gesellschaft in der Demokratie zueinander? Zugleich legten Debatten über die Geschlechterordnung die Widersprüche offen, die liberalen Demokratien grundsätzlich inhärent sind: die Spannungen zwischen ihren Versprechen von Gleichheit und Freiheit, Gerechtigkeit und Individualität, Sicherheit und Wohlstand oder auch Inklusion und Exklusion in der Definition demokratischer Staatsbürgerschaft.

So zentral sie auch sein mögen: In der Geschichtsschreibung zur bundesrepublikanischen Demokratie wurden Deutungskämpfe um die Ordnung der Geschlechter bislang kaum thematisiert – und wenn, dann verblieben sie in geschlechtergeschichtlichen Resonanzräumen.[1] Es ist bezeichnend, dass die großen Erzählungen über die Geschichte der Bundesrepublik – vom „langen Weg nach Westen“ über „Vergangenheitspolitik“, „Westernisierung“ und „Liberalisierung“ bis hin zur „Suche nach Sicherheit“ – ohne die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht auskommen.[2] Auch wenn die Forschung wichtige kultur- und sozialhistorische Studien vorgelegt hat,[3] fanden die Ergebnisse der historischen Geschlechterforschung kaum Eingang in zeithistorische Leiterzählungen.[4] Das steht im Gegensatz zur Historiografie anderer westlicher Demokratien wie zum Beispiel Großbritanniens oder der USA, wo die intersektionale Betrachtung der Zeitgeschichte inzwischen selbstverständlich ist.[5] Die geschlechterhistorische Lücke fällt besonders in der Geschichte der Bundesrepublik auf, während die Kategorie Geschlecht in der Geschichtsschreibung zur Weimarer Republik und zum NS-Regime im Vergleich dazu um einiges präsenter ist.[6] Aktuelle Versuche, die bundesrepublikanische Demokratie als zwangsläufiges Produkt eines linearen Modernisierungsprozesses darzustellen, in welchem NS-Regime und Holocaust lediglich als Schattenseiten firmieren, verstärken diese Schieflage zusätzlich. Vor allem verhindern sie die ergebnisoffene Analyse der Auseinandersetzungen um Gleichberechtigung und Partizipationschancen in der Demokratie.[7]

Tatsächlich hat die Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht in der zeithistorischen Forschung historische Gründe, die im Kern des Selbstverständnisses der Bundesrepublik liegen. Zwar versteht sich das Modell der westlichen, liberalen Demokratie als geschlechtsneutral, und doch fußt es seit seiner intellektuellen wie politischen Genese im 18. Jahrhundert auf patriarchalischen Voraussetzungen.[8] Die liberale Demokratie versprach staatsbürgerliche Gleichheit und setzte sich gleichzeitig selbst ins Recht, Teilen der Bevölkerung diese Gleichheit zu verwehren.[9] Wer im Namen der Demokratie diskriminierte, berief sich immer auch auf Geschlechterordnungen, etwa wenn das demokratische Gemeinwohl mit Modellen von männlicher und weiblicher Sphärenzuordnung oder heteronormativen Zuschreibungen von Geschlechtscharakteren begründet wurde.[10] Deutlich offenbart der Zusammenhang von Geschlecht und Demokratie nicht nur solche demokratischen Antinomien, sondern auch die Interdependenz von Staat und Gesellschaft in der Demokratie. Denn die beiden Gestalten, in denen uns die Demokratie in der Moderne begegnet, die Demokratie als Staatsform und Regierungssystem einerseits und die Demokratie als Prinzip gesellschaftlicher und kultureller Ordnung andererseits, sind aufeinander bezogen, mehr noch, sie bedingen sich gegenseitig.[11]

Hier setzt die Diskussion in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (VfZ) an. Sie geht der Frage nach, wie die Produktion von Geschlecht als sozialer Kategorie mit der Hervorbringung und Praxis von Demokratie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik verschränkt war. Indem wir eine etablierte Perspektive der Geschlechterforschung („doing gender“, keineswegs jedoch begrenzt auf Performanz)[12] mit einem noch relativ jungen Zugang in der Erforschung zivilgesellschaftlicher Bewegungen („doing democracy“)[13] verknüpfen und beides in die internationale Demokratiegeschichtsschreibung einbetten, plädieren wir für eine Neubetrachtung der Vor- und Frühgeschichte der Bundesrepublik als geschlechterpolitisches und demokratietheoretisches Laboratorium. Mit der doppelten Perspektive auf Geschlecht und Demokratie lässt sich nicht nur ein präziseres Bild des demokratischen Aufbruchs nach 1945 gewinnen, sondern beide Forschungsfelder lassen sich auch für die jüngere Zeitgeschichte neu fruchtbar machen. Dabei vermag eine demokratiehistorische Perspektive der Geschlechtergeschichte neue Impulse zu geben, indem sie ihre sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätze in enge Beziehung zum Politischen setzt.

Die westdeutsche Variante der Demokratie wurde in der Situation des Nachkriegs und des frühen Kalten Kriegs ausformuliert; diese historischen Bedingungen verliehen ihr Züge, die bis in die Gegenwart wirken.[14] Sie versuchte, sich bewusst und entschieden vom Nationalsozialismus abzugrenzen, wenngleich die ambivalente Diskussion um Entnazifizierung und Westbindung, vor allem aber schleppende Restitutionsverfahren und die sehr zögerliche strafrechtliche Ahndung der NS-Gewaltverbrechen auf gravierende Blindstellen der Auseinandersetzung mit dem NS-Regime verweisen.[15] Zudem lieferten die sozialistischen Systeme Osteuropas und besonders der DDR eine Negativfolie, vor der es leichter fiel, die Bundesrepublik trotz aller NS-Kontinuitäten und Belastungsfaktoren als Teil des liberal-demokratischen „Westens“ zu definieren.[16]

So stringent der Weg in die Demokratie nach dem Untergang des NS-Regimes, nach Völkermord und Vernichtungskrieg im Rückblick erscheint, so komplex und offen präsentierte sich die Situation den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen. Unter alliiertem Druck wurde zwar die Demokratisierung zum allgemeinen Ziel erhoben, wie indes die Demokratie über das Regierungssystem hinaus aussehen sollte, wie das demokratische Prinzip in einer noch wenige Jahre zuvor der nationalsozialistischen „Volksgemeinschafts“-Utopie verschriebenen Gesellschaft mit Leben erfüllt werden sollte, blieb offen. Die zweite deutsche Demokratie musste neu erdacht, verhandelt, praktiziert werden, und dies vor dem Hintergrund der gescheiterten Weimarer Republik, des Vorbilds der Demokratien in den USA, in Großbritannien, Frankreich und der Schweiz, des Demokratieprojekts der westalliierten Besatzungsmächte – und der sozialen, ökonomischen, politischen und psychologischen Verwerfungen, die Nationalsozialismus und Totaler Krieg hinterlassen hatten.

In diesem Kontext entwickelte sich eine neue Wissenschaft von der Demokratie. Sie war eine weithin männliche Domäne. Die jungen, von der US-amerikanischen, britischen und französischen Forschung beeinflussten Politikwissenschaftler und Zeithistoriker begriffen es dabei als ihre Aufgabe, der Demokratie nicht nur ein intellektuelles Fundament zu geben, das aus westlichen wie deutschen Traditionen des politischen Denkens schöpfte, sondern auch die deutsche Gesellschaft gleichsam zur Demokratie zu erziehen.[17] Sie gingen zwar von politischen Subjekten in aller Allgemeinheit aus, doch imaginierten sie zuvorderst den männlichen Staatsbürger. Dabei zielten sie besonders auf jene Männer, die in der Öffentlichkeit präsent waren und in verschiedenen Rollen repräsentative Aufgaben übernahmen – als Familienväter oder Vereinsvorstände, als Arbeitgeber oder Gewerkschaftsvertreter, als Verwaltungsfachleute oder wissenschaftliche Experten, als Parteipolitiker oder Amtsinhaber.[18]

Der in der unmittelbaren Nachkriegszeit omnipräsente Ruf nach dem politischen Engagement von Frauen, das entscheidend sei für den Aufbau einer Demokratie nach dem nationalsozialistischen „Männerstaat“,[19] verhallte rasch und war bald nur noch in den begrenzten Teilöffentlichkeiten von Frauenverbänden und (partei-)politischen Frauenarbeitsgemeinschaften zu hören.[20] Denn der demokratische Staat, der in der Gründung der Bundesrepublik 1949 seine verfassungsmäßige Gestalt fand, baute auf den politischen Strukturen der Weimarer Republik auf. Auch sie waren dominant männlich und selbstredend heteronormativ geprägt, sei es in den Parteien, Verbänden, Kirchen, der Wissenschaft, der Wirtschaft oder in den Staatsbürokratien.[21] Der westdeutsche Aufbruch in die Demokratie nach 1945 ging von der Ungleichheit der Geschlechter aus – selbst wenn mit Artikel 3 (2) des Grundgesetzes die Gleichberechtigung der Geschlechter Verfassungsrang erhielt. Die heftigen politischen Kontroversen, die im Parlamentarischen Rat um die volle Gleichberechtigung geführt wurden, waren 1949 indes nicht beendet, sondern perpetuierten sich in die frühe Bundesrepublik.[22]

Dass unser Blick auf die sozialen Protestbewegungen der 1960er Jahre durch überwiegend von Männern verfasstes Zeitzeugenschrifttum geprägt ist, hat Christina von Hodenberg prägnant hervorgehoben und für die Berücksichtigung weiblicher und nicht-studentischer Erfahrungswelten in einer Phase gesellschaftlichen Umbruchs geworben.[23] Auch die zweite Welle der Frauenbewegung schaffte es kaum ins Rampenlicht zunächst politischer Entscheidungsfindung und später zeithistorischer Aufmerksamkeit. Dabei betrafen ihre Forderungen nach Entscheidungs- und Persönlichkeitsrechten die gesamte Gesellschaft und rührten an das Fundament der Demokratie.[24] Ähnliches gilt für die seit den 1970er Jahren verstärkt politisch vertretenen Gleichstellungsansprüche Homosexueller oder von Personen, die sich zu Geschlechtsidentitäten jenseits der binären Form bekannten (LGBTQIA+).[25] Dass sich die bundesrepublikanische Demokratie gerade auch in Auseinandersetzungen um die Ordnung der Geschlechter formte, wird nicht zuletzt in der gegenwärtigen antidemokratischen Agenda des Rechtspopulismus deutlich, die auf der kategorialen Ungleichheit der Geschlechter basiert.[26]

Die VfZ-Diskussion plädiert für ein neues Nachdenken über das Verhältnis von Demokratie und Geschlecht in der Geschichte der Bundesrepublik. Denn in den Deutungskämpfen um Geschlechterordnungen wurden grundsätzliche Probleme der Demokratie verhandelt. Um die Ausdeutung des demokratischen Prinzips rangen Männer mit Frauen, Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Sie argumentierten entweder gezielt mit der Kategorie Geschlecht, vermieden diese bewusst oder stritten sich um geschlechterkodierte Fragen, ohne sie überhaupt als solche zu erkennen. Geschlecht konnte also Gegenstand der Debatte, politisches Argument oder auch vernachlässigte Kategorie sein. Geschlechterordnungen prägten die Weltsicht von Akteurinnen und Akteuren, ob auf bewusstem oder unbewusstem Weg, und verbanden unauflöslich individuelle Erfahrung und politisches Urteil. Deutungskämpfe um die Kategorie Geschlecht bündelten so Annahmen über Normen und Werte, kulturelle und soziale Zugehörigkeiten, aber auch Verdrängtes und Verborgenes wie die Frage der Akzeptanz erweiterter Handlungsräume „arischer“ Frauen in der nationalsozialistischen Gesellschaft oder auch die Haltung zu Rassenpolitik, NS-Verbrechen und Holocaust.

Es geht uns darum, diese Deutungskämpfe aufzudecken, neu zu fokussieren und in ihrer demokratiehistorischen Bedeutung zu analysieren.[27] Der Fokus auf die bundesrepublikanische Demokratiegeschichte bietet den Vorteil, dass geschlechtlich geprägte Normen, Diskurse und Interaktionsräume des Politischen in den Blick rücken, die bislang übersehen wurden. Zugleich lassen sich vermeintlich klassische Periodisierungen hinterfragen: So zeigen sich möglicherweise Parallelen zwischen gemeinhin eher als liberal gedachten Dekaden und solchen, die als stärker konservativ gelten, beziehungsweise werden geschlechterpolitische Beharrungskräfte auch inmitten von Prozessen gesellschaftlicher Liberalisierung und Pluralisierung sichtbar.[28] Welche Bedeutung kam etwa der Kategorie Geschlecht bei der Regulierung von Teilhabe in unterschiedlichen Räumen demokratischer Öffentlichkeit zu? Wie entwarfen Bürgerinnen und Bürger ihren individuellen Platz in der Demokratie, und inwiefern spielten dabei Geschlechterzuschreibungen eine Rolle? Hatte die vergangenheitspolitische Ausrichtung der bundesrepublikanischen Demokratie gleichsam eine gegenderte Schlagseite? Wie wurde Ungleichheit in der Demokratie verhandelt, welche Kategorien (Geschlecht, Ethnie, Schichtzugehörigkeit, Alter, Dis/Ability, Religion) wurden dabei einbezogen und welche nicht? Auf welche Demokratieentwürfe griffen die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zurück, wenn sie sich um die Stabilisierung und Vertiefung der bundesrepublikanischen Demokratie bemühten, und wie gingen sie mit deren Geschlechtskodierungen um? Wie verbanden sich lebensweltliche Handlungsformen mit den institutionellen Mechanismen und Verfahren der Demokratie, und wie wirkte sich die Kategorie Geschlecht in diesen Zusammenhängen aus?

Die VfZ-Diskussion richtet in einem exemplarischen Modus den Blick auf die ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik. Dabei konzentrieren sich die Autorinnen und Autoren, die alle dem seit 2018 am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin angesiedelten Arbeitskreis Demokratie und Geschlecht angehören, jeweils auf eine Gelenkstelle des komplexen Beziehungsgefüges von Demokratie und Geschlecht: Kirsten Heinsohn analysiert Demokratieentwürfe, welche die politische Bildung bestimmten, Till van Rahden geht Debatten um das Patriarchat nach, Isabel Heinemann legt die Bedeutung von Konflikten um die Familie für die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik frei, Martina Steber untersucht Demokratiekonzepte konservativer Frauen, Julia Paulus fragt nach Raumkonfigurationen und Geschlechterzuschreibungen, und Bernhard Gotto stellt Überlegungen zur Geschlechtergeschichte öffentlicher Verwaltungen an. Die Ergebnisse der Untersuchungen stehen dabei durchaus in Spannung zueinander und fordern umso mehr zur wissenschaftlichen Kontroversen heraus.

Die sechs thesenstarken Beiträge illustrieren anschaulich, wie stark das westdeutsche Demokratieprojekt in den drei ersten Nachkriegsjahrzehnten von Debatten um die Geschlechterordnung bestimmt wurde. Sie verdeutlichen die Vielstimmigkeit des Diskurses und zeigen, welche Spannungen zwischen den Konzepten bestanden. Verhandelt wurde das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit in der Demokratie, wobei Konzepte von der Demokratie als Lebensform mit solchen der repräsentativen Demokratie konkurrierten, ebenso wie demokratische Staatsbürgerschaft, die Stellung der Familie oder der Wert patriarchaler Autoritätsstrukturen in der Demokratie. Die Vielstimmigkeit rührte aus der Dynamik, die das demokratische Versprechen in Gang setzte, wenn Freiheit und Gleichheit für jede einzelne und jeden einzelnen galten. Die individuellen Aneignungen der Demokratie wurden von Ideen über spezifische Geschlechtercharaktere entscheidend geprägt. Dabei zeigt sich nicht zuletzt, dass die Öffentlichkeiten in der frühen Bundesrepublik vielfach als homosoziale Räume strukturiert waren, die klar hierarchisiert wurden und nur beschränkt miteinander kommunizierten – Demokratie klang auch deshalb so vielstimmig. Beispielhaft untersuchen die Beiträge einige dieser Räume: Parlament und Verwaltung, Parteien und Verbände, Medien und Fachwissenschaften, überregionale Foren intellektuellen Austauschs und regional agierende Interessengruppen.

Es waren besonders drei Themen, um welche die Debatten um Geschlecht und Demokratie in der frühen Bundesrepublik kreisten: erstens, die Realisierung des im Grundgesetz verankerten Gleichberechtigungsgrundsatzes; zweitens, die Bedeutung der Familie; drittens, die Folgen des antitotalitären Konsenses. Erstens wird in den Beiträgen die dynamisierende Wirkung von Artikel 3 (2) des Grundgesetzes deutlich. Dass die Gleichberechtigung Verfassungsrang erhielt, brachte all jene in diskursive Nöte, die gegen die volle Gleichberechtigung eintraten, aus welchen Gründen auch immer. Das galt für das Familienrecht genauso wie für die politische Sphäre, wobei sich die Persistenz patriarchaler Ordnungsvorstellungen in der Konstituierung der demokratischen Öffentlichkeit in besonderem Maße zeigte. Zweitens konnte über das Verhältnis der Geschlechter zueinander nicht gesprochen werden, ohne über die Familie zu sprechen. Die hohe Bedeutung, die der Familie für die Stabilität der Demokratie nach der totalitären Erfahrung zugeschrieben wurde, führte zu einer Festschreibung ungleicher Geschlechterrollen, die erst in den 1970er Jahren rechtlich und nach der Wiedervereinigung kulturell und sozialpolitisch aufgebrochen wurde. Zwar fungierte das Modell der „family democracy“ überall in Westeuropa als Ideal,[29] doch erwies es sich in der Bundesrepublik als besonders langlebig. Drittens strukturierte der antitotalitäre Konsens die Deutungskämpfe um Demokratie und Geschlecht. Dienten die Volksdemokratien Osteuropas als Negativfolie diktatorischer Systeme, die zugleich ein Höchstmaß an Gleichheit postulierten, beruhte die Abgrenzung vom Nationalsozialismus auf persönlichen Erfahrungen und war dementsprechend vielschichtig und oft widersprüchlich. Die Geschichte der bundesrepublikanischen Demokratie ist immer auch eine Nachgeschichte des NS-Regimes, auch im Hinblick auf die Re-Konfiguration von Geschlechterordnungen.[30]

Die Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft und der Aufbau eines demokratischen Staats waren bewusste, gesteuerte und vielfach umkämpfte Prozesse. Im Blick auf Geschlechterordnungen treten die inneren Widersprüche dieses Demokratieprojekts klar hervor. Diese sollten, so meinen wir, verstärkt in die großen Erzählungen zur Geschichte der Bundesrepublik Eingang finden. Die „Westernisierung“ trug zwar entscheidend zur Liberalisierung Westdeutschlands durch eine Aneignung US-amerikanischer und westeuropäischer Demokratiemodelle bei. Doch hinsichtlich der Geschlechterordnung sorgte der Demokratietransfer aus dem „Westen“ im Verein mit dem Rückbezug auf die Moral und Kultur des Kaiserreichs für die Festschreibung von Ungleichheiten, die Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen und einen Mangel an demokratischer Repräsentation.[31] Genauso wenig wie die Erfolgsgeschichte der bundesrepublikanischen Demokratie sich in einem „langen Weg nach Westen“ erschöpfte, wird eine Interpretation der frühen Bundesrepublik gerecht, die ihre Gesellschafts- und Geschlechterordnung als restaurativ und starr beschreibt.[32] Die hier versammelten Diskussionsbeiträge zeigen gerade das Gegenteil: Die ersten drei Jahrzehnte der Bonner Republik stellten sich als lebendiges Laboratorium dar, als eine Zeit der Suche nach Neuem genauso wie eines Strebens nach dem Vertrauten. Der Wertschätzung von Sicherheit korrespondierte eine existenziell erlebte, umfassende Unsicherheit. Die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen schritten zwar auch „rückblickend in die Zukunft“,[33] doch zugleich öffneten sie sich für Neues, nicht zuletzt für die liberale Demokratie. Dies führte zu einer widersprüchlichen Gemengelage, die in den geschlechtskodierten Demokratieentwürfen und Demokratiepraktiken zum Ausdruck kommt.

Eine Zeitgeschichte, die den Interdependenzen von Demokratie und Geschlecht nachgeht und die beiden weitgehend voneinander getrennten Felder der Geschlechter- und der Demokratiegeschichte füreinander fruchtbar macht, verspricht neue Perspektiven auf die deutsche Geschichte im 20. und 21. Jahrhundert. Die folgenden Beiträge laden dazu ein, solche Fragen kontrovers zu diskutieren.

Published Online: 2021-10-01
Published in Print: 2021-09-24

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 23.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2021-0043/html
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